Ausschreitungen wegen Corona-Quarantäne: Tränengas in Göttingen
Vor einem wegen Corona abgesperrten Wohnblock kommt es in Göttingen zu heftigen Auseinandersetzungen. Dort sitzen rund 700 Menschen in Quarantäne.
Die Göttinger Stadtverwaltung hatte für die rund 700 gemeldeten Bewohner der als soziale Brennpunkte geltenden Wohnblocks Groner Landstraße 9a-c nach ersten Corona-Fällen Tests angeordnet und eine Ausgangssperre verhängt. Nach den bisher bekannten Testergebnissen haben sich etwa 120 Menschen aus dem Haus mit dem Virus infiziert. Unter den Bewohnern sind viele Hartz-IV-Empfänger und Migranten, auch etwa 200 Kinder und Jugendliche leben dort in äußerst prekären Verhältnissen.
Die Bewohner dürfen die Gebäude zunächst bis zum 25. Juni nicht verlassen. Die Eingänge zu dem Grundstück sind verschlossen. Ein mobiles Versorgungszentrum versorgt die Menschen mit Lebensmitteln, auch Windeln und Hygieneartikel würden hier ausgegeben, sagt Sozialdezernentin Petra Broistedt.
Eine Bewohnerin des Komplexes sagt allerdings: „Wir wurden ohne Vorwarnung nicht mehr rausgelassen, konnten nicht vorher einkaufen. Was uns von der Stadt gegeben wird, sind ein paar Äpfel und abgelaufene Chips!“ Stadtverwaltung, Universitätsmedizin und Hilfswerke wie das Rote Kreuz und die Johanniter betreiben vor Ort inzwischen auch eine Gesundheitsstation.
Quarantäne trifft Familien in prekären Situationen
Zu der drastischen Maßnahme hat es aus Sicht von Göttingens Oberbürgermeister Rolf-Georg Köhler (SPD) und dem örtlichen Krisenstab „keine Alternative“ gegeben. Der evangelische Göttinger Pfarrer und Grünen-Ratsherr Thomas Harms spricht allerdings von einem „verschärften Arrest“ für 700 Personen. Es sei fraglich, ob eine solche Maßnahme auch in den besseren Wohngegenden angeordnet würde: „Warum treffen Ausgangssperren die Ärmsten der Armen, darunter sehr viele Kinder?“ Die Erniedrigten seien in Krisenzeiten mal wieder „die ersten der Geschlagenen“, sagt Harms.
Auch die Basisdemokratische Linke in Göttingen kritisiert das Verhalten der Stadt scharf. Hier würden 700 Leute, ohne sie vorab zu informieren, „interniert“ und mit einem Großaufgebot an Ordnungskräften gezwungen, zusammen mit den Infizierten auf dem Gelände zu sein. „Es wird riskiert, dass der gesamte Wohnblock krank wird. Es wird in Kauf genommen, dass Risikopatienten in Lebensgefahr gebracht werden.“
Eine von der Gruppe ohnehin am Sonnabend geplante Kundgebung zum Aktionstag „Shut down Mietenwahnsinn – sicheres Zuhause für alle!“ wurde kurzfristig vom Marktplatz in unmittelbare Nähe der Groner Landstraße verlegt. Die etwa 250 Teilnehmenden hätten sich vor dem Gebäude versammelt, „um ihre Solidarität mit den dort internierten Bewohnern zu zeigen sowie für den Erlass von Corona-Mietschulden, Verringerung von Mieten und gute Wohnungen für alle zu demonstrieren“, teilt Lena Rademacher von der Basisdemokratischen Linken mit.
Kundgebungsteilnehmer verlasen Kritik und Forderungen der Bewohner: Die Quarantäne sei nicht angekündigt worden, das Essen reiche nicht aus oder sei abgelaufen, selbst Babynahrung und Windeln fehlten, Gesunde könnten sich nicht von Infizierten fernhalten. Zahlreiche Bewohner verfolgten die Redebeiträge aus den Fenstern heraus, mehrere dutzend weitere versammelten sich an den Absperrungen.
Pfefferspray gegen BewohnerInnen
Rademacher zufolge hat die Polizei die Situation auf der Kundgebung eskaliert, indem sie Pfefferspray gegen Bewohnerinnen, darunter auch Kinder, einsetzte. Videos im Internet zeigen ebenfalls einen Tränengas-Einsatz vor dem Haus: Beamte versuchen so offenbar, Bewohner zurückzudrängen, die sich an einem Absperrgitter zu schaffen machen. Zu sehen ist auf einem Film aber auch, wie die Polizisten von Personen hinter dem Gitter mit verschiedenen Gegenständen beworfen werden. Auch aus Fenstern der Wohnblocks fliegen Stöcke und Metallteile.
Wie die Hessische Niedersächsische Allgemeine (HNA) berichtete, sollen unter den Wurfgeschossen auch Reifen, Steine und Computer gewesen sein. Nach Angaben anderer Zeugen sind auch Feuerwerkskörper und Stühle geflogen. Die Göttinger Polizei sprach am Sonnabendabend von mehreren verletzten Beamten. Mehrere Straßen waren stundenlang gesperrt. Die Einsatzleitung forderte im Verlauf des Nachmittags Verstärkung an, über dem Geschehen kreiste zeitweilig ein Hubschrauber.
Die PARTEI in Göttingen forderte die Stadtverwaltung und den Krisenstab am Sonntag zu einem „grundsätzlichen Umdenken“ auf. Alle Bewohner der Blocks in der Groner Landstraße, die ein solches Angebot annähmen, sollten für 14 Tage in Hotels und anderen Wohneinrichtungen untergebracht werden. „Die Stadt Göttingen zeigt im Umgang mit den Corona-Ausbrüchen zuletzt im Iduna-Zentrum und in der Groner Landstraße 9 ihre hässlichste Seite“, so die PARTEI-Kreisvorsitzende Helena Arndt. Am Sonntagnachmittag wollten Stadtverwaltung und Polizeiführung bei einer Pressekonferenz über ihre Sicht auf die Auseinandersetzungen informieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Israels Brüche der Waffenruhe
Die USA sind kein neutraler Partner