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Gefechte um Berg-Karabach„In Richtung Front“

Tausende Armenier*innen wollen sich an Kämpfen um die Kaukasusregion beteiligen. Die Stadt Jerewan zwischen Blutspenden und verzweifelten Feiern.

Abschiedsszenen in Jerewan: Wehrpflichtige vor der Abfahrt nach Nagorno-Karabach Foto: Foto: Stepan Poghosyan/reuters

Berlin taz | „Wir ziehen in den Krieg, passt bitte auf euch auf!“ Mit solchen Worten geben viele in Armenien in diesen Tagen auf Facebook bekannt, dass sie an die Front fahren. Auch Araxe Manucharyan bekommt diese Nachricht von ihrem Cousin und von Freunden. „Mit ihnen lässt sich nicht mehr diskutieren“, sagt sie. „Sie sind weg, und wer weiß, ob ich sie wiedersehe.“

Es ist fast Mitternacht in der Stadt Sewan, etwa 60 Kilometer von der armenischen Hauptstadt Jerewan entfernt. Manucharyan schläft nicht. Die 28-Jährige schläft seit Tagen sowieso kaum, erzählt sie bei einem Videoanruf der taz. Sie kann die Tränen nicht zurückhalten, als sie sagt: „Wenn die Zeit kommt, werde ich mich auch auf den Weg in Richtung Front machen.“ Sie sagt aber auch: „Für den Frieden.“

Seit vier Tagen toben heftige Kämpfe um die Region Berg-Karabach, die auf aserbaidschanischem Staatsgebiet liegt, aber mehrheitlich von Armenier*innen bewohnt und kontrolliert wird. Auf beiden Seiten gibt es zahlreiche Tote und Verletzte und beide Länder mobilisieren weiterhin einsatzfähige Bewohner, während der UN-Sicherheitsrat am Dienstagabend noch die Rückkehr zu Verhandlungen gefordert hatte. In Armenien wird weiterhin ein Foto hundertfach in den sozialen Medien geteilt: Darauf zu sehen sind Großvater, Vater und Sohn, die gemeinsam in den Kampf ziehen.

Ein Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region hatte Anfang der 1990er Jahre 25.000 bis 50.000 Tote gefordert, über 1,1 Millionen Menschen wurden vertrieben. Seitdem schwelt der Konflikt. Manucharyan wurde 1992 während des Krieges geboren. Sie war ein Baby, als ihre Mutter mit ihren Kindern in den Bunker flüchtete und sie dort in Sicherheit brachte. Manucharyans älterer Bruder starb vor einigen Jahren bei Gefechten in Berg-Karabach. „Wir sind müde vom Krieg“, sagt sie.

Schlangen vor den Krankenhäusern

Ihr Leben in Armenien hat sie sich eigentlich anders vorgestellt. Vor einigen Monaten schloss sie in den USA ihr Studium an der Harvard-Universität ab und kehrte in die Heimat zurück. An einer Hochschule in Jerewan lehrt sie Wirtschaftswissenschaft.

Ihre Studierenden kommen in den letzten Tagen oft zu spät zum Unterricht. Sie spenden Blut, sagen sie. Stundenlang stehen sie dafür Schlange, wie auch Videos in den sozialen Medien zeigen. Auch vor den Krankenhäusern in Jerewan versammeln sich Menschen: Sie wollen wissen, wie es den verletzten Soldaten und Zivilisten geht. Unaufhörlich tönen die Sirenen der Krankenwagen und Rotoren der Hubschrauber, erzählen sie. An zentralen Plätzen der Hauptstadt sammeln Aktivist*innen unterdessen Kleidung, Geld und Zigaretten, um sie an die Front zu schicken.

Auch im Süden des Nachbarlands Georgien, wo viele Armenier*innen wohnen, melden sich Freiwillige. Tausende sollen sich in der Nacht zu Dienstag an der Grenze versammelt haben – die Georgien aber geschlossen hatte. Auch Güter wie Lebensmittel, Medikamente und alte Autoreifen für die Schützengräben ließen die georgischen Behörden nicht passieren. Mittlerweile haben sie grünes Licht gegeben.

In Berg-Karabach selbst stehen bereits einige Ortschaften verlassen da, Frauen und Kinder verstecken sich in Bunkern oder sind nach Armenien geflohen. Dort haben einige Hotels Zimmer zur Verfügung gestellt, und über Facebook melden sich Nutzer*innen, die ein Zimmer frei haben. Auch Manucharyans Familie beherbergt eine Frau mit ihren zwei Kindern, von denen eines an Asthma leidet. Der Aufenthalt in einem stickigen Bunker hätte die Krankheit verschlimmert.

Hat Manucharyan Angst? „Nein.“ Vielmehr sei sie wütend. „Ich bedaure, dass ein Physiklehrer wegen der Kämpfe seine Dorfschule zurücklässt“, sagt sie, „und dass einer der besten Saxofonisten in unserem Land sein Instrument nicht mehr spielt.“

„Es gibt eine Tradition bei uns“, erzählt Manucharyan weiter. „Bevor der Sohn zur Armee geht, feiert die Familie ein großes Fest.“ Am Tag zuvor war sie bei einem Nachbarn. „Wir haben viel getanzt und geweint“, berichtet sie. „Vielleicht, weil sie nicht mehr zurückkommen?“

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17 Kommentare

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  • Warten auf Russland um Erdogan in den Griff zu bekommen ?

  • die russische föderation sollte zum zweck der abschreckung truppen in armenien stationieren um alle armenier*innen einschliesslich derer die in bergkarabach wohnen vor der von der türkei unterstützten aggression zu schützen







    die eu sollte der türkei signalisieren dass die fortgesetzte unterstützung der aggression das ende aller wirtschaftlichen beziehungen zur folge hat

    die nato sollte der türkei signalisieren dass sie aus dem bündnis ausgeschlossen wird-wenn sie ihre unterstützung für die aggression nicht einstellt

    • @satgurupseudologos:

      3.000 russische Soldaten sind in Armenien dauerhaft stationiert und das seit Jahrzehnten.

      en.m.wikipedia.org...02nd_Military_Base

      Von ihrer Basis in Gjumri, das ist an der Grenze zur Türkei, sind es 270 km Luftlinie bis nach Stepanakert, der Haupstadt in Berg-Karabach.

      www.luftlinie.org/...RM/Stepanakert,AZE

      Die Nato signalisiert der Türkei ganz sicher nicht, das sie rausgeschmissen wird. Das sieht der Nordatlantikvertrag nicht vor, die Türkei kennt die Grundlagen ebenfalls und etwas anzudrohen, was man nicht umsetzen kann, macht einen komplett unglaubwürdig.

      Außenpolitische Geisterfahrer wie Rolf Mützenich haben so etwas schon vorgeschlagen.

      Hier nochmal zum nachlesen, Stellungnahme des wissenschaftlichen Dienstes des BT dazu.

      "Der NATO-Vertrag vom 4. April 1949



      sieht in Art. 13 NATO-Vertrag lediglich eine Regelung



      über die Kündigung des Vertrages vor, die jedem NATO-Mitgliedstaat die Möglichkeit zum Aus-



      tritt aus der Allianz ermöglicht. Eine Regelung über den Ausschluss eines Mitgliedstaates aus



      dem Verteidigungsbündnis sieht der NATO-Vertrag dagegen nicht explizit vor."

      WD 2 – 3000 – 011/18

    • 9G
      90564 (Profil gelöscht)
      @satgurupseudologos:

      rein "völkerrechtlich" besetzt armenien ein teil azerbeidschans, wundert ein bissl, dass das in der taz bei einigen kein kritisches nachdenken über dieses "völkerrecht" auslöst, die "besatzungstruppen" sind offensichtlich die falschen

      • @90564 (Profil gelöscht):

        zum völkerrecht gehören auch die menschenrechte

        schauen Sie sich doch mal an um was für einen staat es sich bei aserbaidschan handelt

        der türkische und der aserbaidschanische nationalismus sind so übel dass man es nicht verantworten kann ihm teile des armenischen volkes auszuliefern

        Ich kritisiere zwar den begriff des kulturellen völkermordes-der in dem artikel des guardian über die aserbaidschanische zerstörung von armenischen friedhöfen kirchen und anderen zeugnissen der armenischen kultur vorkommt-weil er mir den begriff des völkermordes zu relativieren scheint



        aber ansonsten ist der artikel lesenswert und macht deutlich um was für ein übles nationalistisches regime es sich bei dem aktuellen aggressor handelt

        www.theguardian.co...genocide-khachkars

        • 9G
          90564 (Profil gelöscht)
          @satgurupseudologos:

          dass ist mir völlig klar, ändert aber eben nichts an der völkerrechtlich eindeutigen lage, dass armenien völkerrechtswidirig azerbeidschanisches staatsgebiet besetzt hat. in einem anderem, ähnlichen konflikt interessiert sie normalerweise die genozidale rhetorik nicht so besonders

          • @90564 (Profil gelöscht):

            welchen "anderen ähnlichen konflikt " meinen Sie?

            dass müsste Ich schon wissen um prüfen zu können ob Ihre kritik berechtigt ist oder nicht

            "den begriff des kulturellen Völkermordes" verwende Ich grundsätzlich nicht--unabhängig davon worauf er bezogen wird .Ich mag auch den begriff des "kulturellen Rassismus" nicht.kultur ist ein schwammiger und unklarer diffusser beliebig interpretierbarer begriff und es erscheint mir nicht als angemessen jemanden der keinen mord begangen sondern beispielsweise eine bibliothek angezündet oder eine skulpturensammlung zerstört oder im kunstmuseum randaliert und ein gemälde beschädigt hat als mörder zu bezeichnen



            wenn es so etwas wie kulturellen rassismus gäbe "wäre Ich selber ein kultureller rassist weil mir beispielsweise der sogenannte deutsche kulturprotestantismus missfällt und Ich keine besonders hohe meinung von der sogenannten "deutschen hochkultur "habe und die meisten deutschen "dichter und denker " nicht mag oder sogar verabscheue



            kultur muss kritisierbar sein-und darum sollte der begriff des kulturellen rassismus besser nicht verwendet werden.



            Ich finde zum beispiel dass kastensystem in indien dysfunktional ungerecht und menschenunwürdig und meine dass die indische kultur ohne diesen fehler eine bessere wäre.das bedeutet aber nicht dass Ich jede inderin / jeden inder diskriminiere



            auch meine verachtung für den amerikanischen kult um revolverhelden ist nicht rassistisch

            im übrigen habe Ich gar nicht behauptet dass die türkei oder aserbaidschan zur zeit vorhaben einen völkermord zu begehen.Ich behaupte nur dass die türkei die osmanische vergangenheit- leugnet oder beschönigt und verharmlost in der es einen solchen gab-an dem übrigends auch kurdische und aserbaidschanische täter beteiligt waren

            dass der türkische nationalismus seine vergangenheit leugnet ist ein teil der heutigen problematik

            wie sollen armenier*innen der türkei trauen solange diese sich nicht mit ihrer vergangenheit auseinandergesetzt hat

  • Es könnte einem, falsch, mir die Tränen in die Augen treiben, wenn ich das aus der Ferne verfolge.



    Welche Ziele verfolgen die großen Player(Scheißwort)?



    Diese Gefechte um Berg Karabach passieren nicht zufällig. Wieviel Leid, wieviel tote Menschen, werden kalt, zynisch, menschenverachtend für irgendwelche, ja was eigentlich, geopfert!?



    Uralt Erinnerungen kommen wieder hoch. Dieser Artikel von dem Reiseleiter, speziell über Baku, Aserbaidschan haut in seiner Erinnerung trotz des sich alles veränderten Geschehens voll rein.

    research.uni-leipz...itzeugen/zz180.htm

    Ich frage mich ob der letzte Absatz...Als ich bei der Dolmetscherin vorfühlte, wie man das werten kann... heute noch Gültigkeit hat.

    • @Ringelnatz1:

      Naja, so unlogisch ist das nicht von Aserbaidschan.

      Sie sind der wesentliche stärkere Part, Armenien ist zusätzlich schwer von Corona gebeutelt und seit dem letzten Regierungswechsel ist Russland auf Distanz zu Jerewan und Europa und die USA sind aktuell mit sich selbst beschäftigt.

      Freunde meines Bruders sind Armenier und die haben dazu mal folgendes gesagt, das scheint so ein Spruch zu sein.

      Für Aserbaidschan ist Nagorno-Karabakh eine Sache des Nationalstolzes, für Armenien eine Sache von Leben und Tod.

      • @Sven Günther:

        Danke für die Antwort.

        Übrigens auch für die Schreibweise Nagorno-Karabakh.

        Jetzt versuche ich ihren letzten Absatz, für mich, auseinander zu nehmen



        Nationalstolz-Sache von Leben und Tot.



        Da sie näher dran sind. Meinung?

        • @Ringelnatz1:

          Nein, an Armenien oder Aserbaidschan habe ich nur allgemeines Interesse und was man hier so in Frankfurt aus der Diaspora hört, wobei ich nur Armenier kenne.

          Hier muss ich etwas etwas ausholen, ich komme beruflich etwas durch die Welt und bin es früher mit der Bundeswehr, dazu habe ich als Jude persönlich Verwandte in Israel und einigen weiteren Staaten.

          Schauen Sie, ich war früher im Kosovo und mal in Zivil auf dem Amselfeld. Genau da wo Milosevic seine Rede gehalten hat. Für mich war das ein Acker mit Steingebäuden, für Serben, die ich kennengelernt habe, ist das ein mythischer Ort, ihn zu verlieren war praktisch ein körperlicher Schmerz.

          Da gibt es nichts, was materiell wertvoll ist, aber es ist Teil des nationalen Mythos, wir haben hier Europa verteidigt.

          Das scheint in Nagorno-Karabakh für beide Seiten auch so zu sein.

          Und ich kenne das auch persönlich, fragen sie nicht warum, aber ich war als junger Erwachsener mit meiner Tante und weiteren Verwandten in Masada, auch so ein "mythischer" Ort. Keine Ahnung warum, aber die Reiseleiterin erzählte und ich fing an zu weinen, nennen Sie es historische Ergriffenheit.

          • @Sven Günther:

            Absolut nachvollziehbar.

            Wie soll ich schreiben. Ein GDR sozialisierter Atheist ,jetzt seit einiger Zeit;-) Bundesbürger, hat gerade festgestellt, das in einem guten Dialog Meinungsaustausch wirklich was bringt.

            Ich schaue gerne N24, Weltall, Wissenschaft usw.

            Ich weiß nicht mehr genau wann, einen Bericht über Masada habe ich auch gesehen.

            de.wikipedia.org/w...rial_21-Masada.jpg

            Das ist, als wenn ich aus dem Planetarium(Jena!) komme, dann dauert es eine Weile, bis der Alltag wieder zurück ist.

      • @Sven Günther:

        Und zum Reisebericht, ich war zwar nie in Aserbaidschan, aber meine Erfahrung in unserer Niederlassung in Litauen sagen mir, Russen sind sehr unbeliebt in einigen ihrer ehemaligen Sowjetrepubliken.

        • @Sven Günther:

          Danke.

          Ich bin zwar schon eine Weile raus aber ihren Erfahrungen kann ich folgen.

          Der Teil Pizunda im B. ist für mich auch eine schöne Erinnerung. Dieses kleine Bild -Hotel-, da haben wir oben gesessen und aufs Schwarze Meer geschaut. Auch Abrasien war ja dann in Auseinandersetzungen verwickelt.



          Trotzdem Jugend!



          Im Rb. erwähnt ..... -Besonders belustigt waren wir DDR-Bürger darüber, dass bei jeder Fahrt auch das Lied erklang: „Kreuzberger Nächte sind lang“.

          Also, wir GDR Jünger auf'em Schwarzen Meer mit Delfinen und unter Strom und s.o.!

          Also in diesem Fall, kann ich voller Überzeugung sagen, es war nicht alles schlecht!

  • Armenien besetzt völkerrechtswidrig Berg-Karabach und vertreibt zehntausende Menschen aus dem aserbaidschanischem Staatsgebiet. Und versucht sich Armenien als das große Opfer darzustellen.



    Vielleicht zur Erinnerung. Eine Landnahme mittels Gewalt findet völkerrechtlich niemals eine Anerkennung und das ist aus gutem Grund so.

    • 9G
      90564 (Profil gelöscht)
      @Nico Frank:

      na immerhin einer, der sich beim völkerrechts-idealismus treu bleibt und die weiter standhaft die anti-armenischen genozide, anti-armenischen pogrome und die brutale azerbeidschanische diktatur ignoriert

    • @Nico Frank:

      @Nico Frank

      Stalin hat Berg-Karabach willkürlich den Aserbeidschaner zugeschlagen - obwohl da 90% Armenier gewohnt haben.