Aussteigerin über rechte Szene: „An der Wand hingen Salzteig-Runen“
Heidi Benneckenstein wuchs in einer Nazifamilie auf, besuchte Neonazi-Zeltlager, verprügelte einen Fotografen. Dann stieg sie aus.
taz: Frau Benneckenstein, wann haben Sie zuletzt mit Ihrem Vater gesprochen?
Heidi Benneckenstein: Lange her, zum Glück. Da war ich 15.
Vor neun Jahren also. Seitdem sind Sie ihm nicht mehr über Weg den gelaufen?
Nein. Ich bin damals, nach einem Streit, aus dem Haus gegangen und war weg. Mir war klar, dass ich ihn nicht mehr sehen würde. Ich hatte lange Angst, dass es doch passieren könnte und ich dann ausraste. Aber das ist vorbei. Es hätte keinen Sinn, ihm irgendetwas zu sagen. Es ist zu viel passiert.
Sie sind in einer Nazi-Familie aufgewachsen, in einem Dorf bei München. Ihr Vater, Beamter beim Zoll, leugnete den Holocaust, wollte Ostpreußen regermanisieren und schickte Sie in Zeltlager der rechtsextremen „Heimattreuen Deutschen Jugend“. Wie erinnern Sie sich an Ihre Kindheit?
Mein Vater hat bestimmt, was läuft. Meine Schwestern und ich mussten aufpassen, dass wir nichts Falsches machten, nichts Falsches sagten, nicht laut waren. Beim Essen durften wir nur sprechen, wenn wir aufgefordert wurden. Wenn wir die Tür aus Versehen zu laut zugehauen hatten, mussten wir es zehnmal leise tun. Und wir hatten so eine blöde Treppe, die ich als Kind öfter runtergefallen bin, das tat weh. Trotzdem musste ich die Treppe danach zehnmal rauf- und runterlaufen. Mein Vater hatte auch große Freude daran, uns Schwestern gegeneinander auszuspielen.
Redeker, so ihr Geburtsname, wuchs in einem bayerischen Dorf in einer Familie von Nazis auf. Heute sagt sie: „Ich bin raus“. Mit 19 stieg sie mit ihrem Mann aus der Szene aus. Das Paar lebt mit Sohn und Hund in München. Kontakt hat sie noch zu einer Schwester und ihrer Mutter. Benneckenstein hat ihre Geschichte aufgeschrieben. „Ein deutsches Mädchen“ erscheint am 14. Oktober im Tropen-Verlag.
Wie haben Sie und Ihre Schwestern reagiert?
Wir haben alle versucht, aus der Schusslinie zu kommen – auch auf Kosten der anderen. Als ich bei einem Schulsportfest mit einem Mädchen aus den Philippinen ein Team bilden musste und mit ihr, Hand in Hand, Stationen ablief, erzählten meine Schwestern unserem Vater davon. Es gab ein Donnerwetter. Warum ich mich mit Fidschis abgebe? Meine Schwestern haben dann beschlossen, mich zur Strafe nicht mehr zu berühren – von sich aus. Sie wussten, dass sie dafür gelobt würden. Und unser Vater fand das tatsächlich eine super Idee.
Wann haben Sie gemerkt, dass Ihre Familie anders ist als andere?
Sehr früh. Jeden Morgen kam die Preußische Allgemeine, an der Wand hingen Runen aus Salzteig, wir hatten Stickdecken mit völkischen Sprüchen und im Keller Bücher über NS-Größen. Ich habe früh gemerkt, dass unsere Eltern anders mit uns sprechen, besonders mein Vater. In unserem Dorfkindergarten sollte ich wegen meiner blonden Haare im Krippenspiel den Engel spielen. Mein Vater war außer sich und rief in der Kita an, ob sie denn nicht wüssten, dass ich konfessionslos sei. Ich verstand nicht, was los war. Je älter ich wurde, desto stärker drängte sich die Ideologie meines Vaters in mein Leben.
Wie meinen Sie das?
Als wir zum Beispiel in der achten Klasse mit der Schule das ehemalige Konzentrationslager in Dachau besucht haben, stachelte er mich beim Abendessen an, kritische Fragen zu stellen.
Zum Beispiel?
Für ihn deutete ein Schild, dass die Verbrennungsöfen nachträglich zu Dokumentationszwecken errichtet wurden, darauf hin, dass es gar keine gab. Danach sollte ich fragen. Ich sollte provozieren.
„Es dauert Jahre, bis ein Ausstieg vollzogen ist“, sagt Bernd Wagner, Leiter der Ausstiegshilfe Exit. „Die Saufgelage, die Illusion einer Kameradschaft, die Gewaltexzesse“, so Wagner. „Das passt nicht zu den Worten. Viele merken dann, dass sie nur ein Werkzeug sind.“
681 rechtsextreme Aussteiger betreute Exit bundesweit seit Gründung im Jahr 2001. Aktuell sind es rund 40. Nur 16 Aussteiger seien in all den Jahren zurück in die Szene gedriftet. Ein Viertel aller Aussteiger bei Exit seien Frauen.
Exit ist das größte Aussteigerprogramm – ein unabhängiger Träger, aber von der Bundesregierung mitfinanziert. Daneben gibt es staatliche Programme, meist angesiedelt beim Verfassungsschutz oder den Landesinnenministerien.
Prominent kehrte zuletzt Jasmin Apfel der rechten Szene den Rücken – einst Ehefrau des früheren NPD-Chefs Holger Apfel und Geschäftsführerin des NPD-Frauenverbands „Ring Nationaler Frauen“. Erst trennte sie sich von ihrem Mann und trat aus der Partei aus. Im Frühjahr verkündete sie, ganz aus der Szene auszusteigen. Ausschlaggebend seien ihre vier Kinder gewesen, denen sie eine Zukunft ermöglichen wolle.
Gab es keine anderen Eltern oder Lehrer, die misstrauisch wurden und sich erkundigten, ob bei Ihnen zu Hause alles in Ordnung ist?
Nicht wirklich. Mein Vater ist sehr dominant gegenüber Erziehern und Lehrern aufgetreten. Davon waren viele eingeschüchtert. Einmal, in der dritten Klasse, korrigierte ich meine Grundschullehrerin, dass das Deutschlandlied aus drei Strophen besteht. Ich habe ihr am nächsten Tag sogar ein völkisches Liederbuch mitgebracht. Sie gab es mir kommentarlos wieder. Ich glaube, sie war einfach überfordert.
Hatten Sie Freundinnen, denen Sie sich anvertrauen konnten?
Ja. Meiner besten Freundin habe ich alles erzählt. Das durfte ich eigentlich nicht. Zu Hause wurde gesagt: Was wir hier besprechen oder was ihr in den Zeltlagern erlebt, dürft ihr nicht weitererzählen. Aber solche Geheimnisse kann ein Kind nicht für sich behalten. Meine Freundin konnte sich gar nicht vorstellen, dass ich das wirklich erlebe. Für sie war das wahrscheinlich einfach spannend.
Als Sie 7 Jahre alt waren, schickte Sie Ihr Vater das erste Mal in ein Lager der „Heimattreuen Deutschen Jugend“. Wie war das?
Für mich war es die Hölle. Anfangs, weil ich Heimweh hatte und einfach nur nach Hause wollte. Später, weil alles so durchstrukturiert war, was zu mir überhaupt nicht passte, weil ich inzwischen recht aufmüpfig war. Jeder Schritt wurde kontrolliert. Wir mussten um sieben Uhr aufstehen, zum Frühsport. Zum Frühstück durften wir erst, wenn das Zelt aufgeräumt war. War es nicht ordentlich, mussten wir Liegestütze machen. Dann kam der Fahnenappell vor den Zelten, wir mussten auch bei eisiger Kälte eine halbe Stunde strammstehen. Dann haben wir besprochen, was man den Tag über macht. Das konnten Schwimmbadausflüge sein oder auch AGs, in denen es zur Sache ging.
Was heißt das?
Ich kann mich an einen Vortrag erinnern, wie man sich auf den Tag X vorbereitet, an dem der Staat zusammenbricht. Es ging darum, Lebensmittelvorräte anzulegen, Schlafsäcke bereitzuhaben, solche Dinge. Und immer wieder ging es um NS-Größen. Ehrenmitglied der HDJ war Hans Ulrich Rudel, der Wehrmachtsflieger. Der wurde verehrt, über ihn gab es regelmäßig Vorträge. Genauso über Hanna Reitsch, auch eine Nazi-Fliegerin, oder Agnes Miegel, eine Dichterin, die Hitler verehrte. In einem der Lager hießen die Zelte „Führerbunker“ und „Germania“. Das war aber eine Ausnahme, in der Regel hielt sich die HDJ bedeckt, um keinen Ärger mit der Polizei zu bekommen. Unsere Lager waren meist abgeschieden von Städten, wir gaben uns als Pfadfinder aus oder als Katholische Deutsche Jugend.
War den Kinder klar, was in den Lagern lief?
Die Botschaft jedenfalls kam an. Einmal sollten wir aus einem Stück Sperrholz die Deutschlandkarte sägen, in den Grenzen von 1937. Ein Junge verzierte seine Karte mit einem schwarzen Hakenkreuz. Gestört hat das niemanden.
Was waren das für Kinder, die an den Lagern teilnahmen?
Die meisten kamen aus Familien, die seit Generationen in der rechtsextremen Szene verankert sind. Bildungsbürgertum. Viele Kinder gingen aufs Gymnasium. Als einmal eine Familie aus Berlin dabei war, wirklich Unterschicht, ist das sofort aufgefallen. Der HDJ ging es um die Heranzüchtung einer rechtsextremen Elite.
Was heißt das genau?
Ziel war es, dass wir später Führungspositionen in der Bewegung einnehmen. Es wurde Wert darauf gelegt, dass man gebildet ist und studiert, auch die Mädchen. Auch wenn die HDJ-Mädchen von damals heute fast alle Hausfrauen sind. Für sie ist ideologisch eben die Rolle als Mutter vorgesehen.
Welche Rolle hat Ihre Mutter gespielt?
Meine Mutter war sehr passiv, untergeordnet. Sie hat vieles einfach mitgemacht, weil sie einer Auseinandersetzung mit meinem Vater nicht gewachsen war. Ich glaube nicht, dass sie hinter dem Politischen stand. Das hat man gesehen, als meine Eltern sich getrennt haben. Danach war bei ihr nichts mehr davon zu spüren.
Als Ihre Eltern sich getrennt haben, waren Sie neun. Sie sind zu Ihrer Mutter gezogen. Warum blieben Sie in der Szene?
Mit meiner Mutter gab es oft Konflikte, weil ich trotzig war und meine Mutter auch darauf passiv reagierte. Dann kam die Pubertät und ich bin zurück zu meinem Vater, der mich mit offenen Armen empfangen hat. Plötzlich durfte ich Sachen, die vorher verboten waren: eine Stereoanlage, ein Handy. Für mich war das super. Aber als ich 15 war, ging es nicht mehr. Ich zog erst wieder zu meiner Mutter, später in eine eigene Wohnung.
Die HDJ veranstaltete Zeltlager, hielt Schulungen über NS-Größen oder Rassenkunde ab. Jungen trugen Grauhemden, Mädchen Blusen mit blauem Rock. 400 Mitglieder soll sie zuletzt geführt haben. 2009 wurde der Verband verboten. Kader der HDJ machten rechtsextreme Karriere, sitzen im Bundesvorstand der NPD und der Identitären Bewegung. Der Anwalt Wolfram Nahrath vertritt im NSU-Prozess den Angeklagten Ralf Wohlleben. Der Verband „Sturmvogel – Deutsche Jugend“ steht im Verdacht, die Aktivitäten der HDJ fortzuführen. In der NPD gründete sich die „Interessengemeinschaft Fahrten und Lager“.
Wie erging es Ihren drei Schwestern?
Die jüngste ist eine Nachzüglerin, die hat von alldem nicht viel mitbekommen. Meine älteste Schwester war schon ausgezogen und hält bis heute zu meinem Vater, die andere ging in eine Pflegefamilie. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.
Sie blieben auch nach dem Bruch mit Ihrem Vater in der rechtsextremen Szene. Warum?
Ja, aber nicht mehr in der HDJ, sondern bei den Kameradschaften. In Erding besuchte ich einen Stammtisch, wir gingen auf Konzerte, pöbelten Punks und Polizisten an. Ich fand das klasse. Es war moderner als bei der HDJ, und hier konnte ich rebellieren, ganz offen.
Andererseits waren Sie auch in der NPD – unter lauter alten Männern.
Das war bizarr. Bis 18 kannte ich fast nur Nazis. Der NPD-Ortsverband war ein Haufen gescheiterter Existenzen, alle lästerten übereinander. Da habe ich zum ersten Mal Wahlkampf gemacht, mit Infoständen in der Fußgängerzone. Für die NPD war ich das Vorzeigemädchen. Aber niemand hat sich für unsere Stände interessiert, und ich wusste mitunter nicht, was auf dem Flyer steht. Aber damals waren das für mich kleine Schritte zur Revolution.
Es gab nur wenige Frauen in der Szene. In welcher Rolle sahen Sie sich?
Aus meiner Sicht unterschied ich mich von den anderen Frauen. Ich bin ja in die Szene hineingeboren und kam nicht über einen rechtsextremen Freund dahin. Die meisten Frauen waren Anhängsel, wurden in der Kameradschaft herumgereicht, von einem Mann zum anderen. Dafür war ich zu stolz. Ich war über die HDJ ideologisch geschult. Ich dachte, ich sei etwas Besseres.
Zur rechtsextremen Szene gehört auch Gewalt. Sie selbst haben mit 16 Jahren einen Fotografen verprügelt, der die Beerdigung einer Neonazi-Größe dokumentieren wollte. Wie kam es dazu?
Das schockiert mich im Nachhinein auch. Für uns war dieser Fotograf, ein Antifa-Typ, eine absolute Provokation auf dieser Beerdigung. Aus ganz Deutschland waren damals prominente Nazis angereist, Udo Voigt, Christian Worch, Steiner Wulff. Mit denen stand ich am Grab, in der Hand hielt ich eine Fahne der NPD-Jugend. Als wir dann vom Friedhof abzogen und der Fotograf vor uns her lief, sind ich und zwei Kameradinnen losgestürmt und haben auf ihn eingestiefelt, am Ende waren wir 30. Ich habe mit den Fäusten zugeschlagen, ihm zwischen die Beine getreten. Ich war wie besinnungslos. Mir war egal, wie schwer ich ihn verletze. Nein, ich wollte ihn verletzen. Erst nach ein paar Tagen ist mir bewusst geworden, dass ich die Beherrschung verloren habe. Heute ist mir das fremd, als wäre ich damals ein anderer Mensch gewesen.
Wie ging es dem Fotografen?
Er hatte ein paar gebrochene Rippen und Prellungen, aber nichts Ernstes. Die Polizei lud mich zu einem Verhör vor. Aber darauf folgte nichts.
Das Opfer arbeitet bis heute als Journalist in München. Sind Sie ihm wieder begegnet?
Ja, häufig. Er ist ein freundlicher Mensch, der das natürlich nicht verdient hatte. Ich habe mich bei ihm entschuldigt, und damit war es für ihn erledigt. Davor habe ich eine ganz schöne Achtung.
Sie waren zu diesem Zeitpunkt bereits mit Felix Benneckenstein liiert, einem Liedermacher der rechten Szene, mit dem Sie heute verheiratet sind und ein Kind haben. Gemeinsam beschlossen Sie auszusteigen.
Man denkt immer, dass es ein Schlüsselerlebnis gibt. Aber so ist es nicht. Es gab immer wieder Momente, in denen ich dachte, hier läuft etwas falsch. Wenn Männer in der Szene, die die Familie als kleinste Zelle des Reichs rühmen, ihre Frauen betrügen. Oder der Alkoholkonsum, dem sich fast alle hingaben, ich ja auch, bis man völlig hemmungslos war. Das passt alles nicht zur NS-Ideologie. Es hat lange gedauert, bis ich diese Zweifel zugelassen habe. Anfangs habe ich mit Felix über unsere Leute gelästert. Irgendwann wurde aus dem Geläster ein Hinterfragen. Und als ich mit 17 Jahren das erste Mal schwanger wurde, war es dann echt so: Nee, Stopp, ich muss aufhören, es muss sich etwas ändern. Trotzdem hat es zwei Jahre gedauert, bis es so weit war.
Dass ein Paar gemeinsam aussteigt, ist selten. Machte es die Sache eher leichter oder schwerer?
Beides. Es gab Momente, in denen wir uns gegenseitig wieder reingezogen haben. Am Anfang war es Felix, der rauswollte. Da hatte ich noch gesagt: Nee, komm, das ist wichtig. Als dann seine CD veröffentlicht wurde, war er wieder voll drin in der Szene – und ich hatte schon abgeschlossen. Wirklich Schluss war erst, als Felix nach einer Schlägerei mit einem anderen Neonazi fünf Monate in Haft kam und gegen den Typen ausgesagt hat. Danach war Felix in der Szene eine Persona non grata. Grundsätzlich ist es zusammen leichter. Weil man über alles sprechen kann und nicht allein ist. Die meisten Aussteiger haben nichts mehr, gar nichts. Keine Freunde, keine Hobbys, keine Demos am Wochenende. Wir hatten uns.
Konnten Sie vor der Szene verbergen, dass Sie aussteigen wollen?
Das war ein großes Problem. Wir haben erst gelogen oder falsche Gerüchte gestreut. Wir haben erzählt, wir ziehen weg, wir machen eine Ausbildung, oder dass Felix’ Arbeitgeber verlangt, dass er sich politisch nicht mehr engagiert. Das wurde akzeptiert. Trotzdem kamen immer wieder Anrufe, ob wir nicht hier oder da mitmachen wollen. Dann haben wir unsere Handynummern geändert. Trotzdem kamen Leute an die neue Nummern und wir brauchten Ausreden, um sie fernzuhalten.
Wie haben Sie den Ausstieg offiziell gemacht?
Als Felix aus dem Knast kam, haben wir Kontakt zur Aussteigerhilfe „Exit“ aufgenommen. Wir haben eine neue Wohnung gesucht, ich holte die Mittlere Reife nach, ging auf die Berufsschule. Vor allem Felix aber wollte mehr als nur aussteigen. Wir haben gemerkt, dass es wichtig ist, Anlaufstellen zu haben. Aber Exit sitzt in Berlin, über die Münchner Szene wussten sie nicht viel. Wir hatten das Bedürfnis, etwas wiedergutzumachen und unsere Erfahrungen weiterzugeben. Da haben wir beschlossen: Wir gründen selbst einen Verein und betreuen bayerische Aussteiger. Und das haben wir öffentlich gemacht, auf einer Pressekonferenz. Da war dann klar, dass es keinen Weg zurück gibt.
Wurden Sie bedroht?
Ja. Unser Verein hatte anfangs eine Hotline für Aussteiger, irgendwann haben da nur noch besoffene Nazis draufgequatscht, auch mit Drohungen. Neben unserem damaligen Wohnhaus prangte eines Morgens ein Hakenkreuz an der Wand und der Spruch: Wir kriegen euch. Einen Nazi habe ich mal in der S-Bahn getroffen, der stellte sich ganz dicht neben mich, damit ich Angst bekomme. Habe ich aber nicht. Und es gab mal eine Phase, da wurde bei uns nachts geklingelt, mehrere Wochen lang. Das war ein ehemaliger Nachbar, der bei Pegida war, wie wir später festgestellt haben.
Wie sind Sie damit umgegangen?
Natürlich muss man abwägen. Aber ich fühle mich in München sicher. Und wo genau wir wohnen, behalten wir für uns. Am Anfang hatten wir so etwas wie Personenschutz. Die Polizei hatte damals bekannte Nazis aufgesucht und ihnen gesagt, wenn uns etwas passiert, wissen sie, wer es war. Den kurzen Draht zur Polizei haben wir bis heute.
Wenn Sie sich die rechte Szene heute angucken: Erkennen Sie Leute von früher wieder?
Klar. Vor allem bei der Identitären Bewegung kenne ich viele Gesichter, da sind ehemalige HDJler sehr aktiv. Zur NPD gab es immer Überschneidungen. Und die Szene der völkischen Siedler in Mecklenburg-Vorpommern ist fast eins zu eins die alte HDJ.
Ist das die rechtsextreme Elite?
Ja, das Konzept der HDJ ist aufgegangen. Und das ist traurig. Deswegen ist das Argument, man solle rechte Organisationen nicht verbieten, weil sich eh neue gründen oder das Ganze im Untergrund weitergeht, totaler Quatsch. Es ist wichtig, es denen so schwer wie möglich zu machen.
Inzwischen sitzen mit der AfD erstmals Rechtspopulisten im Bundestag. Wie beobachten Sie den Rechtsruck in diesem Land?
Ich finde beunruhigend, wie offen rassistisch man heute sein kann und was als salonfähig gilt. Wenn man hört, was Höcke oder Gauland sagen, das hätte früher einen Aufschrei gegeben. Ich habe das Gefühl, die Gesellschaft stumpft ab. Die Leute finden das normal oder sogar lustig, weil sie von der Politik eh frustriert sind. Das ist beängstigend.
Wohin, denken Sie, wird das führen?
Die rechte Szene wird jetzt sagen, man komme dem Tag X näher, dem Zusammenbruch des alten Systems: Schaut doch mal, wie wir die Bürger erreichen, bald sind wir die Mächtigen. Das hätte mich damals auch bestärkt. Die Stimmung gegen Flüchtlinge und Migranten wird angeheizt. Deshalb ist jetzt wichtig, dagegenzuhalten und für die Demokratie zu kämpfen.
In München läuft auch der NSU-Prozess. Verfolgen Sie den?
Ab und zu, das zieht sich ja ganz schön. Ich finde interessant, dass sich fast keiner der Angeklagten vom NSU distanziert hat. Im Gegenteil. Der Angeklagte Ralf Wohlleben hat sich mit Wolfram Nahrath einen überzeugten Neonazi als Anwalt genommen, auch ein früheres HDJ-Mitglied übrigens. Dieses Unverhohlene, das finde ich krass.
Sie kamen dem NSU selbst nahe: 2008 saßen Sie mit Wohlleben, der als NSU-Waffenbeschaffer angeklagt ist, zusammen am Lagerfeuer.
Ja, es gab ein kleines Fest im Braunen Haus in Jena. Mit dreißig Leuten saßen wir am Lagerfeuer und tranken Bier, Wohlleben war dabei. Ich fand ihn merkwürdig. Immer wieder warf er Holz und mehr Holz in das Feuer, bis die Flammen drei Meter hoch waren. Als wäre er nicht ganz bei Sinnen.
Hätten Sie damals gedacht, dass Ihre Kameraden zu einer Mordserie fähig sind?
Nein, das hätte ich mir nicht vorstellen können. Es gab Gewalt in der Szene, ja. Aber ich hätte mir nicht ausgemalt, dass da Leute losziehen und zehn Menschen ermorden. Das hat mich geschockt.
Sie arbeiten heute als Erzieherin. Hatten Sie Probleme, mit Ihrer Vita einen Job zu finden?
Als ich der Leitung der Berufsschule von meiner rechten Vergangenheit erzählte und dass ich aussteigen werde, wollten die mich rausschmeißen. Erst als sich Exit für mich einsetzte, konnte ich meine Ausbildung beenden. Bei der Kita gab es nie Probleme. Alle Kollegen wissen Bescheid und haben das akzeptiert.
Und wie reagieren die Eltern der Kita-Kinder?
Anfangs hatten wir denen nichts gesagt, um nichts loszutreten. Eines Tages aber kam ein Kind zu mir und sagte, ich habe dich in der Zeitung gesehen und deinen Hund auch. Da habe ich sofort die Eltern kontaktiert. Die haben gesagt: kein Problem. Krass nur, was du erlebt hast.
Sie haben eingangs geschildert, dass Ihre Kindheit unglücklich war. Sind Sie heute glücklich?
Das bin ich. Wenn ich heute zurückblicke, merke ich, wie zerrissen ich damals war. Ich wusste überhaupt nicht, wer ich bin.
Und heute ist das anders?
Ja, das ist heute anders.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Preise fürs Parken in der Schweiz
Fettes Auto, fette Gebühr
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl