Berg-Karabach in Deutschland: „Frieden Für Artsakh“
In Berg-Karabach fallen die Bomben. In Berlin schreien Menschen nach Frieden. Armenier*innen in Deutschland bleibt nur die Demo.
Vom Neptunbrunnen marschieren die Demonstrant*innen über die Straße Unter den Linden bis zum Brandenburger Tor. „Erdoğan Terrorist“, rufen sie und „Aliyev Terrorist“. Sie fordern ein „Ende der Expansion autoritärer Regime“. Vor allem die armenische Community ist alarmiert.
Seit Samstagmittag gilt eine Feuerpause zwischen den beiden Südkaukasusrepubliken Armenien und Aserbaidschan im Kampf um Berg-Karabach. Diese war zwischen den Außenministern Armeniens und Aserbaidschans unter der Ägide des russischen Außenministers Sergej Lawrow in mehr als zehnstündigen Gesprächen in Moskau ausgehandelt worden. Die Waffenruhe soll dazu genutzt werden, um Kriegsgefangene auszutauschen und die Körper toter Soldaten an ihre Heimat zu übergeben.
Am späten Samstagnachmittag gibt es Berichte, wonach die Waffenruhe nicht gehalten hat. Stattdessen kommt es erneut zu schweren Kämpfen.
Der lange Krieg in der Heimat
Anusch Petrojan, die an dem Marsch teilnimmt, ist trotzdem skeptisch. „Die Waffen werden nicht schweigen“, sagt sie. Ihre Sorgen sind begründet. Die Chronologie dieses Konfliktes beweist das. Es gibt kein Vertrauen zwischen den Bevölkerungen der beiden Ex-Sowjetrepubliken. Hass und Rache prägen den Alltag.
Schrift auf einem Demo-Plakat
Die 35-jährige Armenierin ist heute aus der Lutherstadt Wittenberg nach Berlin gekommen. Die Sozialpädagogin arbeitet mit jungen Geflüchteten in ihrer Stadt. „Wir dürfen die Traumatisierung durch Krieg und Flucht nicht unterschätzen. Es ist grausam. Ich kämpfe jeden Tag dagegen an. Auch deswegen bin ich hier“, sagt sie. „Durch türkische Militäraktionen würden erneute Fluchtbewegungen verursacht“, fügt sie hinzu. Sie habe sich in den letzten Tagen überlegt, ob sie nach Armenien zurückkehre, um bei ihrer Familie zu sein. „Das wäre aber auch keine Lösung“, sagt sie. Sie schickt Geld nach Hause und spendet für humanitäre Hilfe in ihr Heimatland.
Auf beiden Seiten gibt es mittlerweile zahlreiche Tote und Verletzte. Beide Länder mobilisieren weiterhin unter den einsatzfähigen Bewohnern. Der Territorialkonflikt um das heute von Armenier*innen bewohnte Gebiet Berg-Karabach, das zu Sowjetzeiten der Teilrepublik sowjetischem Aserbaidschan zugeschlagen worden war, schwelt seit über 30 Jahren. Ein Krieg Anfang der 1990er-Jahre, in dem unterschiedlichen Schätzungen zufolge zwischen 25.000 und 50.000 Menschen getötet und über 1,1 Millionen vertrieben wurden, mündete 1994 in einen Waffenstillstand, der aber immer wieder gebrochen wird.
Appell an die Gruppe-Minsk
Das Verhandlungsformat für eine mögliche Konfliktlösung ist nach wie vor die Minsk-Gruppe der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Seit 1992 versucht die Minsker Gruppe zu vermitteln. Ihr gehören Russland, die USA und Frankreich an. Deswegen führen die Demonstrant*innen auch die Flaggen dieser drei Staaten mit sich.
Eine klare politische Position, so wie in Frankreich, wünschen sich Armenier*innen auch in Deutschland. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte klare Worte über Kriegsverbrechen gegen Armenien und Berg-Karabach gefunden und die türkische Aggression verurteilt. Ein Mann hält ein großes Plakat hoch. Darauf steht: „Wann endet die deutsch-türkische Militärromanze?“
Edgar Kandratjan, Berliner Designer aus Armenien
„Während des Ersten Weltkriegs führte die Türkei ethnische Säuberungen im Osmanischen Reich durch. Deutschland schaute damals zu. Als die Türkei Kurd*innen und Jesid*innen im Irak und in Syrien verfolgte, haben die Deutschen davor die Augen verschlossen“, sagt Berivan Dasni von der jesidischen Gemeinde Berlin. „Das alles nimmt kein Ende, weil Deutschland weiter Waffen an das Erdoğan–Regime liefert.“
Ein Mann läuft mit einem Plakat herum, darauf steht: „Kinder sollen in der Schule sein, nicht im Bunker“. „Frieden Für Artsakh“ (armenische Bezeichnung für Berg-Karabach, Anm. d. Red.), rufen die Menschen.
Der Fall Türkei
Vor 12 Jahren ist Edgar Kandratjan aus Armenien nach Deutschland gezogen. Er arbeitet als Designer in Berlin, aber jetzt fühlt er sich hier fremd. „Ich bin nur physisch anwesend“, sagt er. „Mein Herz und meine Seele sind jetzt in Armenien.“ Auch sein Bruder kämpft in Berg-Karabach. „Gegen Terroristen, die von der Türkei an die Front geschickt worden sind als Unterstützung für das ‚aserbaidschanische Brudervolk‘“, sagt er. Es ist unstrittig, dass syrische Söldner in Berg-Karabach im Einsatz sind. „Aber Europa beschäftigt sich nur mit sich selbst“, sagt er.
Allein aufgrund der geografischen Lage Armeniens fühlen sich viele Armeniern*innen bedroht. Bis heute leugnet die Türkei den Völkermord an den Armenier*innen 1915 und hält die Grenze zum Nachbarn im Westen geschlossen. An der Ostgrenze des Landes explodieren Bomben.
Wer auf der Demonstration fragt, ob Frieden anstatt Berg-Karabach vorstellbar ist, wird beschimpft. Es gehe um die Existenz Armeniens und nicht einfach um Nationalstolz, sagen viele Demonstrant*innen. Sie nehmen die Rede des aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew als weitere Drohung wahr, in der er unlängst sagte, dass auch die armenische Hauptstadt Jerewan historisch zu Aserbaidschan gehöre.
„Aserbeidschanische Soldaten sprengen armenische historischen Kirchen in die Luft“, sagt Ani Chakarjan. Während der Kämpfe am 8. Oktober wurde die Kathedrale Christi des Heiligen Retters aus dem 19. Jahrhundert in der Stadt Schuschi in Berg-Karabach zweimal von Aserbaidschan unter Beschuss genommen. Das hat die Armenier*innen als eine der ältesten christlichen Nationen besonders betroffen gemacht. „Das ist nichts anderes als Vandalismus“, sagt Chakarjan. „Doch wir werden siegen und nicht schweigen, bis die Gerechtigkeit siegt“.
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