Corona in Österreich: Es sind immer „die anderen“
Kriminalität, Arbeitslosigkeit, Patriarchat – an all dem sollen Migrant:innen schuld sein. Jetzt sind sie angeblich für die hohen Infektionszahlen verantwortlich.
K riminalität, Arbeitslosigkeit, Bildungskrise, Gewalt, das Patriarchat – ich habe mich daran gewöhnt, dass für Probleme in allen Bereichen Migrant:innen verantwortlich gemacht werden.
Als herauskam, dass der Attentäter vom Terroranschlag in Wien am 2. November amtsbekannt war, die Behörden sogar wussten, dass er kurz vor der Tat Waffeneinkäufe getätigt hatte, und sie trotzdem nichts unternahmen, kam es zu keinem Rücktritt, der Innenminister entschuldigte sich nicht einmal. Stattdessen wurde ein Antiterrorpaket, das sich speziell auf den Islam ausrichtet, beschlossen. So wird der „Politische Islam“ unter Strafe gestellt, ohne zu definieren, was genau gemeint ist. NGOs warnen davor, der Tatbestand würde die Gefahr bergen, dass „alle Muslim*innen unter Generalverdacht gestellt, von der Exekutive beobachtet, verfolgt und sogar in ihrer Existenz bedroht werden können“.
Es ist nichts Neues, dass Muslim:innen, Migrant:innen und Geflüchtete für gesellschaftliche, politische oder wirtschaftliche Missstände verantwortlich gemacht werden. In einer Pressekonferenz hat Bundeskanzler Sebastian Kurz jetzt auch noch die Verantwortung für die hohen Corona-Infektionszahlen Migrant:innen zugeschoben. Selbst in der Gesundheitskrise sind also „die anderen“ schuld.
Durch Reiserückkehrer und Menschen, die in ihren Herkunftsländern den Sommer verbracht haben, seien Ansteckungen wieder ins Land geschleppt worden, sagte Kurz in einer Pressekonferenz. In einem TV-Interview fügte er hinzu, dass das Virus „vor allem über Personen, die am Balkan oder der Türkei ihre Wurzeln haben“, eingeschleppt wurde.
Die Systemerhalterinnen
70 Prozent der Infektionen sind in Österreich zustande gekommen. Und von denen, die aus dem Westbalkan „eingeschleppt“ wurden, können es genauso Urlauber:innen ohne Migrationshintergrund gewesen sein.
Es sind Menschen mit Wurzeln vom Westbalkan und der Türkei, die überwiegend in schlecht bezahlten Systemerhalterinnen-Jobs arbeiten, wie als Supermarktverkäuferinnen oder Pflegerinnen. Diese sind bei ihrer Arbeit ständig einer Infektionsgefahr ausgesetzt und müssen sich nun von Kurz anhören, sie seien schuld an den hohen Infektionszahlen. Dabei wäre es die Aufgabe der Regierung, diese Menschen zu schützen. Expert:innen sagen seit Monaten, die Regierung habe die Sicherheitsvorkehrungen im Sommer zu schnell gelockert und zu langsam auf die zweite Welle reagiert.
In derselben PK wurde übrigens verkündet, dass man Weihnachten und Silvester zu zehnt mit seinen Liebsten feiern darf. Alle Migrantinnen, die ich kenne, haben ihre Liebsten seit Monaten nicht gesehen. Denn ohne Quarantäne und Schuldzuweisung ist das nach wie vor nicht möglich. Klar, Gesundheit geht vor, aber dass diese Menschen trotz Entbehrungen und Systemerhaltung als Sündenböcke herhalten müssen, grenzt an Diskriminierung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe