Bosnien und Herzegowina vor EU-Gipfel: Ruhe vor dem Sturm
Serbische und kroatische nationalistische Politiker arbeiten eifrig an einer Auflösung des Staates. Bislang hat die EU darauf keine klaren Antworten.
Der Endvierziger Adnan war während des letzten Krieges 1991–95 als Kind und Jugendlicher in Deutschland. Seine Familie musste fliehen, weil sie der bosniakischen Bevölkerungsgruppe angehört. Er möchte nicht gerne an den Krieg und die Flucht erinnert werden. Adnan zeigt es nicht, aber schon die kleinste Krise in Bosnien ruft bei ihm ungute Gefühle hervor. Dass jetzt in Serbien die Vereinigung der „Serbischen Welt“ (Srpski Svet) propagiert wird, versetzt ihn in Unruhe.
Adnan ist ein ruhiger Mensch, er strahlt Souveränität aus. In all den politischen Stürmen der vergangenen Jahre hat er immer Contenance bewahrt. Doch er ist sensibel gegenüber allem, was nach Nationalismus riecht. Er selbst hat eine junge Serbin aus der serbischen Teilrepublik angestellt, lebt ein Leben in der Tradition der multinationalen Gesellschaft. Die Rhetorik aber, die jetzt wieder benutzt wird, erinnert ihn an die Vorkriegszeit 1991, als in Belgrad Großserbien proklamiert wurde. Das heißt: die Vereinigung aller Serben in dem damals zerfallenden Jugoslawien in einem Staat.
Großserbien sollte damals durch den Angriffskrieg gegenüber Kroatien und dann ab 1992 in Bosnien erreicht werden. Die Verbrechen der ethnischen Säuberungen und die dreieinhalb Jahre währende Belagerung Sarajevos waren die Folge. Das Projekt Srpski Svet erinnert nicht nur ihn an die Politik von damals und löst Ängste in Sarajevo aus.
Neue Agressivität
Denn die Konflikte in Montenegro, wo die serbische orthodoxe Kirche im Zusammenspiel mit Nationalisten Unruhe schürt, sowie an der Grenze zu Kosovo, wo kürzlich serbische Truppen zusammengezogen wurden und Kampfflugzeuge die Grenzregion überflogen, sind auch für Mehmed Aličehajić Anzeichen für eine neue Aggressivität Serbiens unter dem Autokraten Alexandar Vućić.
Der 87-jährige Sozialdemokrat hat als Kind den Zweiten Weltkrieg miterlebt, überlebte den Bombenhagel im letzten Krieg kaum 200 Meter von der Teestube entfernt. Aličehajić ist ein freier Mensch, kritisiert nicht nur die serbischen oder kroatischen Nationalisten, sondern auch die muslimische Nationalpartei SDA und deren Führer Bakir Izetbegović.
Er hegt keinen Groll, ist immer für Versöhnung der Bevölkerungsgruppen eingetreten. Doch was jetzt die serbische Führung unter Milorad Dodik im serbischen Teilstaat Republika Srpska aufführt, macht ihm wie vielen in Sarajevo schwer zu schaffen.
Denn Valentin Inzko, der Anfang August von dem Deutschen Christian Schmidt als Hoher Repräsentant der internationalen Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina abgelöst wurde, hatte am Ende seiner Amtszeit ein Gesetz erlassen, das die Leugnung von Kriegsverbrechen wie den Genozid in Srebrenica und die Verherrlichung von Kriegsverbrechern unter Strafe stellt.
Prozess der Versöhnung
Das Amt des Hohen Repräsentanten wurde mit den Verhandlungen in Dayton (Ohio) 1995, das den bosnischen Krieg beendete, geschaffen und sollte die Umsetzung des Abkommens überwachen. Der Hohe Repräsentant hat die Macht, Gesetze zu erlassen, wenn die politischen Lager nicht in der Lage sind, Kompromisse zu finden. Inzko wollte ein Zeichen gegen die nationalistischen Ideologien setzen, die Verleugnung der Verbrechen, nicht nur die der serbischen Seite. Das Gesetz sollte einen Prozess der Versöhnung einleiten.
Die Reaktion der Serben war harsch. Serbische Nationalisten wollen von Versöhnung nichts wissen, für sie sind die von dem UN-Tribunal in Den Haag verurteilten Kriegsverbrecher Helden. Jugendliche tragen T-Shirts mit ihrem Konterfei. Würden sie die Verbrechen zugeben, wäre die Existenz des serbischen Teilstaates in Frage gestellt.
Auf dem Gebiet des serbischen Teilstaates lebten vor dem Krieg zur Hälfte Nichtserben, die militärische Okkupation der Region und die Politik der ethnischen Säuberungen machte erst die Gründung des Teilstaates möglich. Folglich zogen die Serben alle Mitarbeiter aus den Institutionen des Gesamtstaates zurück, auch die Parlamentarier.
Sie fordern, unterstützt von Russland und China, die Abschaffung des Amtes des Hohen Repräsentanten und des Obersten Gerichtshofes. Milorad Dodik kündigte, ermutigt durch diese Strategie, Srpski Svet an, das heißt, die serbischen Einheiten aus der gemeinsamen Armee des Landes zurückzuziehen und eine eigene Armee der Republika Srpska aufzubauen.
Militärische Ausbildung
Eine eigene Armee? Will er die Abspaltung der Republika Srpska, die er fordert, mit Waffengewalt durchsetzen? Schon seit Jahren sind russische Militärs dabei, serbische Polizisten unter dem Deckmantel des Antiterrorkampfs militärisch auszubilden. Was von der Nato nicht unbeobachtet blieb. Während eines Manövers im Sommer dieses Jahres zogen amerikanische Einheiten durch Banja Luka, die Hauptstadt der serbischen Teilrepublik.
Auch kroatische Nationalisten arbeiten an der weiteren Destabilisierung des Landes. Dragan Čović, Vorsitzender der kroatischen Nationalistenpartei HDZ, beklagt lautstark die Unterdrückung der Kroaten durch die Bosniaken im anderen Teilstaat, der kroatisch-bosniakischen Föderation.
In Wirklichkeit aber sind Kroaten im Land privilegiert, sie besetzen unverhältnismäßig viele Stellen im Gesamtstaat und der Föderation. Jeder bosnische Kroate hat das Recht, einen kroatischen Pass zu erhalten, ist damit Teil der EU und kann als EU-Bürger alle Vorteile nutzen.
Čović fordert ein Wahlgesetz zugunsten seiner Nationalistenpartei. Und last but not least: Der kroatische Staatspräsident Zoran Milanović erklärte sich zum Staatspräsidenten aller Kroaten, also auch der bosnischen Kroaten. Diese haben kein Interesse an der EU-Integration Bosnien und Herzegowinas.
Bosnien als Seismograf
Bosnien ist der Seismograf für die Entwicklung auf dem Balkan. Natürlich weiß man das in Brüssel und Berlin. Man weiß, dass Russland alles daransetzt, eine weitere Ausdehnung der EU und vor allem der Nato zu verhindern und die nationalistischen Kräfte nicht nur in der serbischen Welt, sondern auch in Nordmazedonien und Kroatien zu unterstützen.
Und das sogar mit Hilfe aus der EU, so des ungarischen Regierungschefs Viktor Orbán. Es ist zu befürchten, dass die an diesem Dienstag in Slowenien beginnende Balkankonferenz in ihren Erklärungen im Vagen bleibt und die Gefahren, die sich auf dem Balkan entwickeln, herunterspielt.
Ein Zeichen dafür sind die kürzlichen Besuche von Angela Merkel und Ursula von der Leyen in der Region. Beide ließen erkennen, dass sie den serbischen Staatspräsidenten Alexandar Vućić als einen verlässlichen Partner ansehen.
Politiker der demokratischen Opposition sehen diese Appeasementpolitik mit Sorge. Denn sie ähnelt dem Verhalten der internationalen Gemeinschaft vor dem Krieg der 90er-Jahre, als die internationale Diplomatie den serbischen Präsidenten Slobodan Milošević hofierte. Auch die wenigen Oppositionellen, die sich in dem diktatorischen System, das Vućić aufgebaut hat, in Serbien noch zu Wort melden können, sind darüber entsetzt.
Protest in Banja Luka
Immerhin formieren sich langsam in allen Teilen des Balkans wieder bürgerrechtliche und demokratische Bewegungen, die diese nationalistischen und korrupten Kleptokratien nicht mehr dulden wollen. Widerstand regt sich auch bei den Bürgermeistern. Am Wochenende demonstrierten Tausende unter dem Bürgermeister Draško Stanivuković in Banja Luka gegen die Korruption von Dodik und dessen Partei.
In den vornehmlich von Bosniaken bewohnten Gebieten und in den großen Städten Bosniens ist die muslimische Nationalpartei SDA auf dem Rückzug, Sozialdemokraten und neue, nicht nationalistische Parteien geben den Ton an – auch in Sarajevo. In der kroatischen Hauptstadt Zagreb gewann ein linksgrüner Aktivist, Tomislav Tomašević, im Mai die Bürgermeisterwahlen mit 68 Prozent der Stimmen.
Für Adnan und Mehmed sind das Zeichen der Hoffnung. Sein grüner Tee schmeckt bei diesem Gedanken allen noch etwas besser.
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