„Bild“-Chef zum SPD-Mitgliederentscheid: Ausländer raus aus meiner Wahl
Über die Große Koalition werden alle SPD-Mitglieder abstimmen – auch die ohne deutschen Pass. Julian Reichelt hat damit ein Problem.
W ährend die meisten Redaktionen ungeduldig auf den Vertrag der Großen Koalition warten, beschäftigt den Bild-Chefredakteur Julian Reichelt ein anderer Aspekt rund um die Regierungsbildung: Wenn die SPD über den endgültigen Vertrag abstimmt, entscheiden auch Menschen, die keinen deutschen Pass haben, über eine mögliche Neuwahl.
Die Erklärung dafür ist eigentlich simpel: In die SPD eintreten können alle Menschen ab 14 Jahren. Und alle Parteimitglieder haben eine Stimme. Das ist weder besonders neu, noch ein Alleinstellungsmerkmal der SPD.
Reichelt findet es jedoch „unanständig“ und demokratieschädigend, dass Leute, die aufgrund ihres Passes von der Bundestagswahl ausgeschlossen sind, nun etwas mitentscheiden können, nämlich, ob die SPD sich auf die Große Koalition einlässt oder nicht. Um wie viele Menschen es sich handelt, weiß niemand so genau, schätzungsweise sind es bloß zwei Prozent, also etwa 7.000 Personen.
Völkische Logik
Eigentlich ist es auch egal, wie viele Leute es sind, denn das Prinzip funktioniert nun einmal so: Bei einem Mitgliederentscheid entscheiden alle Mitglieder. Soll die SPD jetzt anfangen, Informationen über die Staatsangehörigkeit ihrer Mitglieder zu erfassen und diese in zwei Klassen einteilen, oder wie genau stellt Julian Reichelt sich den Prozess vor? Abgesehen davon sind EU-Ausländer_innen ohnehin berechtigt, an Kommunal- und Europawahlen teilzunehmen – zum Teil auch als Kandidat_innen.
Der SPD-Sprecher Serkan Agci reagierte auf Twitter umgehend auf Reichelts völkisch anmutenden Kommentar: „In Deutschland geboren, hier Abi und Studium abgeschlossen, darf leider nicht wählen, weil türkischer Staatsbürger. Beim Mitgliedervotum der @spdde allerdings habe ich Stimmrecht. @jreichelt meint: das ist böse. Ich meine: Umgekehrt wird ein Schuh draus.“ Doch auch für diesen Fall fällt Reichelt eine Lösung ein: Agci sollte doch einfach Staatsbürger werden.
Reichelts Gipfel der Empörung über diese, wie er es nennt, „Unterwanderung“ ist damit noch nicht erreicht, denn der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert erdreistet sich, alle SPD-Mitglieder dazu aufzurufen, gegen die GroKo zu stimmen. Ganz „ohne Rücksicht“ auf den „Wählerwillen“. Gewählt ist gewählt, ob das jetzt irgendwelchen Ausländern und Zecken passt oder nicht! Finger weg von seiner Demokratie!
Gut, 12,6 Prozent der Wähler_innen wollen eine rechte Partei voller Fundamentalist_innen, Holocaust-Leuger_innen und antidemokratischen Hetzer_innen, aber darin scheint Reichelt kein Problem zu sehen. Ist es vielleicht doch nicht die Demokratie, die er bedroht sieht, sondern die Barrieren gegen die Teilhabe von Menschen mit Migrationsgeschichte?
Urbane Legenden als Nachrichten verkauft
Eine aufgeheizte Stimmung gegen Migrant_innen, Geflüchtete und Menschen of Color ist im Klatschblatt Bild nichts Neues. Erst vor einigen Tagen verbreitete es auf perfide Weise die Fake News, eine geflüchtete Familie „kassiere“ 7.300 Euro im Monat. Perfide deshalb, weil es sich um einen Bild-Plus-Text handelt, der vollständig nur Abonnent_innen zugänglich ist. Für alle anderen jedoch kostet der Text unterhalb der Überschrift „Flüchtlingsfamilie bekam monatlich 7.300 Euro“ Geld und hört deshalb an dieser Stelle auf.
Im reißerischen Titel wird nicht aufgelöst, dass es sich um eine zehnköpfige Familie handelt und dieser die Summe nicht bar ausgezahlt wird. Die 7.300 Euro beinhalten nämlich die Kosten ihrer Unterkunft und die der sozialen Grundbetreuung. Die Höhe der Summe, die sie letztlich erhalten, beträgt den Sozialhilfesatz. Kindergeld gibt es keins.
Der Artikel ging viral – denn genau das lesen die Bild-Leser_innen gerne, die sich in der herbeifantasierten Position der deutschen Opfer von Merkels Politik wohl fühlen. Und jetzt können sie dank Reichelt das Märchen über die bösen Ausländer, die den demokratischen Deutschen die Wahl verpfuschen – und sich sozusagen in ihre Politik „einmischen“ – weitererzählen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Jahresrückblick Erderhitzung
Das Klima-Jahr in zehn Punkten
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos