Corona-Quarantäne in Göttingen: Rechtswidrig eingesperrt
Eine Familie klagte gegen die Umzäunung ihres Wohnkomplexes in der Pandemie. Nun erklärte ein Gericht das für rechtswidrig.
Das Gericht erklärte die Freiheitsentziehung durch eine Umzäunung und die polizeiliche Bewachung des Gebäudekomplexes für rechtswidrig. Für die mehrere Tage andauernde Maßnahme gebe es keine Rechtsgrundlage, so die Begründung.
Der Wohnkomplex in der Groner Landstraße gilt als Problemimmobilie und sozialer Brennpunkt. Rund 700 Menschen, darunter 200 Kinder und Jugendliche, leben dort unter prekären Bedingungen. Die Besitzverhältnisse an den nur 19 bis 39 Quadratmeter großen Wohnungen sind undurchsichtig. Für die meisten Appartements zahlt die Stadt Göttingen die Miete, weil die Bewohner auf Transferleistungen angewiesen sind.
Nachdem sich zwei Frauen mit dem Coronavirus infiziert hatten, ordneten die Behörden Tests für alle Bewohner an. 120 Menschen wurden positiv getestet. Um eine weitere Ausbreitung zu verhindern, stellte die Stadt den Komplex für zunächst eine Woche unter Quarantäne. Vom 18. bis 25. Juni 2020 blieben die Bewohner quasi eingesperrt. Die Eingänge zum Grundstück wurden abgesperrt und mit Toren verschlossen. Lieferwagen brachten Lebensmittel und Hygieneartikel, das Rote Kreuz und die Johanniter betrieben auch eine mobile Sanitätsstation.
Bei einer Demo eskaliert die Situation
Aus Sicht vieler Bewohner funktionierte die Versorgung schlecht, es gab Klagen über zu wenig Essen. „Was uns von der Stadt gegeben wird, sind ein paar Äpfel und abgelaufene Chips“, sagte damals eine Frau. Auch von den Grünen und mehreren Initiativen setzte es Kritik: Der evangelische Pfarrer und Grünen-Ratsherr Thomas Harms sprach von einem „verschärften Arrest“ für 700 Personen und stellte die Frage, ob eine solche Maßnahme wohl auch in den besseren Wohnvierteln der Stadt angeordnet worden wäre.
Die Gruppe „Basisdemokratische Linke“ rügte, hier würden 700 Leute, ohne sie vorab zu informieren, „interniert“ und mit einem Großaufgebot an Ordnungskräften gezwungen, zusammen mit den Infizierten auf dem Gelände zu sein. „Es wird riskiert, dass Risikopatienten in Lebensgefahr gebracht werden.“
Drei Tage nach Beginn der Quarantäne eskalierte die Lage: Am 21. Juni zog eine Demonstration in die Groner Landstraße, die Protestierenden forderten den Abbau der Zäune. Innerhalb der Absperrungen versammelten sich etwa 100 Bewohner. Sie rüttelten an den aufgestellten Bauzäunen, einige versuchten über die Hindernisse zu klettern. Flaschen, Pyrotechnik und Haushaltsgegenstände flogen auf die Polizei, diese setzte massiv Pfefferspray ein, auch gegen Jugendliche. Auf beiden Seiten gab es Verletzte. Gegen etliche Hausbewohner liefen in der Folge Strafprozesse.
Ein damals 38 und 31 Jahre altes Ehepaar mit seinen neun und drei Jahre jungen Kindern zog seinerseits vor Gericht. Die Familie klagte nicht gegen die Quarantäneanordnung an sich, vielmehr gegen die Umzäunung und die damit einhergehende Freiheitsentziehung.
Für eine derart weitreichende Maßnahme sieht das von der Kommune in Anspruch genommene Infektionsschutzgesetz aber keine Rechtsgrundlage vor. Eine mögliche „Absonderung“ soll demnach in der Regel in einem geeigneten Krankenhaus erfolgen. Lediglich für „Quarantänebrecher“ ist eine Rechtsgrundlage für eine zwangsweise Unterbringung in einem Krankenhaus oder in einer anderen geeigneten Einrichtung vorgesehen, was einen richterlichen Beschluss voraussetzt.
„Die Stadt hat wesentliche verfahrensrechtliche Anforderungen nicht erfüllt und damit erheblich und rechtswidrig in die Grundrechte der betroffenen und ohnehin sozial marginalisierten Bewohner des Gebäudekomplexes eingegriffen“, sagte der Göttinger Rechtsanwalt Sven Adam. Das Urteil habe weitreichende Bedeutung für den zukünftigen Umgang mit Gebäudekomplexen in Pandemien. Die Maßnahme „hätte trotz der pandemiebedingt dynamischen und sowohl tatsächlich als auch rechtlich schwierigen Lage in dieser Form niemals durchgeführt werden dürfen“.
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