DDR-Bürgerrechtler Werner Schulz gestorben: Ein fantasievoller Pragmatiker
Der frühere DDR-Bürgerrechtler und langjährige Grünen-Abgeordnete Werner Schulz ist tot. Deutschland verliert mit ihm eine wache, kritische Stimme.
Dass er ausgerechnet am Mittwoch, dem 9. November, weit vor seiner statistischen Lebenserwartung sterben musste, mag wie eine Ironie des Schicksals erscheinen. Denn der Mauerdurchbruch 1989 war auch indirekt eine Folge seines bürgerschaftlichen Engagements in der DDR und zugleich Ausgangspunkt seiner öffentlichen politischen Laufbahn, zunächst in der Noch-DDR, dann im vereinigten Deutschland und in Europa.
In diesem Milieu, am Rande einer Veranstaltung des Bundespräsidenten zu diesem ambivalenten Datum deutscher Geschichte, brach Werner Schulz vor seiner geplanten Rede zusammen. Der Arzt Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, bemühte sich vergeblich um ihn.
Es wäre mit Gewissheit eine gehaltvolle Rede gewesen. Denn Fensterreden liebte der fantasievolle Pragmatiker nicht. Sein Abiturjahr 1968 war zugleich das der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Rote Armee und mag den Beginn seiner bewussten Werteorientierung markieren. Die führte ihn in die vor allem kirchlich geprägte Friedens-, Menschenrechts- und Umweltbewegung.
Ein scharfer Kritiker des russischen Imperialismus
Dafür zahlte auch er damals einen Preis. Nach Wehrersatzdienst als Bausoldat, seinem Einsatz für den ausgebürgerten Liedermacher Wolf Biermann 1976 und öffentlichem Protest gegen den sowjetischen Truppeneinmarsch in Afghanistan wurde ihm 1980 die Stelle an der Berliner Humboldt-Universität gekündigt. Dort wollte der studierte Lebensmitteltechnologe promovieren.
Am Mauerfalltag des 9. November 1989 wirkte er bereits als Kontaktperson des Neuen Forums in Sachsen, das später im Bündnis 90 aufging. Sein waches, kritisches Bewusstsein verließ ihn mit der deutschen Vereinigung keineswegs. So hätte er sich lieber eine gemeinsame neue Verfassung gewünscht.
Werner Schulz darf als Motor der Vereinigung mit den westdeutschen Grünen 1993 gelten. Von 1990 bis 2005 saß er im Bundestag und scheute keinen Dissens mit seiner Partei. So plädierte er früh für offene Bündnisoptionen oder verweigerte während der ersten Regierungsbeteiligung der Grünen den Hartz-IV-Gesetzen seine Zustimmung. Die Partei „bedankte“ sich 2005 mit einem aussichtslosen Listenplatz. 2009 bis 2014 wirkte er im Europaparlament.
In seinem Sterbejahr aber war Werner Schulz in seiner beinahe schon ätzenden Verurteilung des russischen Überfalls auf die Ukraine wieder „ganz auf Linie“. Für seine Verdienste wurde er mehrfach geehrt, unter anderem zweimal mit dem Bundesverdienstkreuz. Seine unbestechliche und gar nicht ostalgische Ost-Stimme wird fehlen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nachhaltige Elektronik
Ein blauer Engel für die faire Maus
James Bond
Schluss mit Empfindsamkeit und Selbstzweifeln!
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach