Verringerung von Armut: Was die Forschung sagt

In der Armutsforschung stehen mehrere Methoden im Wettbewerb. Darunter: bedingungslose Geldtransfers, Mikrokredite und Bildungsmigration.

Schneiderei unter Plane

Mohammed Rasheed aus Hyderabad bekam einen Minikredit um zu schneidern Foto: Krishnendu Halder/reuters

Extreme Armut ist zutiefst unfair. Wer in einem Kontext extremer Armut geboren wird, kann nichts dafür und hat dennoch unzählige Hürden vor sich: Es ist fast unmöglich, sich gesund zu ernähren, und ex­trem arme Menschen leiden häufiger unter schlechter psychischer Gesundheit. Weltweit sind schätzungsweise 685 Millionen Menschen betroffen, die von weniger als 2,15 US-Dollar pro Tag leben – angeglichen an die Kaufkraft des jeweiligen Landes. Sie haben also weniger zur Verfügung als das, was sich ein*e US-Amerikaner*in von 2,15 Dollar in den USA kaufen kann.

Das Gute: Große Teile der Welt sind im vergangenen Jahrhundert der extremen Armut entkommen. Wie das vonstatten gegangen ist und vor allem wie sich das heute auf Länder mit weiterhin niedrigem Einkommen übertragen lassen könnte, ist weitgehend unklar. Es ist extrem kompliziert herauszufinden, was genau warum wann wo funktioniert hat. Dennoch gibt es viele teilweise gut und teilweise unzureichend erforschte Ideen, wie zumindest auf dem individuellen Level mehr Einkommen und damit hoffentlich ein besseres Leben möglich ist.

Seit Anfang der 2000er hält ein revolutionärer Gedanke Einzug in die Sozialwissenschaften. Wis­sen­schaft­le­r*in­nen begannen zunehmend eine Methode anzuwenden, die bislang vor allem aus der Medizin bekannt war: die randomisierte kon­trol­lierte Studie. Dabei werden mindestens zwei Gruppen untersucht. Eine, die die Intervention erhält, wie zum Beispiel Moskitonetze zum Schutz vor Malaria, und eine Kon­troll­gruppe, bei der nur Daten gesammelt werden. So lässt sich besser unterscheiden, was zufällige Veränderungen sind und was die Intervention tatsächlich bewirkt hat. Durch mehrere Studien dieser Art konnten Forschende zum Beispiel feststellen, dass die kostenfreie Verteilung von Moskitonetzen dazu führt, dass viel weniger Menschen in Malariagebieten an der Krankheit sterben. Seitdem wurden schätzungsweise Hunderte Millionen Krankheitsfälle auf der Welt verhindert.

Neue Sicht auf Armut

Die drei „Randomistas“ Esther Du­flo, Michael Kremer und Abhijit Banerjee erhielten für ihre radikal neue Sicht auf Armut und Entwicklungszusammenarbeit 2019 den Wirtschaftsnobelpreis. Als diese Idee noch recht frisch war, wurde etwa zeitgleich ein anderer Ansatz zur Verbesserung der Lebensumstände armer Menschen mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Der bengalische Wissenschaftler Mohammad Yunus erhielt die prestige­trächtige Auszeichnung 2006 für seine Idee der Mikrokredite.

Warum nicht einfach armen Menschen unkompliziert kleine Summen Geld leihen, damit sie ihre eigenen Unternehmen vergrößern können, wenn es ohnehin schon unzählige Un­ter­neh­me­r*in­nen unter ihnen gibt? Zahlreiche Menschen in Ländern mit niedrigem Einkommen verdienen ihr Geld als Selbstständige. Sei es als Land­wir­t*in­nen in ländlichen Gebieten oder als La­den­in­ha­be­r*in­nen in Städten.

Das Narrativ von Yunus’ Idee der Mikrokredite ist attraktiv. Der Haken an der Sache ist, dass es offenbar nicht funktioniert. Zumindest nicht zur Verringerung von Armut. Die Auswertung von sechs randomisierten Studien zeigt etwa, dass Einkommen und Konsum der Haushalte durch Mikrokredite nicht signifikant steigen. Einkommen und Konsum sind bei Menschen in Armut zwei wichtige Indikatoren für den Lebensstandard. Ein Erklärungsansatz ist, dass Menschen in Armut tenden­ziell nicht deshalb zu Un­ter­neh­me­r*in­nen geworden sind, weil es ihre Leidenschaft ist, sondern aus Mangel an guten Alternativen. Sie wollen ihr Business nicht wachsen lassen, sie haben keinen inneren Drang, aus ihrem familiengeführten kleinen Geschäft eine Firma mit mehreren Mitarbeitenden zu machen.

Bedingungsloser Geldtransfer

Der Grundgedanke, Menschen in extremer Armut mehr Möglichkeiten zu verschaffen, damit sie ihr Leben besser selbst gestalten können, ist auch Prämisse bei einer anderen, durch die Randomistas sehr beliebt gewordenen Maßnahme der Armutsverringerung: bedingungslose Geldtransfers. Die Idee beruht auf einer einfachen wie bestechenden Erkenntnis. Wer arm ist, hat kein Geld. Wer arm ist, braucht Geld, um nicht mehr arm zu sein. Und wer arm ist, weiß selbst am besten, wofür er*­sie Geld benötigt. Also erhalten Menschen in extremer Armut Geld. Ganz ohne Bedingungen. Sie können entscheiden, wofür sie das Geld verwenden, zurückgeben müssen sie es nicht.

Der in Stockholm lehrende Armutsökonom Johannes Haushofer hat mehrere randomisierte Studien zur Wirksamkeit bedingungsloser Geldtransfers durchgeführt. Er beschreibt sie als Maßnahme, die den Emp­fän­ge­r*in­nen ihre „Würde“ lasse: „Ich fand daran sehr attraktiv, dass sie selbst Entscheidungen treffen können. Dass man sie wie Erwachsene behandelt, die selbst am besten wissen, was sie brauchen.“ Bislang konnten zahlreiche Studien zeigen, dass Geldtransfers extrem positive Auswirkungen haben. Emp­fän­ge­r*in­nen geben das Geld mitnichten für Alkohol und Zigaretten aus, um einer typischen Sorge vorzugreifen. In Studien zeigte sich, dass Emp­fän­ge­r*in­nen beispielsweise in Kühe investierten, deren Milch sie verkaufen konnten. Sie litten weniger Hunger als vorher, und ihre psychische Gesundheit wurde besser.

Das berichtet Haushofer, schränkt zugleich aber ein: „Was die Geldtransfers vielleicht nicht können, ist, nachhaltig Haushalte oder Dörfer aus der Armutsfalle rauszuheben.“ Denn langfristig führten diese einmaligen Geldtransfers nach aktuellem Forschungsstand nicht dazu, dass sich der Lebensstandard der Emp­fän­ge­r*in­nen stark verbessert. „Das von den Transfers zu erwarten, ist ein bisschen viel verlangt. Mir fällt auch keine andere Intervention ein, die das kann.“ Aber selbst wenn der positive Effekt länger andauern würde: „Die Leute fangen bei einem Dollar am Tag an, und nach dem Geldtransfer verdienen sie 1,10 oder 1,20 Dollar am Tag.“

Hilfe durch Bildungsmigration

Was wäre, wenn stattdessen viel größere und nachhaltigere Einkommenssteigerungen möglich wären? Haushofer untersucht inzwischen, ob das durch Bildungsmigration erreicht werden kann. Unterschiede beim Einkommen über die Ländergrenzen hinweg erklären schließlich einen großen Teil der globalen Einkommensunterschiede, wie er sagt. Er hat seither die Organisation Malengo gegründet, die Hoch­schul­ab­sol­ven­t*in­nen aus Uganda zum Studieren für englischsprachige Studiengänge nach Deutschland bringt und ihnen im ersten Jahr die Lebenshaltungskosten finanziert. Rund 20 Malengo-­Sti­pen­dia­t*in­nen leben und studieren bereits in Deutschland. Dieses Jahr sollen 100 weitere dazukommen. Was sie nach ihrem Studium machen, ist ihnen freigestellt.

Die Studierenden schicken bereits jetzt viel Geld nach Uganda, „und zwar in Größenordnungen, die das Einkommen der Haushalte dort dramatisch verbessert“, sagt Haushofer. Außerdem wollen viele nach ihrem Studium in Deutschland bleiben, wo sie ein viel höheres Einkommen erwartet, als sie es in Uganda hätten. Oder sie gehen zurück nach Uganda und bringen ihre Kenntnisse aus dem Studium dort ein.

Die Studierenden müssen neben ihrem Studium, der Suche nach einem Nebenjob und den zahlreichen Schwierigkeiten in einem neuen Land auch noch Deutsch lernen. Je nachdem, wie gut ihnen das gelingt, ist fraglich, wie leicht ihnen nach dem Studium die Jobsuche hier fallen wird. Insgesamt ist die Methode noch zu neu, als dass bereits klar sein könnte, wie gut die Migration den Studierenden und ihren Familien langfristig helfen wird, und vor allem, ob sie effektiver ist als andere bereits gut untersuchte Methoden.

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