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Bestandsaufnahme der EUIm europäischen Zwischenland

Essay von Franz Mayer

Die EU ringt um Stabilität. Am Ende der Pandemie zeigt sich, dass wir aufeinander angewiesen sind. Das ist eine Chance für engere Zusammenarbeit.

Illustration: Katja Gendikova

P olitische Stabilität ist keine Selbstverständlichkeit. Das hat die Erstürmung des Bundesparlaments in den USA vor einem Jahr nachdrücklich in Erinnerung gerufen, in einer mehr als 230 Jahre alten Union. Auch die wesentlich jüngere Europäische Union, Rechtsgemeinschaft und Friedensgarantin in der alten Welt nach den fürchterlichen Erfahrungen zweier Weltkriege, erscheint weniger denn je als dauerhaft gesichert.

Zurück zum Nationalstaat war vielerorts der erste Reflex nach Ausbruch der Pandemie im Frühjahr 2020. Längst überwunden geglaubte Grenzen wurden wieder sichtbar, Schlagbäume, Grenzkontrollen, Einreisesperren. Die europäische Integration ist indessen nicht nur wegen der Pandemie in der Defensive.

Nach der Eurokrise ab 2010, der sich anschließenden Flüchtlingskrise, dem Endlosdrama um den britischen Austritt und nun der Rechtsstaatskrise insbesondere in Polen und Ungarn ist die europäische Integration seit mehr als einem Jahrzehnt im Krisenmodus, in ungesichertem Terrain – in einem Zwischenland. Keine der Krisen kann als sicher überwunden gelten. Vor allem die Rechtsstaatskrise in Polen betrifft die Substanz der EU als Rechtsgemeinschaft.

Es geht dort nicht um vereinzelte Rechtsverstöße, sondern den systemischen Umbau zu einem Land ohne unabhängige Gerichtsbarkeit. Den aktuellen Machthabern geht es dabei vorrangig um die Sicherung dieser Macht. Unabhängige Gerichte und europäische Beobachtung stören da nur. Eine unabhängige Gerichtsbarkeit ist aber Beitrittsvoraussetzung und damit Geschäfts- und Vertrauensgrundlage für das rechtliche Miteinander in der EU.

Bild: Universität Bielefeld
Franz Mayer

ist Professor an der Universität Bielefeld. Er arbeitet zum deutschen und europäischen Verfassungsrecht, zu Europarecht und zu Rechtspolitik.

Polen rauswerfen geht nicht

Schon deswegen kann von einer rein innerpolnischen Angelegenheit keine Rede sein. Es geht um die Frage, ob Polen in dieser Verfassung noch Mitglied der EU bleiben kann. Das große Problem der EU ist dabei, dass man einem Mitgliedstaat nicht einfach kündigen kann, anders als übrigens beim Europarat, dort ist ein Rauswurf möglich. Entsprechend macht die Europäische Kommission, was sie machen kann:

Sie geht mit den Mitteln des Rechts gegen den Rechtsstaatsabbau vor, mit Vertragsverletzungsverfahren und Zwangsgeldern. Bisher war dies nur begrenzt wirksam. Zwangsgelder in Höhe von 1 Million Euro pro Tag sind für einen Staatshaushalt gut verkraftbar, und selbst der zwischenzeitlich eingeführte, aber noch vom EuGH auf seine Kompetenzmäßigkeit zu prüfende Rechtsstaatsmechanismus, mit dem EU-Haushaltsmittel gesperrt werden können, dürfte nur begrenzte Reichweite entfalten.

Anders verhält es sich mit der Sperre der zur Pandemiefolgenbewältigung aufgelegten Wiederaufbauprogramme, wo es um Größenordnungen von 40 bis 60 Milliarden Euro geht. Dies würde in Polen spürbar sein. Die Eskalation des Streits kann zum Austritt führen, es besteht freilich auch das Risiko des „dirty remain“: der Nichtaustritt bei kontinuierlicher Sabotage aller innerunionalen Vorhaben, die Einstimmigkeit erfordern. Ein schneller Ausweg aus dem Dilemma zeichnet sich nicht ab.

Wirklich gefährlich an der Entwicklung in Polen ist vor allem die offen aggressiv beanspruchte bedingungslose Vorfahrt des Nationalstaates, gegen jede eingegangene rechtliche Bindung. Dieses Zurück zum Nationalstaat ist kein isoliertes Phänomen, was der Beifall aus Ungarn wie auch die verstörend nationalistischen Töne aus dem konservativen Spektrum in Frankreich indizieren. Der Koalitionsvertrag der Ampelregierung bezieht scheinbar klare Stellung in Sachen Rechtsstaatlichkeit.

Verstörende Töne aus Frankreich

Die Bundesregierung will bei den Entscheidungen über Mittel aus dem Wiederaufbaufonds nur zustimmen, „wenn Voraussetzungen wie eine unabhängige Justiz gesichert sind“. Genau gelesen macht man dies aber abhängig von den Vorschlägen der Kommission. Auch sonst verliert der Koalitionsvertrag eher, je länger man die Europapassagen liest.

Dass die bisher in Deutschland weitgehend unbeachtet gebliebene, nur sehr schleppend in Gang gekommene Konferenz zur Zukunft Europas „in einen verfassungsgebenden Konvent münden und zur Weiterentwicklung zu einem föderalen europäischen Bundesstaat führen“ sollte, lässt zunächst aufhorchen. Derartige legal science fiction findet sich für gewöhnlich eher in Grundsatzprogrammen, wo sie auch ihre Berechtigung hat, nicht im Regierungsfahrplan für die nächsten vier Jahre.

Aus europaverfassungsrechtlicher Sicht stellen sich sofort Fragen. Nicht nur weil es keine „nicht-föderalen“ Bundesstaaten gibt und man für einen Bundesstaat mindestens noch einen Mitstreiter bräuchte – unter den anderen Mitgliedstaaten weit und breit nicht in Sicht. Die Eingliederung Deutschlands in einen europäischen Bundesstaat ist zudem insbesondere mit der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG nicht vereinbar.

Es wäre also eine Grundgesetzänderung oder gar eine völlig neue deutsche Verfassung erforderlich – eine rechtliche Revolution. Wollte man das ernsthaft, dann würde man es doch weiter vorne im Text ansprechen, jedenfalls aber einen verfassungsrechtlichen Pfad zum Bundesstaat skizzieren. Noch befremdlicher ist der Koalitionsvertrag mit der Zielsetzung, der Europäische Gerichtshof solle nationales Recht ohne jeden EU-Bezug an europäischen Grundrechten messen können.

Koalition zeigt Gestaltungswillen

Auch dies käme einer rechtlichen Revolution gleich, aus verfassungs- wie europarechtlicher Perspektive, für die weder in Deutschland noch in der EU die erforderlichen verfassungs- und vertragsändernden Mehrheiten in Sicht sind. An diesen Stellen mangelt es dem Koalitionsvertrag an Ernsthaftigkeit.

Eine denkbare Erklärung dafür wäre, dass in den Verhandlungen viele EP-Abgeordnete die Feder geführt haben und dabei möglicherweise so etwas wie eine Wunschliste erstellten, die in der Folge dann asymmetrischerweise vor allem die nationalen Abgeordneten abzuarbeiten haben. Als positive Deutungsmöglichkeit bleibt immerhin, dass hier europäischer Gestaltungswille dokumentiert ist, der sich deutlich von der alten Regierung absetzt.

Deren Europapolitik kann im Wesentlichen als reaktiv passiv beschrieben werden. Auf Emmanuel Macrons Sorbonne-Rede zur Zukunft der EU 2017 hatte es aus Deutschland nie eine konzeptionelle Antwort gegeben. Für einen konkreten Gestaltungswillen jedenfalls in Teilen der Koalition spricht auch die Art und Weise, wie sich die Grünen in den Ministerien und im Bundestag die Europaschaltstellen gesichert haben. Dies wird aber nicht reichen.

Erstens weil der europäische Bundesstaat in Frankreich und anderswo eher als eine Art europapolitische „Dicke Bertha“ denn als ernst gemeinte konzeptionelle Antwort verstanden werden dürfte. Immerhin wird Macrons Leitmotiv von der europäi­schen Souveränität aufgegriffen. Das ist indes ein vor allem nach außen in die Welt gerichtetes Konzept, das für die innereuropäische Zukunftsdiskussion wenig aussagt.

Zweitens aber wird es wohl auch künftig für die europapolitische Positionierung Deutschlands zentral auf den Kanzler ankommen. Ob und was Olaf Scholz in Sachen Europa vordenkt, ist unklar. Mit der Sentenz vom Hamilton-Moment anlässlich der EU-Schuldenaufnahme, deutbar als Annahme einer Parallele zur Entstehung der amerikanischen Union, hat er im Frühjahr 2020 Aufsehen erregt. Das alleine geht als überzeugendes Gegenkonzept zu den Neonationalisten indes nicht durch.

Eine Antwort auf Macrons Sorbonne-Rede steht aus. In der Pandemie ist die EU dann ja doch noch sichtbar geworden. Am Ende des zweiten Pandemiejahres hat sich herumgesprochen, dass die EU im Bereich der Gesundheitspolitik deswegen wenig zu melden hat, weil sie von den Mitgliedstaaten ganz absichtsvoll mit mageren Zuständigkeiten ausgestattet wurde. Viel mehr als beobachten, informieren und koordinieren darf die EU nicht.

Entsprechend blass ist das „europäische RKI“, das ECDC (European Centre for Disease Prevention and Control) bisher geblieben. Die Europäische Arzneimittelagentur EMA kennt dafür mittlerweile fast jeder. Nach anfänglichem Ruckeln hat die gemeinsame Impfstoffbeschaffung wohl doch bessere Ergebnisse erbracht als ein nationaler Überbietungswettbewerb. Über die EU ist es gelungen, Wiederaufbaumittel für die Mitgliedstaaten in enormer Höhe zu generieren.

Die Pandemie kümmert Grenzen wenig

In der wechselseitigen Anteilnahme an den jeweils anderen nationalen Entwicklungen ist vielen Unionsbürgern auch die wechselseitige Abhängigkeit in der EU klarer geworden und dass eine weltweit wütende Pandemie sich nicht um Grenzen schert. Zu den Lehren aus der Pandemie wird gehören, dass sich der territoriale Nationalstaat mit seinen Bindungskräften und seinen Machtmitteln alles andere als überwunden gezeigt hat.

Dies wird als Argument für ein Zurück zum Vorrang des Nationalstaates verwendet werden, wie sich in Frankreich im beginnenden Präsidentschaftswahlkampf schon zeigt. Gleichwohl bleibt, was die Neonationalisten propagieren, eine Sackgasse. Es hat sich nämlich auch einmal mehr die relative Machtlosigkeit des Nationalstaates bei globalen Problem- und Gefährdungslagen bestätigt.

Dies gilt nicht nur für pandemische Gesundheitsgefahren, sondern auch für Fragen der Migration, Klimawandel, innere und äußere Sicherheit. Zwar kann europäische Zusammenarbeit auch bedeuten, dass Kompromisse nötig sind und wie auch sonst in der Demokratie andere Mehrheiten ertragen werden müssen, wie aktuell die Taxonomie-Debatte um die Einordnung der Kernkraft belegt.

Auch verfügt das rationale Projekt einer europäischen Rechtsgemeinschaft nicht über die Pathosvorräte des Nationalen und kann in diese Richtung wenig Halt anbieten. Insgesamt dürfte aber am Ende der Pandemie doch für die übergroße Mehrheit die Einsicht stehen, dass wir Europäer aufeinander angewiesen sind und dass es eher mehr als weniger verrechtlichter übernationaler Zusammenarbeit in Europa bedarf. Dieses Momentum gilt es zu nutzen.

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4 Kommentare

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  • 0G
    06438 (Profil gelöscht)

    "---relative Machtlosigkeit des Nationalstaates bei globalen Problem- und Gefährdungslagen....

    .. nicht nur für pandemische Gesundheitsgefahren, sondern auch für Fragen der Migration, Klimawandel, innere und äußere Sicherheit. "

    ===

    Das gilt auch wenn es um wirtschaftliche Prosperität geht, deren Grundlagen die EU sichert. Siehe Artikel "Brexit: „Die größte Katastrophe, die je eine Regierung ausgehandelt hat.“

    www.theguardian.co...as-ever-negotiated

    oder

    ""Für diejenigen, die reuelose "Remainer" sind, ist es beruhigend, dass die breite Öffentlichkeit offensichtlich über die negativen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen des Brexits mittlerweile aufgewacht ist.

    Diese Entwicklung, zusammen mit dem veranstalteten Chaos von Johnsons Regierung, führt momentan zu einer offenen Rebellion innerhalb der Tories und zu Spekulationen über seine Nachfolge.

    Das Problem ist, dass die Kandidaten der Tories alle die gleichen schrägen Ansichten haben: Im Pferderennsport sind sie vom Brexit gezeugt, und ihre Mutter heißt ""Austerity.""

    Der Punkt beim Brexit, wie in Frosts Rücktrittsschreiben von seinem Posten als Chefunterhändler betont wurde, ist, dass Brexit ein neoliberaler Coup war, UK zu „einer leicht regulierten, steuerarmen Wirtschaft zu machen.

    www.theguardian.co...ds-of-the-red-wall

    Klartext: Brexit war ein neoliberaler Coup der zwangsweise zu einer weiteren Verschärfung der Austeritätspolitik in UK führen wird.

    Was ich mir wünsche?



    Mehr Beiträge von Franz Mayer denn die Befürworter des Brexits aus dem linken Lager haben nun fertig.

    Ansonsten - ob Orban in Ungarn das Jahr 2022 politisch überleben wird werden wir sehen, PIS in Polen dto..

    Ansonsten wird der Ausgang der Wahlen in Frankreich im Frühjahr im Wesentlichen entscheiden, welche EU - Politik in den nächsten Jahren möglich sein wird.

  • Ein für mich besonders wichtiger Satz in diesem kenntnisreichen Essay:



    „Es hat sich nämlich auch einmal mehr die relative Machtlosigkeit des Nationalstaates bei globalen Problem- und Gefährdungslagen bestätigt.“



    Grenzen stören in der gobalisierten Wirtschaftswelt, orchestrieren aber natürlich das geopolitische Machtgeschehen. Und sie markieren die historisch entwickelten Territorien als „Heimat“ für ihre Bewohner/Konsumenten mit all den dazu gehörenden Ansprüchen und Forderungen.



    Das rational nicht zu lösende Problem: Pandemien, Klimawandel, Neoliberalismus halten sich nicht an Grenzziehungen, übrigens auch die neu aufgelegte Energiequelle aus den zahlreichen AKWs nicht. Wenn sie dann überraschend den Mythos von ihrer Beherrschbarkeit durch einen Gau widerlegt: (Europäische) Menschheit perdu! Aber das wußten wir doch schon lange...

    • @Beate Homann:

      Grenzen befördern Pandemien, ebenso wie Nationalismus das tut und Regionalismus desgleichen.



      Wer das Pandemiegeschehen anschaut, wird unschwer feststellen, dass unterschiedliche Massnahmen in verschiedenen Regionen immer dazu führen, dass die Leute sich dorthin begeben, wo die Regeln am lockersten gehandhabt werden. Sie bringen ein paar Viren mit, so dass im vormalig liberalen Land plötzlich gelockdownt wird, dann zieht die Herde eben weiter.



      Im Herbst 2020 war Curacao das einzige für Niederländer zugängliche Urlaubsland. Zu Weihnachten war es Corona Hotspot. In der Weihnachtszeit 2021 trugen die Holländer das Virus nach Belgien etc.pp. die Liste ist unendlich und liesse sich beliebig durch Nennung der unterschiedlichen Regeln in den Bundesländern Deutschlands verlängern.



      Irgendwo stehen immer irgendwelche Wahlen an, und der Populist, der seinen Ministerpräsidentenposten behalten will, geriert sich als Corona Erlöser. Als Beispiel möchte ich nur unseren holländischen MP nennen, der keine Koalition zustande brachte und deshalb in der Rolle als strahlender Held mal eben das Ende der Pandemie im Juni 2020 erklärte. Im Juli kollabierten die niederländischen Krankenhäuser. Dass ist genau die Art der Kleingeistigkeit, die uns nicht nur in die Krise geführt hat, sondern auch darin festhält. Egoismus ist ja nur die mikrokospische Form des Nationalismus. Wenn nicht alle an einem Strang ziehen, bleibt die Seuche unbeherrschbar. Bei der Zerstrittenheit der EU und UNO dürfen wir uns also auf sechste und siebte Coronawellen sowie auf weitere Epidemien freuen.



      Die Rückkehr zum Nationalismus erscheint wie eine Panikreaktion, die alles nur verschlimmert. Schade, dass es keinen Instinkt gibt, der die Menschen veranlasst, in der Not zusammen zu halten, wenn die Gefahr nicht unmittelbar sichtbar ist. Wird die Eifel sichtbar überflutet, helfen viele, bleibt die Ursache dafür ungreifbar bzw. unsichtbar und viel zu komplex, wird sie verleugnet, ignoriert und auf Morgen verschoben.

  • "...dass wir Europäer aufeinander angewiesen sind" das mag wohl stimmen, hat aber nichts mit der EU zu tun.



    Die EU ist und bleibt am Besten eine Wirtschaftsunion. Wie sich zeigt, ist sie nur handlungsfähig über das Gewähren oder Entziehen von Geldern.



    Der Rest hat mit Demokratie auch wenig zu tun.