Betroffene über Armut: „Wie eine Decke, die dich erdrückt“
Daniela Brodesser erzählt in ihrem Buch „Armut“ von der eigenen Erfahrung eines prekären Lebens. Ein Gespräch über Verzicht, Angst und Prägungen.
Die Armut kam in Daniela Brodessers Leben mit der Geburt ihres vierten Kindes, das mit einer Lungenkrankheit zur Welt kam. Daniela Brodesser konnte nicht mehr als Bürokauffrau arbeiten, sondern pflegte ihr Kind. Dafür arbeitete ihr Mann mehr – bis zum Burnout. Heute lebt die Familie wieder über der Armutsgrenze. Doch sicher fühlt sie sich noch lange nicht. In ihrem ersten Buch „Armut“ erzählt Daniela Brodesser von ihrer Erfahrung.
taz: Wenn es um Armut geht, reden wir immer über Existenzielles, Essen, Wohnen. Sie beginnen in Ihrem Buch aber mit einem anderen Thema: Fotografie.
Daniela Brodesser: Die Fotografie hat mich durch den Alltag gerettet. Wenn du in Armut lebst, verzichtest du eh auf alles. Ja, es geht um die Wohnung und ums Essen. Aber es geht noch um mehr. Unser Gehirn braucht Belohnungen. Meine Belohnung war das Fotografieren in Kombination mit dem Spazierengehen. Als das Fotografieren weggefallen ist, bin ich in ein Loch gefallen. Damals war eine Stromnachzahlung fällig, die wir nicht zahlen konnten. Für die Kamera haben wir 300 Euro bekommen und konnten damit die Rechnung zahlen.
Daniela Brodesser
Jahrgang 1975, ist Bürokauffrau. Seit 2017 twittert sie über ihre Armutserfahrungen. „Armut“ erschien im März 2023 bei Kremayr & Scheriau.
Wie lange mussten Sie auf das Fotografieren verzichten?
2015 habe ich meine Kamera verkauft, jetzt habe ich wieder eine. Allerdings kann ich heute nicht mehr fotografieren. Ein Psychologe würde vermutlich sagen: Aus Angst, dass ich es wieder verlieren könnte. Ich kann mich nicht mehr drauf einlassen.
Armut prägt. Selbst, wenn sie nicht mehr aktuell ist.
Armut ist wie eine irrsinnig schwere Decke, die auf dir liegt – und die dich erdrückt. Ich habe einfach funktioniert und so wenig Gefühle wie möglich zugelassen. Ich habe mir Vorfreude verboten. Mit traurigen Gefühlen war es ähnlich: Ich habe mich nicht vor die Kinder gesetzt und geheult. Für mich war es überlebenswichtig, meine Gefühle zu verdrängen. Ich wäre sonst komplett zerbrochen. Oder das Faulsein: Ich habe mir gedacht, ich darf tagsüber nicht auf der Couch liegen. Denn dann denken alle, ich liege nur faul rum. Dabei braucht das jeder Mensch, Entspannung und Ruhe. Mir überhaupt Sachen zu gönnen, das fällt mir bis heute schwer.
Dabei hätte das ja niemand gesehen, wenn Sie tagsüber zu Hause auf dem Sofa liegen.
Ja, aber man hat es so verinnerlicht. Man übernimmt irgendwann die Beschämung von außen. Man glaubt das, was über Armutsbetroffene geredet wird. Dass sie faul seien oder dass sie selbst schuld seien.
Sie erzählen Ihre Geschichte, „weil unsere Gesellschaft nur dann aufmerksam zuhört, wenn sie Geschichten und Schicksale vorgeführt bekommt. Wenn sie nachempfinden kann, ohne je selbst in der Situation gewesen sein zu müssen.“ War es eine schwierige Entscheidung, das Buch zu schreiben und damit Objekt von Voyeurismus zu sein?
Auf der einen Seite nicht, weil ich seit Jahren auf Twitter schreibe und die Öffentlichkeit so schon etwas gewöhnt bin. Auf der anderen Seite aber schon, weil ich weg davon will, meine eigene Geschichte zu erzählen. Ich möchte mehr auf die strukturellen Aspekte hinweisen. Aber Menschen brauchen Geschichten mit Bildern im Kopf. Und ich möchte den Bildern aus Trash TV-Formaten etwas entgegensetzen. Aber es ist ein schmaler Grat.
Fast ein Viertel aller Armutsgefährdeten sind Kinder. Von Kindern, die in Ein-Eltern-Haushalten leben, ist sogar fast die Hälfte armutsgefährdet. Was bedeutet es für Kinder, in Armut zu leben?
Kinder lernen, dass es keine Perspektiven gibt. Sie sehen von Anfang an, wo ihre Grenzen sind. Wie willst du Kindern erklären, sie sollen für jedes Ziel kämpfen, wenn sie sehen, dass die Ziele nicht erreichbar für sie sind? Ich kenne es von vielen Kindern und von meinen, dass sie sich schwertun, Wünsche zu formulieren. Weil sie wissen, die Wünsche sind nicht erfüllbar. „Eigentlich wünsche ich mir nichts, ich bin glücklich so, wie es ist.“ Sie werden dann von ihrem Umfeld dafür belohnt, dass sie so genügsam sind. Dabei sollen Kinder doch Visionen und Ziele und Träume haben.
Welche Wünsche haben Ihre Kinder aktuell?
Urlaub. Jedenfalls die beiden großen, denn sie haben noch einen Familienurlaub erlebt. Aber Urlaub zu fünft, das ist bei uns noch nicht drin. Und selbst wenn das Geld da wäre, ich traue mich nicht, es für Urlaub auszugeben. Ich hätte zu viel Angst, dass doch wieder etwas passiert, das Auto kaputtgeht oder so.
Die Armut ist in Ihrer Familie eng mit Krankheit verknüpft.
So, wie unsere Gesellschaft organisiert ist, bedeutet Krankheit oft Armut. Bei uns war es eine körperliche Erkrankung meiner Tochter und eine psychische Erkrankung meines Mannes. Es sollte in Deutschland und Österreich nicht so sein, dass man deshalb in Armut fällt. Wir haben dieses Bild von Armut: Wer arm ist, ist selbst schuld. Dabei liegt es an den strukturellen Bedingungen. Wenn ich ein Kind pflege, kann ich nicht 40 Stunden arbeiten. Bis heute kann ich nicht Vollzeit arbeiten. Die Jüngste hat noch immer eine eingeschränkte Lungenfunktion. Ich muss sie jeden Tag von der Schule abholen, weil der Weg sonst zu anstrengend für sie wäre. Ein normaler Job wäre so für mich noch immer nicht machbar. Wir sind nur über der Armutsgrenze, weil ich mittlerweile als Autorin und Speakerin von zu Hause aus arbeiten und mir die Arbeit gut um die Care-Arbeit rund um meine Tochter aufteilen kann.
Was hätten Sie in der schwierigen Zeit gebraucht?
Menschen, die wirklich zugehört hätten. Ohne Ratschläge und ohne Vergleiche wie „Die Cousine meines Freundes hat auch ein krankes Kind daheim und schafft das“. Ja, schön, wenn es bei einigen funktioniert, aber es klappt nicht bei allen. Wenn man sagt: Ich kann nicht mehr, ich bin am Limit, ich weiß nicht, was ich machen soll – dass das nicht runtergespielt wird. Armut ist Dauerstress und kräftezehrend. Irgendwann hast du keine Kraft mehr, dich zu rechtfertigen. Ich verstehe alle Menschen, die nicht öffentlich darüber sprechen, weil sie ihre Kraft für ihren Alltag brauchen.
Was hätten Sie strukturell gebraucht?
Mehr Geld. (lacht) Wesentlich bessere und mehr Kinderbetreuung, damit ich mehr hätte arbeiten können. Kinderbetreuung, die über 16 Uhr hinausgeht. Ansonsten können Eltern, die einen Pendelweg haben, ja gar nicht Vollzeit arbeiten, selbst mit einem gesunden Kind. Und eine Betreuung für erkrankte Kinder gibt es auch nicht. Meine Tochter schafft keine ganze Schulwoche und es gibt keine Unterstützung für uns – beziehungsweise würde die Unterstützung dann so viel kosten, dass ich gar nicht mehr arbeiten bräuchte. Ich arbeite also, mache Unterricht, obwohl ich keine Pädagogin bin – das geht alles nicht auf. Und es gibt so viele Eltern, die kranke Kinder betreuen müssen.
Warum ärgert Sie die Aussage „Aber Sie wirken gar nicht, als wären Sie arm?“
Es spiegelt das Bild wider, das wir von Armut haben. Man soll mit zerlumpten Klamotten daherkommen. Aber wenn man normale Klamotten trägt, sich stylt, dann passt man nicht in das Bild von Armut. Das ärgert mich. Und diese Vorurteile gibt es sogar von Menschen, die es eigentlich besser wissen sollten. Bei einer Sozialberatungsstelle erklärte ich, dass wir die Miete zwar zahlen können, es aber nicht für Lebensmittel reicht. Die Dame von der Sozialberatung sagte: Sie schauen ja gar nicht aus, als seien Sie arm. Das hat mich echt geschockt, wie verfälscht selbst dort das Bild von Armut ist.
Neben der Armut gibt es auch viel Geld in Deutschland und Österreich. Rund zwei Drittel des weltweiten Vermögenszuwachses ging seit der Pandemie an das reichste Prozent der Weltbevölkerung. Was denken Sie, wenn Sie diese Statistiken sehen?
Die Diskussionen um Vermögens- oder Erbschaftssteuer ärgern mich. Zum Beispiel die Einführung einer Erbschaftssteuer ab einer Million Euro. Menschen aus der unteren Mittelschicht setzen sich gegen diese Forderung ein. Obwohl sie niemals davon betroffen wären. Das verstehe ich einfach nicht. Wir könnten so viel Geld wesentlich besser umverteilen, wenn es diese Erbschaftssteuer geben würde und eine Vermögenssteuer.
Sie beschreiben Armut so: “Stellt euch vor, keine Träume mehr zu haben, weil sie noch nie in Erfüllung gegangen sind.“ Welche Träume haben Sie heute?
Die Frage habe ich mir selbst noch überhaupt nicht gestellt. Ich habe das jahrelang ausgeblendet. Erstmal wünsche ich mir, dass die Kinder die Ausbildung machen können, die sie wollen. Damit sie sehen: Wir können alles erreichen. Und ich möchte nie wieder solche Ängste haben. Dann bin ich schon zufrieden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“