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Bochumer PolizeischüsseImmer mehr Zweifel am Polizeieinsatz

Mitte November wurde ein 12-jähriges Mädchen in Bochum durch Polizeischüsse verletzt. Der Anwalt bezichtigt die Polizei der Falschinformation.

„Stimmt schlichtweg nicht“. Der Anwalt der Familie wirft der Polizei Falschaussagen vor Foto: Justin Brosch/imago

Der Polizeieinsatz in Bochum, bei dem in der Nacht zum 17. November eine gehörlose Zwölfjährige durch einen Bauchschuss lebensgefährlich verletzt wurde, wirft immer mehr Fragen auf. Am Freitag wird der Fall im Innenausschuss des NRW-Landtags behandelt. Bereits im Vorfeld widerspricht der Anwalt der Familie des Mädchens, Simón Barrera González, den bisher verbreiteten Darstellungen entschieden.

So spricht Barrera González auch gegenüber der taz von einer „eklatanten Voreingenommenheit“. Nach seinen Angaben stimmen zentrale Aussagen der Polizei und medial verbreitete Informationen „schlichtweg nicht“.

Barrera González erklärte, er habe Ende vergangener Woche die Mutter und den Bruder der Zwölfjährigen als Erster ausführlich befragt. Beide seien – wie das verletzte Mädchen – gehörlos und hätten die Ereignisse unmittelbar miterlebt. Dennoch habe die Polizei sie bis heute nicht umfassend befragt, so der Anwalt. Er wirft den Behörden und Medien vor, voreilig von einem „Messerangriff“ gesprochen zu haben, ohne weitere Zeu­g*in­nen zu hören. Dies sei „ein narratives Vorgreifen, das man keinem normalen Beschuldigten durchgehen lassen würde“.

Die Schilderung des Anwalts enthält bisher unbekannte Details: Laut ihm drangen die Po­li­zis­t*in­nen in der Nacht mit gezogener Waffe in die Wohnung ein, nachdem sie den Strom abgestellt hatten. Für die gehörlose Familie sei die plötzliche Dunkelheit besonders belastend gewesen. Die Mutter habe daraufhin die Tür geöffnet, sei zu Boden gebracht und gefesselt worden. Erst danach sei das Mädchen im Flur erschienen – mit zwei Küchenmessern, jedoch „ohne Angriffshandlung“, wie der Anwalt betont.

Kriminologe fordert anderes Einsatztraining

Die Beamten hätten jederzeit auf Distanz gehen und Verstärkung oder Dolmetscher hinzuziehen können, so Barrera González. Es habe sich offensichtlich um eine Familie mit besonderen Bedürfnissen gehandelt.

Auch der Kriminologe Tobias Singelnstein sieht in dem Fall sowohl fallspezifische als auch grundsätzliche Fragen. Das Polizeigesetz NRW schreibt für Kinder besonderen Schutz vor. Notwehr gegen Minderjährige unterliegt strengeren Vorgaben als bei Erwachsenen.

Singelnstein verweist auf ein strukturelles Problem: In Fällen von Schussabgaben hätten Po­li­zis­t*in­nen in den vergangenen Jahren vermeintliche Angriffe wiederholt falsch wahrgenommen. „Die Polizei muss hinterfragen, ob das Einsatztraining – bei Messersituationen wird quasi automatisch geschossen – überdacht werden muss.“ Messer stellten für Po­li­zis­t*in­nen zweifellos eine große Gefahr dar, weshalb die Eigensicherung großgeschrieben würde. Doch dieser alleinige Fokus berge das Risiko, dass auch in unangemessenen Situationen geschossen werde.

Nachdem Barrera González sich zuletzt öffentlich geäußert hatte, widersprach ein Sprecher der Polizei Essen umgehend gegenüber der dpa: Man versuche möglichst objektiv anhand „Aussagen aller beteiligten Zeugen zu berichten, was in der Nacht passiert ist.“ Auch mit der Mutter und dem Bruder habe man bereits gesprochen.

Staatsanwaltschaft muss Ermittlungen abgeben

Nachfragen konnte derselbe Polizeisprecher der taz am Donnerstagmittag jedoch nicht mehr beantworten. Am Mittwoch war die Zuständigkeit der ermittelnden Staatsanwaltschaft gewechselt: Weil man bemerkt habe, dass ein Mitarbeitender der Staatsanwaltschaft Bochum in verwandtschaftlichem Verhältnis zu einem der beteiligten Po­li­zis­t*in­nen steht, leitet nun aus Neutralitätsgründen die Staatsanwaltschaft Hagen die Ermittlungen der Mordkomission Essen. Informationen gibt fortan nur noch der dort zuständige Oberstaatsanwalt.

Parallel zu den Ermittlungen läuft die politische Krisenkommunikation auf Hochtouren. NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) erklärte früh, warum keine Bodycams im Einsatz waren: Man habe nicht mit einer gefährlichen Situation gerechnet. Zudem sprach er von „stabilen“ Zuständen des Kindes. „Wie kommt ein Innenminister dazu, solche Aussagen zu treffen? “, fragt Barrera González. Seine Mandantin habe währenddessen um ihr Leben gekämpft.

Zur Sitzung im NRW-Innenausschuss wurde der Anwalt der Familie nach eigenen Angaben nicht eingeladen. Mehr Klarheit erwartet Barrera González nicht. „Es besteht die Gefahr, dass das Ministerium die Sitzung nutzt, um erneut das eigene Narrativ zu verbreiten.“

Anmerkung der Redaktion: Eine Angabe zum Gesundheitszustand des Kindes wurde nachträglich geändert.

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11 Kommentare

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  • Ein weiterer Fall der belegt das Bodycams bei jedem Einsatz laufen müssen.



    Schon alleine damit die Aussagen der Polizisten mit objektiven beweisen untermauert werden oder widerlegt werden.



    Komisch das Bodycams so häufig aus sind.



    Keine gefährliche Situation? Wozu dann mit gezogenen Waffen eindringen? Wozu das abschalten des Stoms es bestand ja keine Gefahr?

  • „ NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) erklärte früh, warum keine Bodycams im Einsatz waren: Man habe nicht mit einer gefährlichen Situation gerechnet.“



    Aha, weshalb wurde dann der Strom abgestellt und die Pistole gezückt? Erstaunlich, dass der ach so kluge Innenminister selbst diesen Widerspruch nicht erkennt.



    Ich bin nicht gespannt, wie der Gerichtsprozess gegen die Polizeikräfte ausgeht, die geschossen haben. Ich bin nur noch entsetzt über die zunehmende Gewaltbereitschaft der Polizei und mein Vertrauen in diese Institution sinkt.

  • Es wird die Gerichtsverhandlung wohl auch zur inhaltlichen Klärung nötig sein.



    Dass mensch sich bewaffnet, wenn plötzlich Leute nachts eindringen, halte ich für eine Option, wenn jemand nur mal XYZ geguckt hat.



    Messer können bekanntlich nicht aus der Ferne töten, außer jemand wäre Zirkuskünstler. Also solange keiner auf einen zuläuft, besteht die Chance zur Deeskalation auf ausreichendem Abstand, selbst mit beruhigenden Gesten allein.



    Und warum in den Bauch und nicht in die Extremitäten? War die Gehörlosigkeit auch nicht bekannt? Wenn das so ein harmloser Einsatz werden sollte, warum dann die Mutter sofort zu Boden drücken?



    Gleichzeitig hat auch die Polizei das Recht auf Selbstschutz, auch wenn sie nicht ständig stichfeste Westen trägt.



    Es wird die Gerichtsverhandlung wohl auch zur inhaltlichen Klärung nötig sein.

  • Die Aussagen des Anwalts decken sich doch im Wesentlichen mit den Erstaussagen der Polizei. Ob am Ende eine Notwehrlage vorlag oder nicht bleibt Gegenstand der Ermittlungen. Diese gilt es abzuwarten.

  • Bodycams - wenn die Polizeibeamten vorher den Strom abgeschaltet haben ? Wieso wurde der Strom überhaupt abgeschaltet, die Bewohner mussten doch mit einem Überfall gerechnet haben und sicher nicht mit einem Polizeieinsatz.



    Also es ist wohl an der Zeit, hier einmal von der Polizei eine Selbstreflexion, bezüglich ihrer Aufgaben und ihrer Stellung in unserer Gesellschaft vorzunehmen. Immerhin finanzieren wir als Bevölkerung mit unseren Steuergeldern diese Organisation - unteranderen auch für unseren Schutz und unsere Sicherheit.

    • @Alex_der_Wunderer:

      Es wird allerhöchste Zeit den Polizeiapparat einer gründlichen, neutralen, wissenschaftlichen Untersuchung zuzuführen. Seehofer hat das verhindert, Dobrindt und die csdU / AgD wollen das auch nicht. Dabei wäre es für das Image der Polizei eher gewinnbringend, denn negativ. Ich glaube, hoffe, dass eine solche Untersuchung feststellen würde, dass keine durchgehende, radikale oder gar faschistische Linie in der Polizei -und auch in der Justiz- besteht. Allerdings ist offensichtlich, dass es immer mehr sehr fragwürdige Vorfälle bei Polizei und Justiz gibt. Das mag an einzelnen Dummköpfen und/oder Radikalinskies liegen - hoffentlich nicht am System. Unsere Gesellschaft hat einen Anspruch auf Klarheit und sollte den auch einfordern.

  • Und woher holt man Nachts in Bochum einen Gebärdendolmetcher.

    Und das das Mädchen zwei Messer in der Hand hatte gibt der Anwalt ja zu. Aber wozu, zum Kartofeln schälen. Die Mutter hat ja ausgesagt die Tochter wollte sie verteidigen. Ja womit denn??

    Das Kind war in Lebensgefahr weil es längere Zeit kein Insulin hatte, es hätte also in ein Krankenhaus gemusst.

    Und ein Krimonologe der bei dem Vorfall nicht dabei war sieht Fehler bei der Polizei. Finde ich sehr unseriös.

    • @Martin Sauer:

      Wer in Lebensgefahr ist, den muss man vorsorglich erschiessen, klingt sehr seriös..

    • @Martin Sauer:

      Um dem blinden 12 jähriger Kind Insulin zu bringen, braucht die Polizei nicht den Strom abstellen und schon mit dieser unerklärlichen Aktion die Familie in Angst & Schrecken versetzen, oder ?

    • @Martin Sauer:

      Aber Sie wissen, wie es war?

      Waum darf die Sicht der Opfer nicht dargestellt werden? Es geht hier um Opfer, nicht Täter!

      Wenn das stimmen solte (Strom abgestellt(!!), für gehörlose der Alptraum schlechthin; wie knebeln!) und die Mutter gefesselt wurde...



      Beeindruckend. Und wenn die Mutter und der Bruder sagen, sie wurden nicht richtig angehört - ja, dann kann man wohl davon ausgehen, dass das stimmt, dann haben die wohl noch etwas zu sagen. Man könnte ja einfach mal zuhören.

      Dass ausgerechnet die Polizei Essen ermittelt, ist eine Katastrophe. Was bei der Essener Polizei in letzten Jahren an rechts-radikalen Entgleisungen vorkam (einmal auch selber erlebt), von Mülheimer Polizisten bestätigt, tja, ob das die richtigen sind?

      Nach drei Erlebnissen mit Polizei (einmal Opfer, zweimal Zeuge), habe ich persönlich inzwischen Angst vor der Polizei. So sollte das nicht sein.

  • Eigentlich stimmt die Überschrift nicht.

    Der Artikel gibt die Position des Anwaltes der Mutter wieder.

    Dass der das andets sieht als die Polizei, liegt in der Natur der Sache.

    Dafür wird er bezahlt.

    Der Wechsel der Staatsanwaltschaft hat nichts mit Zweifeln an der Polizei zu tun.

    Und der Kriminologe stellt eine Änderung der Rechtsgrundlage in den Raum.

    Zweifel am Einsatz selbst sind das nicht.

    Ich bin gespannt, was bei der Gerichtsverhandlung mal rauskommen wird.