Corona am Mehringplatz in Berlin: Schlumpfeiszeit ade
Trotz Corona und prekärer Verhältnisse leben am Mehringplatz Nachbarinnen und Nachbarn respektvoll Tür an Tür. Doch Wut keimt auf.
Der Blick hinunter auf die kleine Fußgängerzone, wo sonst eine Menschenschlange träge dem Supermarkt entgegenkriecht, fällt auf Streifenwagen, ein Zivilfahrzeug, eine große Wanne, Polizisten in voller Montur. Die Hundeführer treiben ihre Tiere in eine Gruppe von Teenagern.
Ich kenne diese Jugendlichen. Sie sind jede Nacht lauter geworden. Enthemmter auch. Sind mit geklauten Fahrrädern rumgefahren, prahlend und Passanten provozierend. Haben mit den angerückten Beamten Räuber und Gendarm gespielt.
Doch die plötzliche Übermacht erschreckt. Erstickt. Rasch bildet sich eine protestierende Menge. Frauen schreien die Polizisten an. Männer erheben die Fäuste. Da kommt der Notarztwagen. Die Jäger schnappen zu. Wird der Junge verhaftet?
Stilles Starren
Sein Kumpel schreit die Balkone an, droht: „Wer von euch hat die Bullen gerufen, hä?“ Die anderen rennen. Wohin? Stilles Starren von den Balkonen. Selbst der Hund nebenan, ein ewiger Kläffer, schweigt. Nachts wird er winseln.
Freitagabend in Berlin am südlichen Ende der Friedrichstraße – dem Ende, das in keinem Reiseführer Erwähnung findet. Hier, wo die Amüsiermeile früher vom Zeitungsviertel der Stadt auf den prächtigen Belle-Alliance-Platz führte, formen nun Wohnbauten der späten sechziger Jahre den heutigen Mehringplatz.
Die meisten Geschäfte standen schon vor der Pandemie leer. Monatelang war die Straße aufgerissen, wegen Tunnelarbeiten. Gab es Lärm und Dreck für alle. In den Häusern drum herum Platz für Tausende Menschen. Eine spezielle Berliner Mischung: Die Lebenslinien der Bewohner der Stadtschlucht, die – je nach Blickrichtung – zum Halleschen Ufer oder zum Checkpoint Charlie führt, sind von Kriegen, Konflikten und Katastrophen gebrochen.
Ehemalige, zumeist jüdische Bürger des zerfallenen Sowjetreichs, in den Achtzigern aus der DDR Getürmte, Kriegsflüchtlinge aus Jugoslawien oder Syrien, Kurden, Türken, große Familien, viele Rentner und einzelne aus ihren Altbauwohnungen weggentrifizierte Kreativarbeiter.
Nicht mal grün
Verletzlichkeiten sind hier vielfältiger, sichtbarer als anderswo, Selbstgewissheit ist keine Währung. Man trifft sich im Theodor-Wolff-Park, auf den Bänken im Rondell um den Mehringplatz, in der Schlange bei Edeka. Der zentrale Platz ist eine Dauerbaustelle, gesperrt und unpassierbar. Hinter Gittern, nicht mal grün. Kinder haben Virentiere auf das Pflaster gemalt. Ohne Augen. Ohne Mund und Ohren.
Der Betreiber des Zeitungskiosks, bei dem sich die Trinkerszenen versorgen, verkauft deutlich mehr Zigaretten, wie er sagt. Die wurden sonst in Einkaufsgemeinschaft aus Polen rangeschafft. Bis das Virus dem ein Ende machte. Das letzte Monatsdrittel war immer schon zäh für die meisten. Nun ist es schlimmer. Alle Zufluchtsorte, Kinder- und Jugendeinrichtungen, Seniorentreff, Kiezstube sind dicht. Wohin?
Die aufkeimende Wut ist gut zu hören. Täglich wird es lauter hinter den Wohnungstüren. Zum Glück gibt es Balkone. Unter ihnen jedoch hat sich der Tonfall verändert, bei Hunden und Menschen. Der Bettler an seinem Stammplatz ist Ziel nicht nur verbaler Ausfälle. Der geschrumpfte öffentliche Raum wird zum Gefahrenort.
Die alte Nachbarin traut sich nach Sonnenuntergang nicht mehr raus. Aber am meisten fürchtet sie sich, krank zu werden. Masken trägt ja kaum einer. Woher bekommen? Der Wachschutz der Wohnsiedlung ist eingestellt. Sie vermisst die Männer.
Freiwillige Isolation
Ich erlebe das alles viel intensiver als früher, weil ich mich seit Wochen freiwillig zu Hause isoliere. Die meisten Nachbarn kamen schon vor Corona kaum aus dem Viertel raus. Den Teenagern, die da unter mir durchdrehen, begegnete ich zum ersten Mal bei meinem Einzug. Ein wilder Haufen, Dreikäsehochs noch, Ball dabei und hilfsbereit. Sie schleppten meinen Schreibtisch in den Fahrstuhl.
Dann die entscheidende Frage: „Haben Sie Kinder?“ Mist. Die Suche für das Fußballteam würde weitergehen müssen. Zwei Sommer später stolzierten die Jungs breitbeinig vor dem Dönerrestaurant auf und ab. Doch die Mackerpose zerbrach am Eisangebot: „Alter, die haben Schoki!“ „Ich will lieber Schlumpf.“ Im Jahr darauf machte Yildiz dicht. Von da an hingen sie kiffend in einer Tordurchfahrt ab und grüßten nicht mehr.
Die, die nun auf dem Sportplatz gegen Bälle dreschen, sind wie sie damals – und auch nicht. Im Vorbeilaufen höre ich den Kleinsten warnen: „Wir Araber müssen zusammenhalten. Die Deutschen mögen uns nicht.“
Unsicherheiten im Miteinander waren schon vor der Pandemie spürbar. Doch die alte Gelassenheit fehlt. Die Grüppchen im Park blicken skeptischer aufeinander. Oder bin ich das? Ich habe begonnen, die Straße zu beobachten. Es gibt teure Autos, die anhalten und von der Schlumpfeis-Gang umlagert werden. Die Insassen bleiben sitzen, doch sie geben der Gruppe etwas mit. Nichts, was man greifen kann. Nebenan geraten die Trinker in Streit. Ein riesiger Hund jagt durch die Menge hindurch einer Papiertüte hinterher.
Die geilste Gang
Als die Polizei an jenem Freitag wieder abrückt, läuft eine besorgte Mutter den Beamten hinterher. Wie das weitergehen soll? „Dit is in der janzen Stadt so“, erklärt einer der Männer und macht keinen Hehl aus seiner Ratlosigkeit. „Wir sind die geilste Gang!“, schreit ein Mädchen in den Kiezhimmel.
Allen pandemiebedingten Unzumutbarkeiten, den Dauerbaustellen und prekären Verhältnissen zum Trotz leben hier Nachbarinnen und Nachbarn respektvoll Tür an Tür. Das kostet manchmal viel Kraft. Wer mehr hat, muss mehr geben. Ich bin ein Teil von Etwas.
Gestern landete ein Rettungshubschrauber unten im Park. Als er in die Wolken stieg, schauten wir ihm – schweigend – lange nach.
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