Buch über neue Protestbewegungen: Mit Schirm und ohne Kopftuch
Der Soziologe Tareq Sydiq untersucht in „Die neue Protestkultur“ das Potenzial diverser aktueller Bewegungen. Nicht alle davon dienen der Demokratie.
![Frauen während einer Demonstration mit einem Megafon Frauen während einer Demonstration mit einem Megafon](https://taz.de/picture/7370837/14/23488156-1.jpeg)
Frauen, die ihre Kopftücher verbrennen, Aktivist*innen, die sich zu „Spaziergängen“ verabreden, Oppositionelle, die im Krieg zu Katastrophenhelfer*innen werden und Rechtsextreme, die linke Strategien kopieren: In „Die neue Protestkultur“ untersucht der Protestforscher Tareq Sydiq beispielhaft vier aktuelle Protestbewegungen in Iran, Hongkong, Sudan und Deutschland. Dabei treibt ihn weniger die Frage um, wie „neu“ diese Proteste sind, insofern ist der Buchtitel etwas irreführend.
Sydiq, der am Marburger Zentrum für Konfliktforschung arbeitet, will eher erkunden, was Protest braucht, um erfolgreich zu sein. Eingangs stellt er fest, „wie unwahrscheinlich der Erfolg von Protesten, sozialen Bewegungen und Revolutionen eigentlich ist“ – sind doch Staaten nicht dazu verpflichtet, auf Proteste zu reagieren. Umso beachtlicher, wie viele Proteste dennoch erfolgreich seien, findet Sydiq – und führt eine Reihe historischer Erfolge an: Vom March on Washington bis zur versehentlichen Öffnung der Berliner Mauer „unverzüglich, sofort“ unter dem Druck der ungeduldigen Menge.
Erfolg hat in Sydiqs Augen, wer klassisch eine Menge Menschen auf die Straße bringt, wer ikonische Bilder generiert, die Machthaber*innen beunruhigen, wie der „Tank Man“, der sich 1989 auf dem Pekinger Tian’anmen-Platz auf einen Panzer setzte – und wer es schafft, jenseits der Straße eine soziale Bewegung aufzubauen, die in Lobbygruppen, NGOs und Parlamente hineinwirkt (hier nennt er die deutsche Klimaschutzbewegung). Langfristigen Erfolg können seiner Ansicht nach nur gewaltfreie Proteste haben.
Radikalität sei in einer Demokratie nicht erfolgreich, weil sie keine breite Basis in der Bevölkerung erlangen könne. Hat man zwar alles schon mal gehört, aber interessant wird es, wo Sydiq den direkten Vergleich zu Protestbedingungen in autoritären Staaten zieht. In Iran werde „von oben“ mobilisiert, „von unten“ seien moderater ziviler Ungehorsam und wütender öffentlicher Protest gleich lebensgefährlich. Der größte Erfolg der „Kopftuchproteste“ bestehe darin, die brüchige Legitimität der Regierung sichtbar gemacht zu haben – eine Basis für künftige Protestwellen.
Tareq Sydiq: „Die neue Protestkultur. Besetzen, kleben, streiken: Der Kampf um die Zukunft“. Hanserblau, Berlin 2024, 192 Seiten,
20 Euro
Sydiq befasst sich auch eingehend mit Hongkongs Demokratiebewegung, die durch dezentrale Organisation und den Einsatz smarter Technologien immer wieder den chinesischen Staat herausfordern konnte – um am Ende doch niedergeschlagen zu werden.
Aufstieg der Neuen Rechten nach italienischem Vorbild
Keinesfalls müssen Proteste immer demokratischen Zwecken dienen, wie der Politologe in seinem Kapitel über soziale Bewegungen in Deutschland hervorhebt. Lesenswert ist seine Analyse des Aufstiegs der Neuen Rechten, die Antonio Gramscis Strategie der „kulturellen Hegemonie“ beherzigend, sich erst im zivilgesellschaftlichen Raum etablierte, bevor sie in die Parlamente strebte.
Auch dies wieder nach italienischem Vorbild: Sydiq beschreibt, wie die neofaschistische CasaPound-Bewegung erst Häuser besetzte und dann durch eine Doppelstrategie aus sozialer Arbeit und gezielter Normalisierung rechtsextremer Diskurse Ministerpräsidentin Meloni den Boden bereitete. Trotzdem vertritt der Autor die These, dass friedlicher Protest auch dann erlaubt sein muss, wenn er die Grundrechte anderer abbauen will – die Demokratie müsse das aushalten. Es wäre interessant gewesen zu erfahren, wo genau Sadiq die Linie zieht.
Anhand der gescheiterten Revolutionsversuche in Sudan versucht Sadiq den Unterschied zwischen einer „revolutionären Situation“ und einem „revolutionären Ausgang“ zu erklären. Aber die Analyse überzeugt nicht recht; zu komplex ist die Lage in dem ostafrikanischen Land, um sie mit Plattitüden wie „Eine Revolution ist ein Marathon, kein Sprint“ zu fassen.
„Die neue Protestkultur“ bietet keine harten Politanalysen oder sportlichen Thesen, aber einen gut lesbaren Ritt durch aktuelle Protestphänomene unserer Zeit mit einigen überraschenden Einsichten.
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