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Bayern, Erinnerung und AiwangerVon Wackersdorf nach Mallersdorf

Die 80er Jahre in Niederbayern waren hoch politisiert, weiß unser Autor aus eigener Erfahrung. Umso merkwürdiger, dass sich wer an so wenig erinnert.

Widerstand bleibt in Erinnerung: Wackersdorf, 7. Juni 1986

Warum Hubert Aiwanger 1987 ein rechtsradikales Flugblatt in seiner Schultasche hatte und ob er es an seinem Gymnasium im niederbayerischen Mallersdorf verteilt hat, geht aus seinen Antworten auf die ihm von Markus Söder vorgelegten 25 Fragen nicht hervor. Der „Vorgang“ sei ihm „im Detail nicht in Erinnerung“.

Ich erinnere mich genau, dass ich zu dieser Zeit gut 30 km entfernt von Mallersdorf ebenfalls auf ein niederbayerisches Gymnasium in Straubing an der Donau ging. Und ab 1986 war Niederbayern ein heißes politisches Pflaster. Manchen steckte im Frühling 86 noch die Erinnerung an die brachiale Räumung des Hüttendorfes „Freie Oberpfalz“ im nahe gelegenen Wackersdorf im Dezember 1985 in den Knochen, als erstmals die Antiterror-Spezialeinheit GSG9 bei einem derartigen bewegungspolitischen Protestgeschehen zugegen war. Bayerische Beamte prügelten Anti-AKW-Aktivisten durch den Wald und nahmen über 900 Personen fest, während Franz Josef Strauß wie üblich gegen Linke hetzte.

Im April 86 kam es zur Reaktorkatastrophe in Tschernobyl. Das veränderte alles. Auch wenn die Ereignisse in Wackersdorf schon zuvor eskaliert waren, vor allem während einer Großdemonstration an Ostern, bei der ein Demonstrant nach dem Einsatz von CS-Gas starb, ging es nach Tschernobyl erst richtig ab.

Sechs Wochen nach der Reaktorkatastrophe kam es zu den schwersten Krawallen, von den Medien „Pfingstschlacht“ getauft. Dabei wurden riesige Strommasten umgesägt, mit einem geklauten Bagger fuhren Vermummte nachts gegen den mit Nato-Stacheldraht gesicherten Bauzaun.

Aktivisten stoppten mit Baumbarrikaden einen Regionalzug und koppelten die Lokomotive ab, während alte Bauersfrauen aus der Gegend Pflastersteine an Vermummte verteilten. Ende Juli kamen unter anderem Rio Reiser, die Toten Hosen und Herbert Grönemeyer zum Anti-WAAhnsinns-Festival mit über 100.000 Besuchern, das als deutsches Woodstock in die Geschichte einging, eine enorme mediale Präsenz erzeugte und die in Bayern bis dahin gültige Hegemonie pro Atomkraft vor allem bei jungen Menschen infrage stellte.

„Aktenzeichen XY“ aktiv

Auch wenn das Festival friedlich blieb, war die Presse immer wieder voller Berichte über die entgrenzte Gewalt der Autonomen. Sogar bei „Aktenzeichen XY“ wurde nach Wackersdorfer Steinewerfern gesucht. Alle redeten und stritten über den Bau der Wiederaufarbeitungsanlage, egal ob in der Schule, Familie, im Sportverein oder in der Kneipe. Keiner konnte sich dem entziehen.

„Ihr werdet nie Erfolg haben!“, hieß es von den AKW-Befürwortern. Oder: „Keiner redet mehr über die Inhalte, sondern wegen der Gewalt nur noch über die Form des Protestes.“ Kein Wunder, dass wir in der Schule – egal ob im Pausenhof oder im Unterricht – von früh bis spät über den Zusammenhang von Politik, Gewalt und staatlicher Repression debattierten.

Anlässe, um über Demokratie und Bürgerrechte zu diskutieren, gab es genug: Schon im Mai hatte sich der Bayerische Rundfunk aus dem Programm der ARD ausgeschaltet, weil in der Polit-Satire-Sendung „Scheibenwischer“ ein Sketch zum Thema Atomkraft den Sendeverantwortlichen in München zu kritisch erschien.

Umkämpfte linke Positionen

Robert Jungks Gespenst des Atomstaates ging um. Linke Positionen waren umkämpft, hatten aber selbst im konservativen Bayern plötzlich ihren Platz. Und sie zogen Kreise und wurden radikaler, denn bei den Opernballkrawallen 1987 in Wien bezogen sich Aktivsten dort direkt auf die Proteste in Wackersdorf. 1986 tourte im Sommer auch Helmut Kohl durch die Republik auf Wahlkampftour, um nach der konservativen Wende von 82 wiedergewählt zu werden.

In Straubing fungierte als Einheizer auf dem Kundgebungsplatz jemand, der unter dem Gejohle der Menge über die Grünen als „Partei der Schwulen und Verbrecher“ herzog. Wir standen als demonstrierender und störender Pulk vor der Bühne mit Helmut Kohl obendrauf und skandierten „Hau ab!“, bis uns BGS-Beamte abdrängten.

Zu dieser Zeit wurde ich mit Lederjacke, Springerstiefel und buntem Punk-Haarschnitt im niederbayerischen Straubing regelmäßig von älteren Personen auf der Straße beschimpft und konnte mir immer wieder den Satz „Du gehörst ins KZ!“ anhören. Auch junge Nazis gab es damals zuhauf. In den 1980er Jahren verbreitete sich die Skinhead-Bewegung bis in die hintersten Dörfer.

Obacht am flachen Land!

Die rechtsradikale Partei „Republikaner“ versuchte von Bayern aus den Front National zu kopieren und war Ende der 80er damit vor allem in Berlin erfolgreich. Und seit Mitte der 1980er fanden Treffen der rechtsextremistischen DVU in der niederbayerischen Passauer Nibelungenhalle statt, die örtliche Antifa mobilisierte jährlich zu breiten Gegenprotesten. Auf dem flachen Land zwischen Passau, Straubing und Landshut, wo sich heute in Geiselhöring (unweit von Mallersdorf) ein rechtsradikaler Versandhandel befindet und die autonomen Nationalisten in den vergangenen Jahren präsent waren, scheinen sich Neonazis wohl zu fühlen.

Aufs flache Land wagten wir uns damals in den 80ern selten. Einmal fuhren wir mit einer Gruppe Punks zu einem kleinen Bierfest. Jemand kannte einen, der dort arbeitete und für uns auflegte, so dass am Sonntagmorgen „Holidays in the Sun“ von den Sex Pistols durchs halbleere Bierzelt dröhnte und wir Pogo tanzten, bis ein Dorfmacker einem von uns die Nase blutig schlug, gefährliche Stimmung rund ums Bierzelt aufkam und wir schließlich zu den Autos flüchteten.

1986 kam auch Rainald Goetz’ Roman „Irre“ heraus, der die banale Alltäglichkeit der New-Wave- und Punk-Kultur im Bayern jener Jahre auf verstörend präzise Art literarisch auf den Punkt brachte und über weite Teile in jener geschlossenen Abteilung der Münchner Psychiatrie in der Nußbaumstraße spielte, in der irgendwann auch ein Freund von uns landete, dessen Psychose im Nachgang zu den Gewalterfahrungen während der Wackersdorfer Räumung im Dezember 1985 begonnen hatte.

Diese Jahre waren voller Kämpfe, es ging um etwas, und jeder Tag, jeder Moment war voller Politik. Niederbayern 86 war für junge Menschen ein radikales politisches Terrain, in dem jeder, der Politik machte, für gewöhnlich ganz genau wusste, was er tat.

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10 Kommentare

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  • In nd um des Freistaates hieß und schrieb sich das röhrenhosig buntbehaarte Völkchen "Panx". Volxküche und so ....



    Und zur inhaltlichen Kritik hier in den Kommentaren: Dies IST ein Stück persönlicher Erinnerung, der Text kommt genau deshalb so eindringlich, und eingängig, rüber. Umfänglich aktenblätterndes Historisieren war wohl eher nicht die Absicht.



    Schon toll, wieviele damals unterwegs waren, zur Verhinderung einer simplen Fahrradspeichenfabrik. dieterlohr.de/der-...ichenfabrikkomplex

  • Zu schreiben dass bayerische Polizisten in Wackersdorf auf uns eingedroschen haben ist ja erstmal richtig. Aber dabei nicht zu erwähnen dass bei uns allerdings jene Berliner Spezial-Knüppeltruppe wegen ihrer Brutalität erheblich gefürchteter war - das geht nicht.



    Den Wackersdorfer Pfarrer, der uns in seiner Kirche schützendes Asyl gewährte und die Polizei ausgesperrt hatte und auch den SPD-Landrat Hans Schuierer zu unterschlagen, welche Beide mit uns in vorderster Front standen – ist das nun Ignoranz, oder was?



    Und dann auch noch den Tod von F.J. Strauß am 3.10.1988 schlicht zu vergessen… - da bleibt mir dann endgültig die Luft weg!



    Exakt der Tod dieses Mannes war doch der Untergang des Projektes WAA Wackersdorf, welches er wie einen höchstpersönlichen heiligen Gral mit allen Mitteln versuchte gegen uns durch zu peitschen.



    Nein – solche Löcher sollte man auch beim Schreiben einer ganz persönlichen Retrospektive nicht in der Festplatte haben.

  • Huppsi's Maleur, gereimt und im Bierzelt vorgetragen:

    www.youtube.com/watch?v=fGCd3GYBaQQ

  • Ein schönes Kaleidoskop der Erinnerungen. "Irre" von Rainald Goetz erschien allerdings schon 1983, nicht erst 1986. Die Jahreszahl 1986 bezieht sich vermutlich auf die Erstauflage der Taschenbuchausgabe.

  • "Umso merkwürdiger, dass sich wer an so wenig erinnert."

    Fehlt da nicht im Artikel ein gewichtiger Part und das Gedenken an 8 Toten allein in diesen Bleiernen 80er Zeiten? de.wikipedia.org/w...ote_Armee_Fraktion

    Der Artikel ist mir zu sehr eine müde einseitige Frontkämpfergedächnisstütze.

    Es verwundert heutzutage gar nicht, dass sich da "wer an so wenig erinnert". Die Schubladenränder sind mächtig gewachsen.

  • Natürlich weiss der Aiwanger-Hubsi ganz genau, was er da gemacht hat. Dafür war das viel zu aufregend: zum Direktor zitiert...das merkt man sich.

    Die Frage ist ausschliesslich, was man ihm nachweisen kann...darüber hinaus herrscht tiefgehende Amnesie.

    • @Mitch Miller:

      Amnesie scheint unter Politikern eine Berufskrankheit zu sein. Mit einem Gesetz dass amnesierende Politiker nicht weiter öffentliche Ämter bekleiden oder im öffentlichen Dienst beschäftigt werden können liese sich diese Berufskrankheit schlagartig verringern.

    • @Mitch Miller:

      Das ist doch immer das gleiche Verhalten der Berufspolitiker. Sobald es durch geschwurbelte Texformulierungen keinen Ausweg aus der verfahrenen Situation mehr gibt, fallen alle immer in eine tiefgehende Amnesie. Auch Olaf Scholz ist ein Paradebeispiel dafür. Das ist eben der Königsweg aus den Beraterkreisen, um mit letzter Hinterlist die Kurve zu bekommen und nicht abtreten zu müssen. Nachweisen? Allein die Verteidigungsstrategie und sein Opferverhalten als Person in Amt und Würden gebietet eine Entlassung oder den freiwilligen Abgang. Natürlich hat Herr Aiwanger kein bisschen seiner Taten von damals vergessen. Das ist alles nur politisches Kalkühl.

  • Sehr schöner flashback in die Jahre 1986 und 1987! Lediglich bei Helmut Kohls 'Wahlkampftour durch die Republik im Sommer 1986' passen ein paar Puzzleteile nicht zusammen. Die BTW fand im März '83 statt, das war der Wahlkampf mit Fritz Rau und der Grünen Raupe, die sich durch die Republik fraß. Die Folge-BTW war dann Ende Januar 1987, es war saukalt und alle Beteiligten waren sich einig: 'Nie wieder Winterwahlkampf!' Allerdings fanden im Oktober '86 Landtagswahlen in Bayern statt, daher ist zu vermuten, dass Kohl in Bayern war, um seinen Spezl FJS zu unterstützen.

  • Ich kann mich ebenfalls sehr gut an Pfingsten 86 in Wackersdorf erinnern. Auch an den nächtlichen Baggerangriff. Der war allerdings schlecht koordiniert. Eigentlich sollte er von Genossen gefahren werden, die wissen, was all die Hebel in dem Fahrzeug bedeuten. Es waren dann aber andere und die Attacke war zwar spektakulär, aber laienhaft.

    Auch die massive Unterstützung der Bevölkerung für die Militanten ist mir gut erinnerlich. Sie schleppten Steine und was man sonst so werfen konnte, nach vorn und wir warfen.

    Und haben damit sozusagen Feuerschutz gegeben für einzelne oder kleine Gruppen, die sich mit Sägen an den Streben des Zauns zu schaffen machten. Die Cops waren zwei tagelang kopflos, völlig in der Unterzahl und geschockt von der Wut, die da explodierte. Sie machten zwar einzelne Ausbrüche aus dem Gelände, kamen aber nie weit.

    Am letzten Tag kamen dann die Hubschrauber, die tief über der Szenerie flogen, Stände und Menschen durcheinander wirbelten und Tränengasgranate um Tränengasgranate abwarfen. Ein Demonstrant kam bei dem Einsatz ums Leben.

    Was Aiwanger angeht, der hat nicht nur vergessen, wie ein antisemitisches Flugblatt in seinen Ranzen gelangen konnte, er weiß wohl auch nicht mehr, dass er 2012 mit Trixie und Olaf auf dem Podium saß. Die Rechtsaußen-Figuren wollten es erst einmal auf dem Ticket der Freien Wähler versuchen:

    "Als sich 2012 enttäuschte Nationalkonservative aus der Union und marktradikale Euro-Gegner:innen der FDP – unter ihnen Bernd Lucke, Alexander Gauland, Beatrix von Storch, Hans-Olaf Henkel und Frauke Petry – zur »Wahlalternative 2013« zusammenschlossen, boten die Freien Wähler den »Euro-Rebellen« einen Platz in ihren Reihen und suchten die Kooperation mit den späteren AfD-Gründ­er:innen."

    jungle.world/artik...hilfe-fuer-die-afd

    Als sich herausstellte, dass die FW außerhalb Bayerns nicht satisfaktionsfähig sind, wurde die AfD gegründet.