Berichterstattung im Nahost-Konflikt: „Israel nimmt Journalisten gezielt ins Visier“
Mindestens 128 Journalisten wurden im aktuellen Krieg getötet. Israel gehe systematisch gegen die Presse vor, sagt CPJ-Präsidentin Jodie Ginsberg.
taz: Frau Ginsberg, seit Beginn des Krieges in Gaza wurden mehr Journalisten getötet als in jedem anderen Konflikt, seit Ihr Komitee solche Fälle dokumentiert. Woran liegt das?
Jodie Ginsberg: An der Art und Weise, wie dieser Krieg geführt wird. Der Gazastreifen ist ein sehr kleines Gebiet, es gibt wahllose Bombardierungen und kaum sichere Orte. Auch Orte wie Krankenhäuser und Flüchtlingslager, die Journalisten während eines Krieges oft aufsuchen, um von dort zu berichten, wurden angegriffen. Darüber hinaus gibt es mehrere Fälle, in denen wir glauben, dass Journalisten absichtlich ins Visier genommen wurden.
46, ist seit 2022 Geschäftsführerin des Komitees zum Schutz von Journalisten. Das CPJ wurde 1981 in den USA gegründet, um die Pressefreiheit und die Rechte von Journalisten zu verteidigen.
taz: Nimmt die israelische Armee Journalisten systematisch ins Visier?
Ginsberg: Uns sind mindestens fünf Fälle bekannt, in denen Journalisten gezielt ins Visier genommen wurden, und wir untersuchen mindestens zehn weitere Fälle von gezielter Tötung. Aber die Zahl könnte weitaus höher sein.
taz: Die vorsätzliche Tötung von Journalisten ist ein Kriegsverbrechen …
Ginsberg: Eine der Schwierigkeiten in diesem Krieg besteht darin, die Informationen zu bekommen, die wir brauchen, um festzustellen, ob jemand absichtlich als Journalist angegriffen wurde. Was wir sagen können, ist, dass Israel systematisch versucht, Berichterstattung aus und über den Gazastreifen zu unterdrücken. Dazu gehören auch die willkürlichen Verhaftungen von Journalisten und die Angriffe auf Medienhäuser – wie das im Mai verabschiedete Gesetz, das die Regierung ermächtigte, die Büros von Al Jazeera in Jerusalem und Ramallah zu schließen.
taz: Sie gehen von mindestens 128 Journalisten aus, die seit dem 7. Oktober 2023 getötet wurden. Reporter ohne Grenzen haben mindestens 130 Fälle gezählt, der Internationale Journalistenverband (IJF) mindestens 140, andere sogar über 175. Warum gibt es unterschiedliche Zahlen?
Ginsberg: Verschiedene Organisationen haben verschiedene Methoden, wie sie zählen und wen sie als Journalisten definieren. Wir brauchen mindestens zwei Quellen, um zu überprüfen, ob jemand ein praktizierender Journalist war oder nicht, und um zu bestätigen, wie er oder sie getötet wurde. Wir verbringen viel Zeit damit, sicherzustellen, dass unsere Informationen korrekt sind. Deshalb sind unsere Zahlen nicht immer genau gleich. Und das ist nicht nur in Gaza so, sondern auch anderswo. Im Moment brauchen wir aufgrund der Lage dort sehr lange, alle Angaben zu überprüfen. Das ist wichtig, weil es für spätere Untersuchungen von Kriegsverbrechen relevant sein kann.
taz: Unter den Opfern sind auch Mitarbeiter von Al Aqsa TV, dem TV-Sender der Hamas, oder von Palestine TV, das der palästinensischen Autonomiebehörde nahesteht. Manche würden sie als Propagandisten bezeichnen. Wie stehen Sie dazu?
Ginsberg: Um zu entscheiden, ob jemand Journalist ist, schauen wir uns seine Arbeit an: Berichtet er auf der Grundlage von Fakten oder nicht? In vielen Teilen der Welt gibt es Mitarbeiter von Medien, die von einigen als Propagandaorgane angesehen werden, die wir in unsere Liste der getöteten und verletzten Journalisten aufnehmen. Es gibt die Redensart: der Terrorist des einen ist der Freiheitskämpfer des anderen. Für uns ist es sehr wichtig, kein Urteil darüber zu fällen, welche Medien gut oder schlecht sind. Denn viele autoritäre Regime, etwa Russland, betrachten unabhängige Medien generell als Propagandaorgane.
taz: Vor zwei Wochen wurde in Gaza der 19-jährige Journalist Hassan Hammad getötet. Zuvor soll er über Whatsapp von einer israelischen Nummer Morddrohungen erhalten haben. Ist das ein Einzelfall?
Ginsberg: Nein. Bereits Ende vergangenen Jahres haben wir von Fällen berichtet, in denen Journalisten diese Art von Warnungen erhielten – etwa, dass ihre Wohnung angegriffen würde.
taz: Werden auch ihre Familien absichtlich ins Visier genommen? Der bekannte Al-Jazeera-Reporter Wael al-Dahdouh verlor 25 Angehörige bei einem israelischen Luftangriff Ende Oktober 2023. Zuvor waren sie aufgefordert worden, ihr Haus zu verlassen.
Ginsberg: Es ist durchaus möglich, dass dies beabsichtigt war. Das kann man nicht mit absoluter Gewissheit sagen. Aber wenn man sich ansieht, wie Journalisten gewarnt werden und ihre Häuser, in denen ihre Familien leben, bombardiert werden, kann man zu diesem Schluss kommen.
taz: Zwei Monate später, im Januar 2024, wurde sein Sohn Hamza al-Dahdouh und dessen Kollege Mustafa Thuria durch einen gezielten israelischen Drohnenangriff getötet. Die israelische Armee erklärte später, die beiden seien „Terroristen“ gewesen.
Ginsberg: Auch das ist ein Muster, das wir immer wieder sehen und das wir schon 2022 in unserem Bericht „tödliches Muster“ kritisiert haben. Entweder Israel leugnet jede Verantwortung oder behauptet, dass in der Nähe geschossen oder gefeuert wurde. Oder es wird behauptet, dass der getötete Journalist ein Terrorist war.
taz: Wie können Sie ausschließen, dass einige der getöteten Journalisten tatsächlich in Terror verwickelt waren?
Ginsberg: Wir sind nicht die CIA oder ein anderer Geheimdienst. Aber wenn wir glaubwürdige Informationen erhalten, die belegen, dass jemand ein Terrorist war, dann würden wir ihn von unserer Liste streichen. Wir nehmen keine Personen auf, die in militante Aktivitäten verwickelt sind. Aber in keinem der Fälle auf unserer Liste hat Israel einen glaubwürdigen Beweis für diesen Vorwurf vorgelegt. In einem Fall haben sie sogar behauptet, dass jemand im Alter von zehn Jahren ein Mitglied der Hamas gewesen sein soll. Die Verleumdung von Journalisten als Terroristen ist eine bewusste Taktik, um Zweifel zu säen und deren Glaubwürdigkeit zu untergraben. Das sehen wir bei autoritären Regimen immer wieder – und auch bei Israel.
taz: Bereits am 13. Oktober 2023, vor dem aktuellen Einmarsch, nahm die israelische Armee sieben Journalisten im Südlibanon ins Visier. Der Reuters-Videojournalist Issam Abdallah wurde getötet, die AFP-Fotografin Christine Assi verlor ein Bein. Trotz erdrückender Beweise für ein Kriegsverbrechen gab es bis heute keinerlei Konsequenzen. Warum nicht?
Ginsberg: Der Fall wurde von verschiedenen Seiten untersucht. Sie alle kamen zu dem Schluss, dass Israel gewusst haben muss, dass es sich um Journalisten handelte, und sie absichtlich ins Visier nahm. Ihr Kollege Dylan Collins, ein US-Bürger, meldete den Angriff der US-Botschaft in Beirut, während er sich im Krankenhaus von seinen Verletzungen erholte, die er bei dem Angriff erlitten hatte. Bis heute haben die USA trotz der erdrückenden Beweislage keine Untersuchung des Angriffs angekündigt. Wir wissen immer noch nicht, was Israel in diesem Fall getan hat, welche Einheit beteiligt war und wer den Befehl gab.
taz: Erkennen Sie darin ein Muster?
Ginsberg: Ja, wir haben bereits im Mai 2022 einen Bericht erstellt, der den Titel „tödliches Muster“ trug. Darin haben wir festgestellt, dass die israelische Armee in den letzten 22 Jahren 20 Journalisten getötet hat – und nie wurde jemand dafür zur Rechenschaft gezogen. Ja, es gibt ein Muster: Journalisten werden von Israel ins Visier genommen und getötet. Und niemand wird dafür zur Rechenschaft gezogen.
taz: Die prominente Al-Jazeera-Reporterin Shirin Abu Akleh wurde im Mai 2022 im Westjordanland von einem israelischen Soldaten erschossen, als sie aus Dschenin berichtete. Sie war US-Staatsbürgerin. Was tun die USA, um dagegen vorzugehen?
Ginsberg: Israel behauptet, dass es sich zur Pressefreiheit bekennt, aber seine Handlungen sprechen eine andere Sprache. Leider gibt es von der internationalen Gemeinschaft keinen Druck auf Israel, Konsequenzen zu ziehen. Es scheint, als ob Israel einen Blankoscheck hat.
taz: Was können Sie Druck auf die US-Regierung ausüben, damit sich das ändert?
Ginsberg: Wir drängen die US-Regierung, alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, um Druck auf Israel auszuüben. Wir schlagen weiterhin Alarm und dokumentieren diese Fälle, um das Bewusstsein zu schärfen und zu zeigen, dass das, was Israel sagt, und das, was es tut, nicht übereinstimmen.
taz: Seit dem Krieg hat Israel mindestens 66 palästinensische Journalisten verhaftet, die meisten im Westjordanland. Über 40 sind immer noch in Haft und werden nach dem israelischen Verwaltungshaftgesetz, das eine unbegrenzte Haft erlaubt, ohne Anklage festgehalten. Was können Sie tun, um ihnen zu helfen?
Ginsberg: Das ist extrem schwierig. Viele dieser Personen wurden willkürlich inhaftiert. Wir wissen nicht, wie die Anschuldigungen lauten, und wir wissen auch nicht immer, wo sie festgehalten werden. Wir versuchen, diesen Menschen rechtlichen Beistand zu leisten. Aber die Anwälte sind völlig überfordert und das Rechtssystem ist völlig überlastet. Was wir darüber hinaus tun können, ist, diese Fälle zu dokumentieren und zu berichten.
Die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ hat beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) vier Strafanzeigen wegen Kriegsverbrechen gegen Medienmitarbeiter in Gaza eingereicht, die letzte am 24. September 2024. Al Jazeera hat ebenfalls Anzeige erstattet. Sie auch?
Ginsberg: Das ist derzeit nicht unsere Priorität. Aber wir wissen, dass ein Großteil der von uns erstellten Dokumente von anderen in ihren Stellungnahmen verwendet werden. Der Chefankläger des IStGH hat ein Gremium von Völkerrechtsexperten einberufen, um einen IStGH-Haftbefehl zu unterstützen. Viele unserer Recherchen sind in die Unterlagen eingeflossen, die von diesem Gremium geprüft wurden, und wir sammeln weiterhin Beweise, die in künftigen Eingaben verwendet werden können.
taz: Keiner der 4.000 Journalisten aus aller Welt, die sich in Israel akkreditiert haben, um über den aktuellen Krieg zu berichten, darf in den Gazastreifen. Was hat das für Folgen?
Ginsberg: Je weniger Journalisten in der Lage sind, die Situation zu dokumentieren, desto weniger werden wir in der Lage sein, zu sehen, was wirklich in Gaza passiert. Je mehr Journalisten getötet und inhaftiert werden und je länger die Menschen dort ohne Nahrung, Treibstoff, Unterkunft und medizinische Versorgung sind, desto weniger Informationen werden wir erhalten – weil sie die einzigen sind, die diese Bilder liefern können. Das könnte diese Tragödie verlängern.
taz: Erhalten die Kriegsverbrechen in Gaza genug Aufmerksamkeit?
Ginsberg: Nein, ich finde, es wird nicht genug darüber berichtet, und das Problem erhält auch nicht annähernd genug Aufmerksamkeit. Es wird zum Teil heruntergespielt, oder es wird eine verharmlosende Sprache verwendet. Ich glaube, dass sich manche Leute zum Teil scheuen, die Gräueltaten, die begangen werden, beim Namen zu nennen, weil sie fürchten, als antisemitisch gebrandmarkt zu werden, wenn sie das tun. Aber leider sind die Fakten und das Bild unbestreitbar.
Wiegt der Vorwurf des Antisemitismus wirklich so schwer?
Ginsberg: Sehen Sie, was mit der New York Times passiert ist, nachdem sie darüber berichtet hat, das israelische Soldaten Kindern in den Kopf oder die Brust geschossen haben sollen? Allein das Ausmaß der Kritik, das sie dafür erhalten hat, erklärt zum Teil, warum die Leute vorsichtig sind.
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