Bischöfin Petra Bahr über Pazifismus: „Waffenlieferungen sind geboten“

Gibt es guten und schlechten Pazifismus? Bischöfin Petra Bahr über den Umgang der evangelischen Kirche mit dem russischen Angriffskrieg.

Petra Bahr mit aufgestützter Hand

Erträgt an manchen Tagen keine Nachrichten: Bischöfin Petra Bahr Foto: Nancy Heusel/epd

taz: Frau Bahr, seit mehr als einem Jahr tobt der Krieg in der Ukraine mit Tausenden Toten, Hunderttausenden Geflüchteten, mit viel Leid und Schmerz. Haben Sie sich an diese Lage gewöhnt?

Petra Bahr: Ich spüre, wie ich an manchen Tagen keine Nachrichten ertrage und würde gerne mit den Medien, die ich zu viel konsumiere, auch die Welt für eine Weile abschalten. Dann begegne ich Geflüchteten und der Krieg ist sofort wieder da. All die abgebrochenen Lebensgeschichten, die Sorge um Kinder, Eltern, Verwandte, das sind die Begegnungen, an denen mir deutlich wird, dass sich in Europa etwas dramatisch verändert hat.

Jahrgang 1966, ist seit 2017 Regionalbischöfin für den Sprengel Hannover in der Evangelisch-­lutherischen Landeskirche Hannovers

Der Krieg in unserer Nachbarschaft ist eine Zeitenwende – auch militärisch. Undenkbar war zuvor, dass ausgerechnet Deutschland aufrüstet oder gar ein Sondervermögen für die Bundeswehr einrichtet. Müssen Sie da nicht schlucken?

Ich kenne keine halbwegs besonnenen Menschen, die da nicht schlucken. Aber das, was im Hals stecken bleibt, ist doch die Wucht der Aggression, die Brutalität, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Russland einsetzt, um einen souveränen Staat dem Erdboden gleich zu machen.

Dennoch sind Sie für Waffenlieferungen?

Ich halte dies ethisch für geboten, auch mit Blick auf die christliche Tradition des gerechten Friedens. In der Bibel hält sich die Hoffnung auf Frieden mit der Rede von Recht und Gerechtigkeit die Waage. Dieser Krieg hat genozidale Dimensionen angenommen und wird mit religiöser Propaganda überhöht, und zwar nicht nur durch den Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche, sondern auch als „heiliger Krieg“ gegen individuelle Freiheit und echte Demokratie, gegen freie Medien, freie Wissenschaften, gegen gleiche Rechte, übrigens auch gegen Religionsfreiheit.

Also Freiheit durch Panzerlieferungen?

Es geht weniger um die Frage, sind wir gegen Panzer oder nicht, sondern darum, was eigentlich auf dem Spiel steht. Ethisch geboten im Sinne des Völkerrechts ist deswegen, der Ukraine beizustehen – unter diesen Umständen leider auch militärisch.

Es begann mit der Lieferung von Helmen, dann kamen Panzer, jetzt sprechen wir von Zulieferungen für Kampfjets. Die Eskalationsspirale dreht sich immer schneller. Warum sollen wir uns mitdrehen?

Viele haben gehofft, der Krieg sei sowieso bald vorbei. Manche waren sich sogar sicher, dass die Ukraine Russland nichts entgegenzusetzen hat. Jetzt hat sich in der Tat eine zermürbende Situation eingestellt. Die Ukraine verteidigt sich auf eine Weise, mit der viele nicht gerechnet haben. Russland hofft darauf, dass der Westen genau das tut, was jetzt auch immer wieder passiert: zu sagen, das reicht jetzt mal. Parallel zur militärischen Unterstützung durch Waffenlieferungen sind die diplomatischen Bemühungen Dritter ja nicht abgebrochen. Sie haben nur bislang keinen Erfolg.

Vielen Menschen erscheint es aber so, dass über ein friedliches Ende des Krieges gar nicht nachgedacht wird.

In der Friedens- und Konfliktforschung geht es nicht nur um die Frage, welche Geschütze, welche Panzer, welche Luftabwehr geliefert wird, sondern es geht gleichzeitig immer darum, wie dieser Krieg aufhört – und was danach kommen kann. Der Einsatz für eine neue, rechtlich gesicherte Friedensordnung kann gar nicht engagiert genug sein.

Auch in kirchlichen Organisationen gibt es Kritik an den Waffenlieferungen. Es herrscht der Eindruck, dass etwa humanitäre Hilfe zu kurz kommt. Verstehen Sie das?

Ich teile diese Ansicht, allerdings ist sie Teil der medialen Verkürzung. Geistliche werden gefragt: „Sind Sie für Waffen oder dagegen?“ Das ethische Ringen um eine verantwortliche Position fehlt. Was bedeutet es, wenn ein souveräner Staat in dieser Souveränität nicht nur in Frage gestellt wird? In diesem Krieg geht es um kulturelle Auslöschung, um Kriegsverbrechen, um Angriffe auf zivile Ziele, die Entführung von Kindern. Da reicht humanitäre Nothilfe nicht aus. Die Frage ist aber berechtigt: Was können wir sonst noch tun, um die ukrainische Gesellschaft zu unterstützen, die zwischen Resilienz und traumatischen Erfahrungen hin- und hergerissen ist? Die Infrastruktur zu erhalten, Schulen, Krankenhäuser, Kirchen, Universitäten – das ist genauso wichtig.

Diese Lücke haben Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht mit ihrem Manifest genutzt und mächtig Zulauf bekommen. Auch Friedens­initiativen oder Organisationen aus der Entwicklungszusammenarbeit hatten sich angeschlossen. Wie erklären Sie sich das?

Der Pazifismus als Selbstbindung in einer Situation der Gewalt hat mir immer schon imponiert. Zivile Konfliktstrategien zu erproben ist ein wichtiges Anliegen. Hier wird der Pazifismus aber anders verordnet. Eine große Triebkraft ist die Angst, die man nicht wegdiskutieren kann, die aber politisch leicht instrumentalisierbar ist. Manche stützen offen die Position Russlands und suchen die eigentlichen Kriegsursachen sogar im Westen. Im Grunde stellt diese Bewegung die Souveränität der Ukraine und seine zivilgesellschaftliche Freiheitsbewegung selbst in Frage. Dazu wird mit moralischer Verve vorgebracht, dass die Deutschen, die Russland im Zweiten Weltkrieg so unfassbares Leid zugefügt hätten, keine Waffen gegen Russen richten dürften. Unter der Hand wird Russland mit der ehemaligen Sowjetunion identifiziert – und die anderen postsowjetischen, souveränen Staaten werden ein zweites Mal unsichtbar gemacht. Auch populistische, antidemokratische Kräfte in Deutschland haben die Friedenssehnsucht gekapert.

Warum schließen sich Menschen solchen Bewegungen dennoch an?

Ich würde als Christin und als Demokratin immer gucken: Unter welcher Fahne verbünde ich mich? Es gibt in meinem Umkreis pazifistisch gesonnene Menschen, die dieses Manifest niemals unterschrieben hätten.

Auch Margot Käßmann hat das Manifest unterschrieben.

Ja, und wir haben darüber auch gestritten. Und zwar deswegen, weil ich sie selber auch als hochengagierte Pazifistin erlebe. Aber ich hätte sie nie an der Seite von Sahra Wagenknecht vermutet. Dort will sie auch nicht hingehören.

Feiern die Kirchen in der Krise ein Comeback?

Christen sind ja keine Popgruppe, die heute retro war und morgen wieder angesagt sein könnte. Kirchen sind und bleiben Orte, in denen nach Gott gefragt wird. Hier ist Platz für Gebete und Stille, für Ohnmacht, Ratlosigkeit und Verzweiflung. Natürlich sind Kirchen auch Räume, in denen gefragt wird: Was sollen wir tun? Was können wir lassen?

Dieser Tage findet der erste Kirchentag ohne Käßmann statt. Was fehlt, wenn sie fehlt?

Margot Käßmann fehlt, ihr Charisma, ihre Freude an der Zuspitzung, die ja oft wichtige Debatten nach sich zieht. Aber der Kirchentag lebt davon, dass neue Generationen kommen, neue Gesichter, neue Stimmen, vielleicht auch in ganz anderer Form. Das ist gut so, und das würde sie vermutlich auch gut finden.

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