Bürgerrat für Ernährungsfragen: Sag mir, was du isst
Was erwarten Bürger*innen von der Ernährungspolitik? Der Bundestag hat erstmals einen Bürgerrat eingesetzt. Der soll das dem Parlament erklären.
Muntere Diskussionen verspricht der Bürgerrat zum Thema Ernährung. „Es sollte mehr Gesetze und auch Preisregulierungen geben, damit sich alle Bürgerinnen und Bürger gute Lebensmittel leisten können“, sagt Nina Küpper, eine der ausgelosten Teilnehmenden. „Einerseits soll man sich gesund ernähren“, fügt sie hinzu, „andererseits sind Zucchini oft teurer als Fleisch“.
Die selbstständige Unternehmensberaterin aus Herdecke in Nordrhein-Westfalen ist eine von 160 Personen, die während des Sommers zufällig aus den Melderegistern in ganz Deutschland ausgewählt wurden. Erstmals ist ein solches Gremium offiziell vom Bundestag eingesetzt worden. Es beginnt seine Arbeit am 29. September. Sein Thema: „Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben.“
Bürgerräte sind eine Innovation des Systems der parlamentarischen Demokratie. Die Mehrheit der gewählten Abgeordneten möchte sich von Bürger:innen auf neue Art beraten lassen. Im Hintergrund steht die Erkenntnis, dass der Abstand zwischen professioneller Politik und den Bedürfnissen der Bevölkerung oft zu groß ist. Die Zufallsauswahl per Los soll zudem ermöglichen, dass sich nicht immer dieselben Lautsprecher Gehör verschaffen.
Union und AfD waren dagegen
„Der Mehrwert des Bürgerrates für den Deutschen Bundestag besteht darin, ein genaues Bild davon zu bekommen, welche Maßnahmen die Bürgerinnen und Bürger für eine gesündere und nachhaltigere Ernährung wünschen, oder welchen Beitrag sie selbst dafür bereit sind zu leisten“, heißt es im Beschluss zur Einsetzung. Dafür stimmten im vergangenen Mai die Ampel-Fraktionen SPD, Grüne und FDP, außerdem die Linke.
Viele Abgeordnete von CDU und CSU waren nicht überzeugt von dem Anliegen. „Wir vertrauen auf das bewährte, krisenfeste repräsentative System der parlamentarischen Demokratie“, sagt Steffen Bilger, ein Vize-Fraktionsvorsitzender der Union. „Der beste Bürgerrat sind die Menschen im Wahlkreis, mit denen die Politiker unmittelbaren Kontakt pflegen.“ Die AfD lehnt die Erweiterung des Parlaments ebenfalls ab, sie propagiert stattdessen bundesweite Volksentscheide.
Vegetarisch oder vegan?
Holger Dehnhardt, ein weiterer ausgeloster Teilnehmer, sieht es so: „Den Bürgerrat halte ich für ein Verfahren, das mehr demokratische Mitbestimmung ermöglicht, ohne dass Lobbyinteressen etwa der Lebensmittel-Industrie im Mittelpunkt stehen.“ Zu den bevorstehenden Debatten sagt der Musiker und Programmierer aus Berlin: „Die Diskussion über vegetarische und vegane Lebensmittel wird von beiden Seiten oft hart geführt, wobei man diese Art der Ernährung auch entspannt betrachten könnte – schließlich handelt es sich um eine zusätzliche Variante, die mehr Entscheidungsmöglichkeiten eröffnet.“
Dehnhardt weiß, wovon er spricht. Seine Tochter ernährt sich seit Jahren vegan. Sie verzichtet nicht nur auf Fleisch, Kuhmilch und Käse, sondern beispielsweise auch auf Bienenhonig. Kleidung aus Wolle und Leder ist ebenfalls tabu. Der Vater erlegt sich dagegen weniger Einschränkungen auf. Nina Küpper wiederum lebt mit ihren drei Kindern, ihren Eltern und der Familie ihrer Schwester in einem Mehrgenerationenhaus. Insgesamt werde dort wenig Fleisch gegessen, aber grundsätzlich handhabten das alle, wie sie wollten.
Bratwurst und Schnitzel
Solche privaten und gesellschaftlichen Haltungen werden im Bürgerrat sicher eine Rolle spielen. Freund:innen und Familien, Nachbar:innen und Politiker:innen streiten seit Jahren über gesunde und ungesunde Lebensmittel, über den Anteil von Fett, Zucker und Salz, über Tier- und Klimaschutz. Nicht selten werden die Auseinandersetzungen ideologisch: Bratwurst und Schnitzel gelten dann manchen gar als Teil der deutschen Identität.
Da sind viele Abgeordnete des Bundestages etwas ratlos. Sie wollen wissen: „Was erwarten die Bürgerinnen und Bürger in der Ernährungspolitik vom Staat?“ Als konkrete Themen für den Bürgerrat nennen sie im Einsetzungsbeschluss unter anderem die Kennzeichnung von Lebensmitteln im Hinblick auf Erzeugung, Qualität und ökologische Auswirkungen, Steuern und Preise sowie Lebensmittelverschwendung. Das sind aber nur Vorschläge. Der Bürgerrat kann seine Diskussionspunkte selbst bestimmen.
Seine Sitzungen in Präsenz und online werden bis Februar 2024 dauern. Ein wissenschaftlicher Beirat, Expert:innen und Politiker:innen werden die Teilnehmenden unterstützen und informieren. Ende Februar soll dann das Gutachten mit Empfehlungen des Rates fertig sein. Darüber wird der Bundestag im Plenum und in Ausschüssen beraten. Möglich erscheint, dass einige der Vorschläge des Bürgerrats in Gesetze münden. Sicher ist das jedoch nicht, denn grundsätzlich hat das Gremium eine ausschließlich beratende Funktion.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen