Coronaleugner mit Reichsflaggen: Tabu Kaiserreich
Diejenigen, die sich heute den Kaiser zurückwünschen, hätten unter ihm nichts zu lachen gehabt. Das deutsche Reich war eine harte Klassengesellschaft.
D er Mann auf Spiegel TV ist sich sicher. „Wir wollen unseren Kaiser zurück! Wir wollen zurück auf Ehrlichkeit, auf Menschlichkeit!“, sagt er auf einer Coronademo in Baden-Württemberg. In Berlin wird wenig später die Treppe des Parlamentsgebäudes von schwarz-weiß-roten Reichsflaggen geflutet. Während die Reichskriegsflagge – die mit dem Eisernen Kreuz in der Mitte – schon immer ein verkapptes Erkennungszeichen von Neonazis war, scheinen die Reichsflaggenschwenker, vor allem aber ihre Mitläufer, ein diffuseres Bild abzugeben. Ihr gemeinsamer Nenner ist offenbar: Sie fantasieren von einer Einheit zwischen „dem Volk“ und dem starken Mann an der Spitze, ohne lästige, korrupte Politiker dazwischen, die den „Volkswillen“ ignorieren. Und der Chef greift, wenn nötig, mal so richtig durch.
Würden sie sich mit dem Kaiserreich ein bisschen näher beschäftigen – die Kette der Enttäuschungen wäre sehr lang. Das fängt mit dem Namensgeber an. Der durfte sich nicht „Kaiser von Deutschland“ nennen, sondern er hieß, ziemlich profan, „Deutscher Kaiser“. Ein feiner Unterschied und ein Kompromiss mit den Fürsten der Einzelstaaten, die sich nicht als Untertanen des neuen Kaisers sahen. Der Kaiser hatte Macht, aber sie war nicht absolut. Jede Entscheidung musste er sich vom Reichskanzler absegnen lassen, selbst öffentliche Reden. Zwar konnte der Kaiser den Kanzler jederzeit entlassen, aber ein starker Regierungschef wie Bismarck schaffte es, 19 Jahre lang drei Kaiser zu beeinflussen, gar zu lenken.
Der Reichstag besaß für damalige Verhältnisse ziemlich viele Rechte. Gesetze mussten durch das Parlament gehen. Im Reichstag saßen Fraktionen, die im Laufe der Jahre feste Lager bildeten. Fraktionen, Parteien? Fänden diejenigen, sie sich heute hinter Reichsflaggen versammeln, wohl nicht so gut.
Das Deutsche Reich war kein Führerstaat, sondern ein kompliziertes Geflecht aus Machtzentren, die sich gegenseitig relativierten. Hätten die heutigen Bewunderer des Kaiserreichs damals gelebt, hätten sie wohl, wie heute, von „denen da oben“ gesprochen. Denn auch das damalige politische Getriebe war auf den ersten Blick nicht leicht zu durchschauen.
Sie wären außerdem entgeistert von den sehr unterschiedlichen politischen und sozialen Verhältnissen. Im Jahr 1892 brach in Hamburg die Cholera mit 8.500 Toten aus, weil der Stadtstaat das Trinkwasser direkt aus der Elbe bezog. Das benachbarte preußische Altona blieb von der Cholera verschont, dort wurde das Trinkwasser besser aufbereitet. Mittelalter und Moderne lagen ziemlich nahe beieinander – Föderalismus in Extremform. Und sehr wahrscheinlich hätten die Reichsfans, hätten sie damals gelebt, zur großen Mehrheit der Besitzlosen gehört. Wenn sie Fabrikarbeiter gewesen wären, hätten sie täglich 10 bis 12 Stunden schuften müssen, als Dienstmädchen in der Regel noch länger. Die Wohnbedingungen gerade in den Großstädten wären für sie elendig gewesen.
Das Deutsche Reich war keine harmonische Volksgemeinschaft, sondern eine harte Klassengesellschaft. Die Regierungspolitik verschärfte die Spaltungen noch. Zwölf Jahre lang war die Sozialdemokratische Partei verboten. Während ihre Funktionäre als „Reichsfeinde“ verfolgt und ins Gefängnis gesteckt wurden, bildeten die Arbeiter eine Subkultur; sie schotteten sich ab, weil sie vom Staat wenig zu erwarten hatten. Wilhelm-Fans waren sie eher nicht – sie hatten einen eigenen Kaiser: den „Arbeiterkaiser“ August Bebel, den SPD-Vorsitzenden.
Mit seinem sogenannten Kulturkampf versuchte Bismarck die katholische Kirche aus dem öffentlichen Raum zu drängen und ihren Einfluss zu beschneiden – was schließlich auch die Katholiken in die innere Emigration trieb. Der Kulturkampf hatte aber noch eine zweite Ebene: Er war ein Krieg des preußischen Rationalismus gegen diejenigen, die von einer alternativen, transzendenten Wahrheit überzeugt waren. Der preußische Staat schickte schon mal die Polizei vor, wenn es zu Massenaufläufen wegen angeblicher Marienerscheinungen kam. Menschen, die nicht der protestantisch-preußischen De-facto-Staatsreligion anhingen, waren marginalisiert. Auch esoterisch Veranlagte und Impfgegner – auch die gab es damals schon – hatten wenig zu lachen. Im Jahr 1874 wurde, von Preußen initiiert, das Reichsimpfgesetz auf den Weg gebracht, durch das für Kinder die Impfpflicht gegen die Pocken durchgesetzt wurde. Eltern, die dem nicht nachkamen, mussten mit Geld- oder Haftstrafen rechnen.
Das Deutsche Reich war ein innerlich zerrissenes, mehrfach gespaltenes Staatsgebilde, dessen Widersprüche durch äußeren Pomp nur mühsam verdeckt wurden. Auch ohne den Ersten Weltkrieg wäre es sehr wahrscheinlich zusammengebrochen.
Die Reichsfans wird man mit solchen Argumenten nicht erreichen können. Aber das Kaiserreich sollte aus der Tabuzone geholt werden. Gedenkpolitisch ist es eine Leerstelle; der Politik ist es entweder peinlich oder egal. Aber wie es mit Tabus so ist: Wird nicht darüber geredet, steigt bei vielen erst die Faszination dafür. Nicht nur bei den Demonstranten vor dem Reichstag. Auch in gediegenen Milieus kann es passieren, dass, natürlich erst nach dem dritten Whisky, dem Gast plötzlich die Liebe zum Kaiserreich gestanden wird. Geredet werden sollte auch über die verborgenen Erbschaften, die bis heute nachwirken: das Statusdenken breiter Schichten etwa, die sich nach unten abgrenzen; die oft maßlose Angst vor sozialer Deklassierung in der Mittelschicht. Oder die notorische Skepsis süddeutscher Bundesländer gegenüber „Berlin“. Reden über das Kaiserreich sollte gerade eine Bundesrepublik, die allen Ernstes den Wohnsitz des ehemaligen Kaisers, auch als Berliner Schloss bekannt, wieder aufbauen lässt. Nächstes Jahr gibt es eine prima Gelegenheit für all das: Dann jährt sich die Reichsgründung zum 150. Mal.
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