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Österreichische Migrationsexpertin„Schlepperrouten verlagern sich“

Zurückweisungen direkt an der deutschen Grenze seien kaum umsetzbar, sagt Migrationsforscherin Kohlenberger. Sie plädiert für europäische Lösungen.

Für viele Geflüchtete in Brandenburg/Berlin die erste Station: die Erstaufnahme-Einrichtung in Eisenhüttenstadt Foto: Patrick Pleul/dpa
Interview von Florian Bayer

taz: Frau Kohlenberger, die deutsche Bundesregierung will Mi­gran­t:in­nen direkt von der Grenze zurückweisen. Ist das überhaupt umsetzbar?

Vandehart Photography
Im Interview: Judith Kohlenberger

arbeitet am Institut für Sozialpolitik der Wirtschaftsuniversität Wien. Sie zählt zu den anerkanntesten Flucht- und Mi­gra­ti­ons­for­sche­r:in­nen Österreichs.

Judith Kohlenberger: Die Binnengrenzen stehen ja nicht sperrangelweit offen. Seit 2023 etwa gibt es Kontrollen an den deutschen Grenzen zu Polen und zu Tschechien, die dürfen laut EU-Recht aber nicht dauerhaft sein. Vor diesem Hintergrund ist der Vorstoß keine radikale Kehrtwende. Abgesehen von der fehlenden Rechtmäßigkeit wäre das ein Kraftakt mit überschaubarem Effekt: Wir wissen aus der Migrationsforschung, dass sich Schlepperrouten schnell verlagern, meist auf gefährlichere Wege. 3.900 Kilometer Grenze zu kontrollieren ist kaum möglich.

taz: Österreichs Innenminister Gerald Karner hat angekündigt, zurückgewiesene Personen nicht aufzunehmen.

Kohlenberger: Solche Alleingänge, wie ihn Deutschland angekündigt hat, konterkarieren alle europäischen Anstrengungen. Erst kürzlich gab es die EU-weite Einigung auf eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Deutschland hat zugestimmt, weicht nun auf nationaler Ebene ab.

taz: Was würde eine Umsetzung für Österreich bedeuten?

Kohlenberger: Zurückgewiesen würden vor allem Menschen, die bereits in einem anderen EU-Land registriert wurden. Das ist in den seltensten Fällen Österreich. Schlimmstenfalls könnte es zu einem Pingpongspiel kommen, also einem Hin- und Herschieben, ähnlich wie an der polnisch-belarussischen Grenze.

taz: Könnte es einen Dominoeffekt geben, wenn Österreich Mi­gran­t:in­nen nach Ungarn oder Tschechien weiterreicht?

Kohlenberger: So manche Rechtsaußenpartei spekuliert wohl darauf. Dabei sind Kettenabschiebungen verboten. Früher oder später landet man an einer Außengrenze. Wenn dort keine Asylanträge mehr entgegengenommen werden, käme das einer Abschaffung des Asylrechts gleich.

taz: Kritik kam auch von Polens Premier Tusk. Er sprach vom „faktischen Aussetzen des Schengen-Abkommens“.

Kohlenberger: Tusk als bekennender Europäer muss natürlich auf Schengen beharren. Aber es spielt auch eine Rolle, dass die meisten Zurückweisungen aus Deutschland im Vorjahr nach Polen und Tschechien stattfanden. Tusk weiß, dass die polnische Bevölkerung im Europavergleich sehr migrationsskeptisch ist.

taz: Die Ampelkoalition ist wieder zurückgerudert.

Kohlenberger: Dass so ein Vorschlag als ernsthafte Maßnahme ventiliert wird, zeigt, mit welchen diskursiven Verschiebungen wir es zu tun haben. Die Ampel hat sich treiben lassen, vom Wahlerfolg der AfD, aber auch von der CDU.

taz: Ungarns Premier Orbán hat angekündigt, Mi­gran­t:in­nen in Bussen nach Brüssel karren zu wollen. Reine Provokation?

Kohlenberger: Das ist direkt aus dem Playbook der neuen Rechten in den USA, zu denen Orbán beste Beziehungen pflegt. Er zeigt: Wir nehmen niemanden auf. Und: Sollen sich doch die liberalen Eliten in Brüssel darum kümmern. Sein Motiv ist das jüngste EuGH-Urteil gegen Ungarn vom Juni. Wegen fehlender Umsetzung der EU-Asylregeln muss Ungarn mehr als 200 Millionen Euro Strafe zahlen.

taz: In Österreich finden am 29. September Nationalratswahlen statt. Migration ist ein Hauptthema im Wahlkampf.

Kohlenberger: Wir sind es gewohnt, dass die österreichische Migrationsdebatte der deutschen im negativen Sinne voraus ist. Mittlerweile muss die FPÖ gar nicht mehr „Daham statt Islam“ plakatieren, weil diese Message bereits in der Mitte verfangen ist. Vielen Probleme werden negiert. Für die Überlastung der Schulen etwa werden syrische Flüchtlingskinder verantwortlich gemacht. Als ob es nicht seit Jahren einen Lehrermangel gäbe.

taz: Kommt es zu einer verschärften Migrationspolitik?

Kohlenberger: Ja, sowohl auf nationaler wie auf europäischer Ebene. Das liegt auch daran, dass man Probleme wie Extremismus nicht angeht. Lösungsvorschläge, die über die „Einwanderungsfrage“ hinausgehen, liegen seit Langem auf dem Tisch. Stattdessen werden Probleme instrumentalisiert, um Asylrechte zu beschneiden.

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17 Kommentare

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  • "Zurückweisungen direkt an der deutschen Grenze seien kaum umsetzbar, sagt Migrationsforscherin Kohlenberger. Sie plädiert für europäische Lösungen."

    Das ist ja wohl mehr als scheinheilig.



    Solange Deutschland bereitwillig alle aufgenommen hat, hat man aus anderen europäischen Staaten so gut wie keine einzige Stimme gehört, die sich für effektive faire europäische Lösungen eingesetzt hat.



    Nun, nachdem Deutschland mit Zurückweisungen droht, werden Europäische Nachbarn doch verdächtig schnell gesprächsbereit.

    Erinnert sehr stark an Donald Trumps Drohungen an die NATO Partner. Nach den ersten harschen Drohungen waren diese inklusive Deutschland plötzlich bereit das Verteidigungsbudget aufzustocken.

    Anscheinend geht es nur so.

  • Warum nimmt niemand die FLUCHTURSACHEN in den fokus ?



    Denen zu begegnen wird auf lange Sicht wohl zu teuer sein. Diese angehen dürfte die sinnvollste Lösung sein. Grenzen sind willkürlich, vereinfachen jedoch Administrationen. Und die zu ändern bedarf es Klugheit. Die ist nirgends zu erkennen. Alles wird also nichts. Das Fluchtproblem wird nicht zu lösen sein.

  • Europäische Anstrengungen. In Ungarn stellen im Schnitt täglich 8 Menschen ein Asylantrag. Italien, die Schweiz und ab Januar die Niederlande stellen Leistungen für Ausreisepflichtige voll ein.

    Dänemark und Schweden haben das Asylrecht verschärft.

    Die europäische Lösung wird schon seit 2015 gesucht.

  • Das alles ist ein weiterer Beweis für die Verlogenheit der "Europäischen Werte". Was sind denn das für Werte, die sich an Wahlerfolgen orientieren, nicht jedoch an menschlichen Schicksalen? Sind wir wirklich das aufgeklärte, christlich "nächstenliebende" und freie Europa? Oder ist es nicht vielmehr das Streben nach Macht und die vorrangige Fixierung auf Mandate in den jeweiligen Parlamenten. Es ist leichter, unbestrittener, einen Köter aus seinem -zugegeben existierenden - Elend zu befreien, als Menschen aus sehr, sehr ähnlichen Verhältnissen. Klar können wir nicht ALLE Menschen hier aufnehmen, doch wir könnten !!! sehr viel mehr dafür tun, den Menschen in ihren Heimatländern ein erträgliches Leben zu ermöglichen. Stattdessen liefern wir Waffen und Munition, wir fischen deren Gewässer leer, wir zwingen denen "Frei"handelsverträge auf, deren einzige Freiheit in den Profiten hiesiger Konzerne besteht. Davon hört man nichts, gar nichts von den verantwortlichen Politiker*innen...

  • "Solche Alleingänge, wie ihn Deutschland angekündigt hat, konterkarieren alle europäischen Anstrengungen."

    Die "europäischen Anstrengungen" bestehen real darin, dass andere Länder entgegen der vereinbarten Regelungen, also unter Rechtsbruch, Flüchtlinge in Richtung D durchwinken. Auch Österreich tut das. Seit 2015. Italien nimmt real keine Flüchtlinge zurück, obwohl das Land gemäß Vereinbarungen dazu verpflichtet wäre.



    Oder anders gesagt: Die "europäischen Anstrengungen" bestehen weitestgehend darin, sich nicht an die geltenden Verträge zu halten.

    • @Kaboom:

      Genau. Und deswegen machen wir das nun auch: wir pfeifen auf EU-Vereinbarungen. So ist es richtig. Immer feste druff! Gleichwohl ist solch ein Handeln einfach unzivilsiert, schäbig. Das wäre das Motto,: Wenn's andere tun, dann will ich auch... Das ist dumm und führt geradezu in den Zerfall einer Gemeinschaft.

      • @Perkele:

        Die gesamte EU hat sich in den letzten 10 Jahren einen schlanken Fuß gemacht, in Kenntnis der schlichten Tatsache, dass D - und nur D - sich an die Vereinbarungen im Kontext Flüchtlinge hält. Ich finde, D hat nun wirklich ausreichend Geduld und Langmut bewiesen.



        Und: Damit solidarisiert sich D sozusagen mit dem Rest der EU. Es handelt genauso, wie die anderen Mitglieder. Das müsste denen doch wirklich gefallen, denn die Einigkeit im politischen Handeln ist damit wieder hergestellt.



        Achja, ich finde es nicht nett, wenn Sie alle anderen Mitglieder der EU als unzivilisiert und schäbig bezeichnen.

  • Ich würde europäische Lösungen nicht so hervorheben: auch die letzte war keine Einigung, sondern ein Scheitern, aber alle haben gesagt ok, wenn Deutschland weiter alle aufnimmt, dann meinetwegen. Die anderen sehen es dabei mehrheitlich so (wohl falsch, aebr sie sehen es so), dass Deutschland auch Schuld sei, wegen Pullfaktoren. EU-Lösungen sind also ok anzustreben, bisher aber ohne Hinweis, dass sie eine Lösung währen.

    Ich würde auch weniger den Begriff "Asyl" verwenden. Es gibt zwar immer griffige Kürzel, aber Asyl spielt auf GG §16 an und soll zeigen, dass es hie nichts zu verhandeln gibt. Streng trifft es aber nur auf 1% zu. Wollen wir das? Etwas weiter meinen wir "Schutz". Aber selbst da, ernsthaft: all die Menschen, die sich ein besseres Leben erhoffen, deren Familie schon hier ist, viele andere Gründe: die wollen wir doch nicht wirklich zurückweisen? Was wollen wir wirklich? Ich denke Offenheit für alle Menschen, weil sie Menschen sind? Wollen wir eine Diskussion über Nachteile -gibt es überhaupt welche? Wenn ja, darf es bei solchen Fragen überhaupt etwas abzuwägen geben? Mit welchem Recht? Mir scheint es um solche Fragen zu gehen.

  • Das Interessante ist doch immer, dass es 'Lösungen' sind, die irgendwie doch nicht gehen, oder von einem Gericht kassiert werden können.



    Dafür wird drum herum massig viel heiße Luft ventiliert, wenn dann immer noch Menschen Asyl-Anträge einreichen, dann wird die nächste Sau durchs Dorf gejagt.

    Niemand von der CDU / CSU sagt, wir leihen den Kurden in Syrien jetzt €2 Mrd. für Schulen, Krankenhäuser und Infrastruktur, niemand sagt, Scholz/Bundeskanzler fliegt nach Damaskus, wertet Bashar Al Assad auf und schafft diplomatische Beziehungen, schafft die Voraussetzungen für echte Rückführungen.

    Alles, was wirklich konkret etwas verändern würde, alles das, wird nie gesagt oder angekündigt.

    Stattdessen sollen nun an den Grenzen Menschen zurückgewiesen werden.



    Ich prognostiziere, dann kommen sie in zwei oder drei Wochen wieder, sonst in zwei Monaten. Polen, Österreich oder wer auch immer - kann die nicht festkleben. Und oft ist gar kein Wille da, diese Menschen überhaupt unterzubringen, korrekt zu behandeln. Natürlich wollen dann diese Menschen dort weg. Wenn sie obdachlos, arm und ohne Nahrung sind, müssen sie was tun und zwar schnell.

  • Der Wunsch der Bevölkerung, die Migration deutlich zu senken, ist spürbar. Daher handelt die Politik.

    Bedauerlicherweise fehlen in dem Interview irgendwelche konstruktive Vorschläge, wie das Problem gelöst werden könnte.

    Solange Dublin praktisch nicht funktioniert, solange wird Schengen wohl faktisch ausgesetzt bleiben.

    Daher würde ich es insgesamt auch anders formulieren; Schlimmstenfalls könnte alles so bleiben wie es ist.

    • @DiMa:

      "Der Wunsch der Bevölkerung, die Migration deutlich zu senken, ist spürbar"

      Ach echt? Wo kann ich die Belege nachlesen, dass "die Bevölkerung" "die Migration" deutlich senken will?



      Oder schreiben Sie deshalb "spüren", weil das ihrem Gefühl oder ihrer eigenen Meinung entspricht?

  • Danke für dieses Interview.

  • " Das liegt auch daran, dass man Probleme wie Extremismus nicht angeht."

    Leider geht man aber auch die anderen Probleme nicht an, sprich unzumutbare Umstände bei der Unterbringung von Asylsuchenden, mangelnde Integration (Sprachkurse, Arbeitsangebote) und das Fehlen von ausreichend Betreuungsangeboten.

    Stattdessen gibts massenhaft Populismus von allen politischen Richtungen, um das Volk zu beruhigen oder Wählerstimmen zu fangen. Das ist unsere Regierung im Jahr 2024...

  • Danke für die klaren verständlichen Einordnungen.

  • "Binnengrenzen" sind das nicht. Ich wundere mich immer wieder über diese Wortwahl. Eine Binnengrenze gibt es vielleicht zwischen Berlin und Brandenburg. Zwischen Deutschland und Österreich aber verläuft die Grenze zwischen zwei souveränen Staaten. Über die kann man nicht leichtfertig ohne Pass und Visum spazieren. Österreich braucht auch niemanden "zurücknehmen", denn die Migranten sind ja bereits in Östereich. Sie dürfen halt nicht nach Deutschland einreisen: das kann Österreich doch nicht erzwingen. Nach Artikel 16a ist diese Zurückweisung auch vom deutschen GG her völlig in Ordnung. Deutschland weicht damit auch nicht vom aktuellen und auch nicht vom künftigen Europäischen Asylsystem ab. Beide sehen die Registrierung an den Außengrenzen der EU vor, nicht die Registrierung in Deutschland.

  • Solange Deutschland fast jeden aufnimmt, der von anderen EU-Ländern durchgeleitet wir, ist deren Interesse einer europäischen Lösung gering.



    Nur Druck kann eine Änderung und faire Verteilung bringen.