Comeback der SPD: Auferstanden aus Ruinen
In der sächsischen SPD-Diaspora freuen sich die GenossInnen über den plötzlichen Aufwind ihrer Partei. Eine eindeutige Erklärung haben sie nicht.
Überwältigend viele solcher Lustvollen tauchen zumindest in der Pirnaer Fußgängerzone auch jetzt nicht auf. Hier hält der schwarze Juso-Kleinbus gleich am zweiten Tag seiner Deutschlandtour. Außer gegen Regenschauer kämpft das halbe Dutzend junger Sozialdemokratinnen und -demokraten auch gegen die Apathie und die sächsische Muffelei der Passanten. Vom Reporter lässt sich gleichfalls kaum jemand ansprechen. Wenn, dann kommt im Vorübergehen die alte Beschimpfung „Wer hat uns verraten – Sozialdemokraten!“
Den jungen Straßenwahlkämpfern muss man die Begeisterung über das überraschende Umfragehoch ihrer Partei fast ein bisschen aus der Nase ziehen. Nach vielen Jahren in der Defensive scheinen sie selbst noch nicht zu begreifen, wie ihnen geschieht. Die Martin-Schulz-Euphorie 2017 habe letztlich nicht gutgetan, warnt der 25-jährige Maximilian Strüning, der immerhin schon acht Jahre bei den Jusos mitarbeitet. „Die SPD kann das schaffen“, beschreibt er dennoch das neue Vorwärts-Gefühl und seine gewachsene Motivation. Aber man müsse noch zäh bis zum Wahltag weiterarbeiten.
Auch der Kreisvorsitzende Ralf Wätzig bleibt nüchtern, misstraut den Umfragen und spricht sogar von Demut. Die vielen Jahre auf der Rutschbahn scheinen nachzuwirken. Wätzig vergleicht die SPD mit einer abstiegsbedrohten Fußballmannschaft, die plötzlich überzeugend spielt. Das bringe einen psychologischen Vorteil. In der Kreisgeschäftsstelle sieht es aus wie überall im klassischen Straßenwahlkampf. Große Plakate, auf der Vorderseite Olaf Scholz, auf der Rückseite Kandidat Funke. Der Kreisvorsitzende ist in mittleren Jahren, aber die Kartons mit einer Bilanzbroschüre der SPD-Fraktion in der GroKo schleppt ein junger Mann herein. Nicht nur in Pirna fällt auf, dass sich der Nachwuchs am meisten engagiert.
Plakat und Broschüre liefern den Anstoß zu einer ersten Erörterung möglicher Ursachen für die unverhofft wiedererwachte Zustimmung zur SPD. Der Kanzlerkandidat wird natürlich zuerst genannt, „der Erfahrung hat, gezeigt hat, dass er Kanzler kann und nicht so ein unglückliches Bild abgibt wie die anderen“, meint Wätzig. „Jeder Satz stimmt, den er sagt“, ergänzt der Vorsitzende von Kreisverband und Kreistagsfraktion.
Nicht nur Scholz?
Einen Tag später wird der junge SPD-Kandidat Harald Prause-Kosubek im Wahlkreis Görlitz eher auf Distanz zu einem Übervater Scholz gehen. „Mir ist es zu kurz gesprungen, wenn man den derzeitigen Erfolg auf die Person Olaf Scholz reduziert oder – was mich noch mehr stört – darauf, dass er von den Fehlern der anderen profitiert.“ Denn an der Neiße, wo die SPD bei der Landtagswahl 2019 gar unter die fünf Prozent rutschte, oder an der Elbe bei Pirna wundern sich Basis und Funktionäre über die veränderte Wahrnehmung durch die Wähler angesichts sonstiger Konstanten.
„Wir sind von unseren Inhalten nicht plötzlich überzeugter als zuvor“, heißt es aus dem Juso-Bus in Pirna. „Ich war persönlich stets motiviert, denn die SPD hat das beste Programm seit Jahren“, drückt es Kandidat Funke aus. Es gehe um „soziale Politik für die Menschen hier“, flüchtet er dann aber doch ein bisschen ins Formelhafte.
Das eigentliche Erstaunen der Sozis geht also in Richtung Echo auf ihre als beharrlich empfundene Politik. Denn man sei schon immer gut, mindestens ambitioniert und in den Koalitionen als Juniorpartner der Union der Motor gewesen. Das hätten halt zu wenige registriert. Und verkannt und unterbewertet fühlen sich die Sozialdemokraten ja schon länger. Außerdem ziehe man keinen Messias Olaf aus der Tasche, sondern trete mit bewährtem Personal an.
Die Frage nach Gründen für die relative Erholung der SPD führt zur Erörterung veränderter Konstellationen. Als einer der wenigen Angesprochenen in Pirna bleibt ein älterer Herr stehen und souffliert den Genossen beinahe eine Erklärung. „Die Leute sind halt gezwungen, genauer zu überlegen, was Sache ist angesichts der Situation“, ist er überzeugt. Die „Situation“ ist die, dass es keine großen politischen Lager und sie repräsentierende starke Parteien mehr gibt und mit dem Abschied von Kanzlerin Merkel auch keine gefühlt dominanten Bewerberinnen und Bewerber um das Kanzleramt. In seiner Verlegenheit prüfe eben ein wachsender Teil der Wähler Programme und Leistungen genauer und entdecke so die SPD wieder.
Wunschkonzert in Zittau
Viel mehr diskutiert als in Pirna wird das beim Zittauer Wochenmarkt. Es kann nicht nur am zaghaften Sonnenschein liegen, dass es hier lebendiger zugeht.
Die SPD hat auf dem Wochenmarkt einen Würfel der Wünsche aufgebaut, auf dem man seine Meinungen und Erwartungen notieren kann. Einen solchen virtuellen Würfel gibt es auch auf der Internetseite des Kreisverbandes.
Wieder unterstützt eine Handvoll Jusos den nur wenig älteren Kandidaten Prause-Kosubek auf der Straße. Der tritt im Wahlkreis Görlitz immerhin gegen den AfD-Kovorsitzenden Tino Chrupalla an, der wiederum 2017 dem wenig später zum sächsischen Ministerpräsidenten gewählten Michael Kretschmer das Bundestagsmandat wegnahm.
„Unser Aufwärtstrend hat auch mit dem Niedergang der Volksparteien zu tun, die sich jetzt alle bei 20 Prozent begegnen“, bekräftigt der angehende Student Aaron Michel die These des Pirnaer Fußgängers. Aber die SPD möchte doch weiterhin Volkspartei bleiben? Ja schon, aber dafür müsse man ihre Leistungen erst einmal registrieren.
„Wir jedenfalls freuen uns tierisch, etwas in der Stadt zu bewegen“, strahlt der junge Zittauer Aaron geradezu. Er nennt spontan die Unterstützung für einen Bürgerentscheid für einen Schulneubau, der von AfD und Linken abgelehnt wurde, er erwähnt eine sächsisch-tschechische Arbeitsgruppe gegen die ökologischen Folgen des polnischen Braunkohletagebaus Turow.
„Wir waren nie weg!“
„Es gibt längst wieder die solide Arbeit von unten, unabhängig vom Wahlkampf“, entgegnet sein Freund Philipp Kießlich auf das Zitat eines älteren Genossen, die SPD existiere in der Lausitz praktisch nicht mehr. „Wir waren nie weg!“ Philipp bestätigt einen Wiederentdeckungseffekt. Wahlprogramme, die angeblich keiner liest, gingen neuerdings „weg wie warme Semmeln“. „Die Leute verstehen, dass ein Wechsel nach 16 Jahren nötig ist“, behauptet er.
Über Zukunft und Altlasten wird auf dem Markt von Zittau eifrig debattiert, zwischen SPD-Anhängern und Skeptikern, zwischen Einheimischen und Touristen, auch westdeutschen. Die Agenda 2010 der Ära Schröder, die der SPD Stimmen und Mitglieder kostete, sei grausam, aber notwendig gewesen, sagen die einen. „Das Schicksal ist mit den Gerechten“, orakelt hingegen ein Hartz-Gegner.
Wie steht es überhaupt mit Kapitalismuskritik bei den Jusos? Aaron rutscht eine bezeichnende Formulierung heraus. Seine Zukunftsgedanken gingen dahin, „wie man Kapitalismus weiterhin lebt“. Also „in das bestehende System hineinwachsen und trotzdem etwas verändern“, will er sich ein wenig korrigieren und erweist sich doch ganz als Sozialdemokrat.
Ungewohnte Geschlossenheit
Einen weiteren Erklärungsversuch für den neuerlichen Zuspruch zur SPD hört man sowohl in Pirna als auch in Zittau. „Zum ersten Mal ist die SPD eine geschlossene Partei“, ist gleich mehrfach zu hören.
Seit einem Jahr habe sie „einen Zusammenfindungsprozess hingelegt“, heißt es im Juso-Bus. Und der Spitzenkandidat biete auch keine Angriffsflächen. Beim Hinweis, dass dieser Olaf Scholz noch vor Jahresfrist als Kandidat für den Parteivorsitz unterlag und dass die SPD unschlüssig war, ob sie überhaupt einen Kanzlerkandidaten nominieren solle, endet allerdings die Diskussionsfreude der Genossinnen und Genossen.
Wer immer noch zögert, am 26. September mit seiner Stimme die SPD zur Kanzlerpartei zu machen, dem versüßt in Zittau ein Gläschen Marmelade die Entscheidung. „Roter Mirabellentraum“, vom Kandidaten Harald Prause-Kosubek persönlich in seinem Dorfgarten geerntete Früchte. In Pirna verschenken die Juso-Hochschulgruppen Schonüberzüge für den Fahrradsattel. Nicht in Rot, sondern in Violett – der sprichwörtlichen Farbe des letzten Versuchs.
Dagegen spricht die Tatsache, dass in Sachsen die Hälfte der SPD-Direktkandidaten jünger als 35 Jahre ist. Von der „Alten Tante SPD“ mag man auch angesichts der Juso-Aktivitäten zumindest hier nicht sprechen.
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