Coronavirus in Deutschland: Leben retten ja, aber …
Wie viel wert ist ein Menschenleben? Kommt drauf an. Die Abwägung ist nicht nur in der Gesundheitspolitik üblich.
W ie wichtig ist uns ein Menschenleben? Und ist uns jedes Leben gleich viel wert? Zwei Männer aus dem Südwesten haben in dieser Woche diese Fragen aufgeworfen. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble sagte dem Tagesspiegel in einem sehr klugen Interview zur Debatte über die Coronaschutzmaßnahmen: „Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig.“
Der grüne Kommunalpolitiker Boris Palmer sagte in einem sehr kühlen Interview auf Sat.1: „Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen.“ Ein Satz, der allein schon wegen seiner Empathielosigkeit schmerzt. Einerseits verwundert es also nicht, dass sich gerade gegen Palmer eine breite Allianz der Entrüsteten bildete: Der CSU-Chef nennt die Debatte „gefährlich“.
Grünen-Vorstände aller Ebenen distanzierten sich binnen Stunden von ihrem Tübinger Parteifreund. Und schon vor Palmer, aber nach Schäuble kommentierte Margarete Stokowsi in ihrer Spiegel-Kolumne: „Unangenehm ist, wie explizit davon ausgegangen wird, dass ein paar Leute jetzt wohl geopfert werden müssen.“ Ja, das ist unangenehm. Unangenehm ist allerdings auch, dass in der Kritik ein sehr selektiver Moralismus mitschwingt.
Dass neben dem Coronavirus auch die Coronarestriktionen Menschen töten – in einer Menge, die sich nicht beziffern lässt –, blendet sie aus. Vor allem aber: Dass Politik und Gesellschaft vor Entscheidungen verschiedene Güter miteinander abwägen und der Schutz von Menschenleben nicht automatisch alle andere aussticht, ist kein Phänomen der Coronakrise. Es ist Normalität – und manchmal unvermeidbar.
Die Pflicht zur Organspende würde auch Menschen retten
„Abwägungen sind Teil jeder Gesundheitspolitik“, schrieb Anna Holzscheiter, Politikprofessorin mit Schwerpunkt auf Internationale Gesundheitspolitik, schon Anfang April in einem Essay. Der plötzlichen Entrüstung über diesen Fakt hafte etwas „Scheinheiliges“ an. Ein Beispiel: Auch eine Pflicht zur Organspende würde ohne Frage Menschenleben retten. Eine solche Pflicht steht aber nicht zur Debatte. Der Bundestag konnte sich im Januar noch nicht mal zur weniger weit gehenden Widerspruchslösung durchringen.
Das Recht auf Selbstbestimmung stand über dem Schutz von Leben. Wir könnten Menschenleben retten, wenn wir den motorisierten Verkehr abschaffen. Machen wir aber nicht, weil es sowohl Reisefreiheit als auch Wirtschaft ruinieren würde. Wir könnten Menschenleben retten, indem wir Alkohol verbieten. Machen wir aber nicht, weil Alkohol so schön lustig macht. Wir könnten Menschenleben retten, wenn wir auch während Grippewellen Mundschutz tragen und die Hände waschen.
Hat uns bisher aber schlicht nicht interessiert. Warum der Schutz von Menschenleben jetzt plötzlich einen viel höheren Stellenwert erhält? Wahrscheinlich liegt es an der Wucht der Coronapandemie, die ohne Schutzmaßnahmen wohl mehr Opfer fordern würde als Straßenverkehr und Influenza zusammen. Zu Recht dominiert sie seit Wochen Politik, Alltag und Medien. Sie hat uns damit Fragen von Leben und Tod aufgezwungen, die wir im Normalbetrieb gerne verdrängen.
Die Chance, die sich daraus für den Humanismus ergibt: Vielleicht bleibt etwas hängen. Vielleicht wird das Menschenleben auch in künftigen Abwägungen einen höheren Stellenwert erhalten als in der Vergangenheit. Denn tatsächlich ist eine Gesellschaft erstrebenswerter, die es erst nach einer mühsamen Abwägung erträgt, nicht jedes Leben schützen zu können, als eine Gesellschaft, die wie Boris Palmer eine kalte Kosten-Nutzen-Rechnung über das Sterben anstellt.
Aber eines kann auch in Zukunft nicht passieren: dass wir jedes politische Handeln nur danach ausrichten, dass jeder Mensch so lange lebt wie möglich.
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