Corona-Tote im Pflegeheim: Das Sterben der Alten

23 Tote in 11 Tagen: Die Bilanz des Corona-Ausbruchs in einem Pflegeheim in Wolfsburg ist erschütternd. Hätten frühe Tests Leben retten können?

Zwei Männer in dunklen Anzügen schieben einen Sarg in einen Leichenwagen

Ein Sarg wird vom Hanns-Lilje-Heim in Wolfsburg abtransportiert Foto: Peter Steffen/dpa

Ein paar graue dreistöckige Gebäuderiegel, idyllisch gelegen, mit Blick ins Grüne, auf ein Stückchen Wald. Seit etwas mehr als einer Woche kennen viele die Zickzackfassade des Hanns-Lilje-Heims in Wolfsburg. Es wurde zum Symbol für eine lange befürchtete Katastrophe: für das, was passiert, wenn Corona im Pflegeheim ankommt.

Das Drama beginnt am Mittwoch, den 18. März. Am Vormittag informiert das Wolfsburger Gesundheitsamt die Heimleitung darüber, dass der Ehemann einer Mitarbeiterin positiv auf das Coronavirus getestet wurde. Die Mitarbeiterin ist im Dienst, sie wird umgehend nach Hause in die Quarantäne geschickt. Am Nachmittag die nächste Meldung vom Amt: Ein Bewohner, der zur Behandlung ins Klinikum überwiesen wurde, wird positiv getestet. Im Heim häufen sich zudem die Fieberfälle. Die Leitung sucht deshalb erneut den Kontakt zum Gesundheitsamt, in Absprache mit dem städtischen Krisenstab werden die Hygienemaßnahmen verstärkt. So berichtet es die Sprecherin der Diakonie Wolfsburg, Bettina Enßlen, später.

Am Montag, den 23. März meldet die Stadt Wolfsburg den ersten Todesfall, die Zahl der Infizierten steigt rasant an. Trotzdem werden noch einmal drei Tage vergehen, bevor der Krisenstab entscheidet, die übrigen Bewohner:innen und das Pflegepersonal testen zu lassen. Am Donnerstag, den 26. März, eine Woche und einen Tag nach Bestätigung des ersten Falls, werden Abstriche bei allen Bewohner:innen des dritten Stocks durchgeführt. Als im zweiten Stock ein weiterer Fieberfall auftritt, werden die Tests auf die übrigen Bewohner:innen ausgedehnt.

Die Ergebnisse verkündet Oberbürgermeister Klaus Mohrs (SPD) in einer gemeinsamen Pressekonferenz von Stadt und Diakonie am Samstag, den 28. März. Sie sind desaströs: 72 der insgesamt 145 Bewohner:innen sind infiziert, 12 zu diesem Zeitpunkt schon verstorben. Der Freitag vor der Pressekonferenz gehört zu den schlimmsten Tagen: 8 Tote meldet die Stadt im Heim, 6 Frauen und 2 Männer, im Alter zwischen 76 und 100 Jahren.

Eine neue Phase der Epidemie

Während Menschen im gesamten Land vor ihren Bildschirmen dabei zusehen können, wie Heimleiter und Diakoniesprecherin vor laufenden Kameras um Fassung ringen, häufen sich die Meldungen auch aus anderen Altenheimen. Von einer „neuen Phase der Corona-Epidemie“ spricht der Virologe Christian Drosten. Eine Phase, die mit deutlich höheren Sterblichkeitsraten einhergehen werde als bei den jungen Skiurlaubern, mit denen man es bisher zu tun gehabt hatte.

Noch während man in Wolfsburg auf die letzten Testergebnisse wartet, berät der Krisenstab über die weiteren Maßnahmen. Infizierte und Nichtinfizierte müssen nun möglichst konsequent voneinander getrennt werden – durch eigene Eingängen, eigenes Personal, möglichst bis hin zu Küche, Wäscherei und Anlieferung. Das ist nicht einfach, auch wenn das Hanns-Lilje-Heim keine kleine Einrichtung ist.

Deshalb favorisiert der Krisenstab eine Zeit lang die Evakuierung in ein nahe gelegenes, leer stehendes Hotel. Man beginnt, dort Räume auszustatten, Hilfspersonal steht bereit. Doch dann wird die Umsiedlung wieder abgeblasen. Vor allem die Pflegenden, aber auch beteiligte Ärz­t:in­nen haben Bedenken. Der Stress des Umzugs und die völlig fremde Umgebung hätten eine sofortige Verschlechterung des Gesundheitszustandes zur Folge, sagt Torsten Juch, der Heimleiter. Das Hanns-Lilje-Heim ist auf Gerontopsychiatrie, also die psychiatrische Behandlung älterer Menschen, und vor allem auf Demenzkranke spezialisiert. Das macht die Situation besonders schwierig. „Unsere Bewohner verstehen nicht, was mit ihnen passiert“, sagt Juch.

Normalerweise versucht man hier, die „demenziell veränderten“ Bewohner:innen behutsam in der Welt zu belassen, in die sie gerade versinken. Mit Dingen von früher, zum Beispiel. Der Werbeprospekt des Heims zeigt ein paar ältere Herren im Hof, die eifrig einen alten Käfer mit Schaum und Schwämmen bearbeiten. Um dem großen Bewegungsdrang der Demenzkranken entgegenzukommen, können sie sich in Haus und Garten frei bewegen. Ein Uhrendummy sendet ein Signal, wenn sie den geschützten Bereich verlassen. Dann lotst das Pflegepersonal sie zurück.

Die Pflegenden arbeiten längst am Limit

All das geht nun nicht mehr. Zuerst werden die Gemeinschaftsbereiche geschlossen, dann die Bewohner:innen auf ihre Zimmer verwiesen. Gleichzeitig entfällt das, was für Menschen in diesem Zustand so wichtig ist: Gewohnheiten und die wenigen noch vertrauten Gesichter. Allein der Anblick einer maskierten Pflegerin lässt manche die Fassung verlieren, berichtet der Heimleiter. Selbst alltägliche Verrichtungen wie etwas zu trinken anzureichen, sind jetzt schwierig, weil die verstörten Bewohner:innen ängstlich oder bockig die Kooperation verweigern. Andere kommen mit dem Eingesperrtsein nicht klar, klopfen dauernd an alle Türen. Auch die Anspannung und Erschöpfung der Pflegenden, die längst am Limit arbeiten, überträgt sich. Manchmal sieht man sie rauchend auf dem Balkon stehen. In ihren Schutzanzügen sehen sie aus wie Spurensicherer am Tatort.

Bundesweit leben rund 800.000 Menschen in Alten- und Pflegeheimen, eine offizielle Statistik, wie viele Heime bereits Coronafälle bestätigen konnten, gibt es noch nicht. „Der Personaleinsatz wird für viele betroffene Heime schnell zum nächsten großen Problem“, weiß Birgit Eckhardt von der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (LAG FW) in Niedersachsen. Dazu kommen zusätzliche Hygienevorschriften. Allein das An- und Ablegen der Schutzkleidung bedarf einer Schulung und einer präzise eingehaltenen Reihenfolge, sonst schleppt man am Ende doch verseuchte Tröpfchen mit sich herum. Post holen, das Blumenwasser wechseln – auch die vielen Kleinigkeiten, die sonst Besucher:innen übernehmen, müssen erledigt werden. Außerdem Kontakt halten zu den besorgten Angehörigen. Diese müssen im schlimmsten Fall aushalten, dass ihre betagten Eltern oder Großeltern ganz allein sterben. In Wolfsburg organisieren sie jetzt Fenster-Dates für diejenigen, die das noch können. Manche Senioren stehen dann am Fenster und winken ihren Familienangehörigen durch die Glasscheibe zu.

Für den Dienst auf der Coronastation haben sich genug Freiwillige gefunden. „Wer sich nicht in der Lage sieht, auf die Infiziertenstation zu gehen, muss auch nicht“, versichert Bettina Enßlen auf taz-Anfrage. Auf der Infiziertenstation arbeiten zurzeit auch Menschen, die selbst positiv getestet wurden, aber keine Symptome zeigen. Mit Genehmigung des Gesundheitsamts lässt sich in solchen Fällen die Quarantäne aussetzen. Doch wenn der Krankenstand steigt, wird es eng.

Die Landespolitik reagierte betroffen, aber auch hilflos: Sozialministerin Carola Reimann wettert zunächst über unverantwortliche Angehörige, die ihre Lieben zum Kaffeeklatsch aus dem Heim holen. Dann erließ sie ein Aufnahmeverbot für alle Pflegeeinrichtungen, sofern sie keine umfassende Quarantäne gewährleisten können. In Wolfsburg geht man nun davon aus, dass das Virus mit einem neuen Bewohner ins Heim kam. Alle Maßnahmen zielen darauf ab, ein Einschleppen des Virus zu verhindern. Doch was, wenn es einmal drin ist?

Die Dunkelziffer ist vermutlich hoch

Für Birgit Eckhardt von der LAG FW ist längst klar, welche Lehren man auch aus dem Wolfsburger Desaster ziehen muss: mehr Schutzkleidung für Pflegekräfte und schnellere, umfangreichere Tests in den Heimen. Nur so, glaubt sie, ließen sich Ausbrüche frühzeitig eindämmen. Die Zahl der positiv Getesteten sinkt in Wolfsburg, seit die Bereiche konsequent getrennt sind.

Am ebenfalls betroffenen Klinikum Wolfsburg agierte der Krisenstab anders: Als sich hier Mitarbeiter:innen mit Covid-19-Symptomen meldeten, wurde sofort umfangreich getestet – trotz Wochenende. Am Montag und Dienstag lag dann ein Großteil der Ergebnisse vor. Allerdings müssen die Tests in kurzen Abständen wiederholt werden, um tatsächlich alle Infizierten schnell finden und isolieren zu können. Der Aufwand ist hoch, und bisher ist er eben nur für den medizinischen Bereich vorgesehen, der zur kritischen Infrastruktur gehört – auch um die begrenzten Kapazitäten zu schonen.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Doch wenn sich das Drama von Wolfsburg nicht an vielen Orten wiederholen soll, wird man umsteuern müssen. Schon jetzt, sagt Eckhardt, sei die Dunkelziffer hoch. „Wir sehen in vielen Einrichtungen erhöhte Mortalitätsraten, höher als in den üblichen Grippemonaten – aber getestet wird nur, wenn es eine eindeutige Symptomatik gibt. Wenn das ohnehin schon geschwächte Herz nicht mehr mitmacht, testet niemand.“

In Wolfsburg ermittelt nun auch noch die Staatsanwaltschaft Braunschweig, wegen des Verdachts fahrlässiger Tötung. Ein Anwalt hat die Diakonie angezeigt. Gleichzeitig kann sich das Heim vor Hilfsangeboten kaum retten. Und man schöpft ein wenig Hoffnung: „Ein Bewohner saß heute Morgen im Bett und hat gesungen“, schreibt die Diakoniesprecherin in einer ihrer täglichen Mitteilungen.

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