Blick der EU auf Bundestagswahl: Worst Case Finanzminister Lindner
Rechtsstaatsklausel, Klimakrise, Afghanistan – die EU hat nach Merkels Abgang viele Herausforderungen. Wie blickt Brüssel auf die deutsche Wahl?
Während Brüssel nur widerwillig von Kanzlerin Angela Merkel Abschied nimmt – viele EU-Politiker sehen sie immer noch als ungekrönte Königin von Europa –, kümmert man sich in Berlin kaum um ihr europapolitisches Erbe.
Dabei hat Merkel gleich mehrere Großbaustellen hinterlassen. Der Corona-Aufbaufonds wurde mit 750 Milliarden Euro neuer EU-Schulden finanziert, die zurückgezahlt werden müssen. Doch wann und wie, ist umstritten. Der Stabilitätspakt für den Euro wurde ausgesetzt, sein Schicksal ist ungewiss. Merkel brachte auch eine Rechtsstaatsklausel auf den Weg, die das EU-Budget schützen soll. Doch ob sie in Polen oder Ungarn wirkt, muss sich erst noch zeigen. Im Herbst droht ein Eklat.
Und dann wären da noch die Klimakrise, Afghanistan, der Streit mit den USA über China und die U-Boote – jede Menge lose Enden und unerledigte Geschäfte, bei denen es auf Deutschland ankommt. Doch die Kanzlerkandidaten schweigen.
Man kennt sich, man schätzt sich
Je nach Temperament wird dies von den EU-Politikern und Institutionen ganz unterschiedlich aufgenommen. Kein Problem, wir haben alles im Griff, heißt es im Ministerrat, der Vertretung der 27 Mitgliedstaaten.
Schließlich haben Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron eine ordentliche Übergabe vereinbart. Am 1. Januar 2022 übernimmt Frankreich den EU-Vorsitz – die Agenda haben Merkel und Macron schon festgezurrt.
Wir können mit jedem Wahlsieger, heißt es in der EU-Kommission. Behördenchefin Ursula von der Leyen verweist darauf, dass sie mit CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet das Parteibuch teile – und mit SPD-Spitzenkandidat Olaf Scholz schon gemeinsam in einer Regierung gesessen habe.
Man kennt sich, man schätzt sich, und beide sind „überzeugte Europäer“ – genau wie die Grünen-Kandidatin Annalena Baerbock. Anders als Laschet, der von 1999 bis 2005 Europaabgeordneter war, kennt Baerbock Brüssel zwar nur von einer Assistentenstelle im Europaparlament, die kaum Spuren hinterlassen hat. Doch auch sie bekennt sich zur EU.
Angst vor einem Jamaika-Bündnis
Und was ist mit der Linkspartei, die mit Scholz an die Macht kommen könnte? In Brüssel ist sie kein großes Thema. Eine rot-grün-rote Koalition wird in der Schaltzentrale der EU für wenig wahrscheinlich gehalten.
Mehr Sorgen macht man sich schon um die FDP – und einen möglichen Finanzminister Christian Lindner. Er könnte die EU-Finanzierung über Schulden infrage stellen und mit eiserner Budgetdisziplin für Turbulenzen sorgen. Vor allem für Südeuropa wäre das ein Problem. In Griechenland, Italien und Frankreich haben die Schulden schwindelerregende Höchststände erreicht, selbst Deutschland hält den Stabilitätspakt nicht mehr ein. Ein Jamaika-Bündnis aus CDU, FDP und Grünen wäre für viele das Worst-Case-Szenario.
Im Europaparlament tobt schon der Streit über den künftigen deutschen Kurs. Nicola Beer von der FDP wehrt sich: „Gerade auf europäischer Ebene zeigen wir, dass eine Koalition zwischen der Partei Macrons und den Freien Demokraten möglich ist“, sagt die Vizepräsidentin der Straßburger Kammer. Auf die Liberalen sei Verlass.
Auch Udo Bullmann von der SPD wiegelt ab. „Das größte Thema für die Europäer ist, wer diese Wahl gewinnt. Ob die FDP dabei mitmacht, ob die Linke beteiligt sein wird, ist von vergleichsweise geringerem Interesse.“ Der Co-Fraktionschef der Linken, Martin Schirdewan, verspürt sogar Rückenwind: „Vor allem in Südeuropa gibt es große Hoffnung auf eine andere deutsche Europapolitik.“
Auch die Grünen im Europaparlament setzen auf einen Neustart. „Mit dem bevorstehenden Wechsel an der Spitze der deutschen Bundesregierung muss endlich ein neuer Impuls – eine neue Vision für Europa einhergehen“, sagt der Finanzexperte Sven Giegold. 17 Jahre nach der Osterweiterung dürfe man in der EU nicht mehr nur den kleinsten gemeinsamen Nenner suchen – wie so oft unter Merkel.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag