Rede im US-Kongress: Netanjahu wütet gegen Proteste
Israels Premier zeigt sich bei seiner Rede in Washington uneinsichtig und skizziert eine Nachkriegsordnung ohne Hamas. Die wirft ihm Lügen vor.
![](/picture/7140642/624/35877286-2.jpeg)
Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu spricht im US-Kongress Foto: dpa
WASHINGTON taz | Politisch, wütend und ohne Einsicht. Mit diesen drei Worten lässt sich die Rede des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu vor dem US-Kongress zusammenfassen. Er wurde am Mittwoch mit stehenden Ovationen im Kapitol empfangen. Doch die feierliche Atmosphäre konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Unterstützung für Netanjahu unter den Abgeordneten und Senatoren schwindet.
Der Grund dafür ist das Vorgehen des israelischen Militärs in Gaza. Laut der Gesundheitsbehörde in Gaza, die der Hamas untersteht, sind seit dem Beginn des Kriegs mehr als 39.000 Menschen getötet worden. Ein Großteil der Opfer sind Zivilisten, darunter auch Frauen und Kinder. Vor allem unter Demokraten ist der Rückhalt für Netanjahu und dessen Regierung in den vergangenen Monaten stark zurückgegangen.
Laut der Nachrichtenagentur ap boykottierten mehr 60 demokratische Abgeordnete und Senatoren Netanjahus Rede. Die Demokratin Rashida Tlaib, die erste palästinensisch-amerikanische Abgeordnete, hielt während Netanjahus Ansprache eine Tafel mit den Worten „War Criminal“ (Kriegsverbrecher) auf der einen Seite und „Guilty of Genocide“ (Schuldig des Genozids) auf der anderen hoch. Sie brachte damit nicht nur die Gefühle vieler ihrer Parteigenossen zum Ausdruck, sondern auch die Meinung vieler US-Bürger.
Netanjahu skizzierte seine Vorstellung von einer Nachkriegsordnung im Gazastreifen. Seine Vision sei „ein entmilitarisierter und deradikalisierter Gazastreifen.“ Israel strebe „keine Umsiedlung“ des Gazastreifens an. „Aber für die absehbare Zukunft müssen wir dort die oberste Sicherheitskontrolle behalten, um das Wiederaufleben des Terrors zu verhindern und sicherzustellen, dass der Gazastreifen nie wieder eine Bedrohung für Israel darstellt,“ sagte Netanjahu. Der solle eine zivile Verwaltung haben, an deren Spitze „Palästinenser stehen, die nicht versuchen, Israel zu zerstören“.
Proteste in Washington
Während er im Kapitol sprach, kam es in der US-Hauptstadt zu Protesten. Tausende versammelten sich in der Nähe des Kapitols, um gegen die israelische Regierung, Netanjahu und den Krieg zu protestieren. Sie forderten einen sofortigen Waffenstillstand. Sie riefen die US-Regierung dazu auf, keine weiteren Waffen an Israel zu liefern.
![Auch Mitglieder einer antizionistischen ultra-orthodoxen jüdischen Organisation protestieren vor dem US-Kapitol gegen Netanjahu Auch Mitglieder einer antizionistischen ultra-orthodoxen jüdischen Organisation protestieren vor dem US-Kapitol gegen Netanjahu](/picture/7140642/624/Netanjahu-1.jpeg)
Auch Mitglieder einer antizionistischen ultra-orthodoxen jüdischen Organisation protestieren vor dem US-Kapitol gegen Netanjahu Foto: Jose Luis Magana/AP/dpa
Vor der Union Station, dem Hauptbahnhof der Stadt, kam es auch zu Vandalismus als Statuen und Denkmäler mit Hamas-Parolen beschmiert wurden und die US-Flagge mit der Palästinensischen ersetzt wurde. Das Sternenbanner wurde von den Demonstranten auch in Brand gesteckt.
Netanjahu richtete sich in seiner Rede auch direkt diese Demonstranten: „Es ist unglaublich, aber viele Anti-Israel-Demonstranten entscheiden sich dafür, auf der Seite des Bösen zu stehen. Sie stehen auf der Seite von Hamas. Sie stehen auf der Seite von Vergewaltigern und Mördern“.
Er behauptete auch, dass die Anti-Israel-Proteste in den USA vom Iran finanziert werden würden. Das hatte die amerikanische Geheimdienstdirektorin Avirl Haines im vergangenen Monat in einer Stellungnahme angedeutet. „Sie sind offiziell zu Irans nützlichen Idioten geworden“, sagte der 74-Jährige.
Es war bereits Netanjahus vierte Rede vor dem US-Kongress und die erste seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober, bei dem in Israel mehr als 1200 Menschen getötet wurden. Im Gegensatz zu seinen vorherigen Auftritten hatte diese Rede einen deutlich politischen Unterton.
Netanjahu weiß um die aktuellen Vorkommnisse in der US-Politik. Er bedankte sich sowohl bei Präsident Joe Biden als auch bei dessen Vorgänger Donald Trump für deren Unterstützung Israels. Mit beiden wird er sich bei dieser Reise auch persönlich treffen.
Netanjahu will schnellere US-Waffenlieferungen
Und auch mit Vizepräsidentin Kamala Harris, der aktuellen Favoritin auf die demokratische Nominierung für das Präsidentenamt, wird sich Netanjahu zusammensetzen. Er weiß, dass Israel amerikanische Unterstützung braucht, um nicht nur den Krieg in Gaza zu gewinnen, sondern auch für Stabilität in der Region zu sorgen.
„Amerika und Israel müssen zusammenstehen. Wenn wir zusammenstehen, passiert etwas ganz Einfaches: Wir gewinnen, sie verlieren“, erklärte Netanjahu, der für eine Beschleunigung von US-Waffenlieferung plädierte.
Er sprach auch den Internationalen Strafgerichtshof (ICC) in seiner Rede an. Dieser hatte im Mai einen Haftbefehl gegen Netanjahu wegen mutmaßlicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen beantragt. Netanjahu erklärte, dass der ICC versuche, „Israel die Hände zu fesseln“.
Israel Premier versprach alles dafür zu tun, um die mehr als 100 Geiseln, die noch immer von Hamas in Gaza festgehalten werden zu befreien. Die Biden-Regierung erklärte im Gespräch mit Journalisten, dass Verhandlungen über einen Waffenstillstand und die gleichzeitige Auslieferung der Geiseln positiv verliefen.
Angehörige der Geiseln enttäuscht
Bedenken darüber, dass Netanjahu die Verhandlungen bis zu den US-Wahlen im November hinauszögern könnte, wurde von Regierungsmitgliedern zurückgewiesen. Netanjahu hat in den vergangenen Monaten nicht nur viel Rückhalt in den USA, sondern auch in Israel eingebüßt. Es wird erwartet, dass ein Ende des Kriegs in Gaza auch das Ende von Netanjahus Macht sein wird. Die Rede im US-Kongress dürfte daran nichts geändert haben.
In einer ersten Reaktion ist Netanjahus Rede laut der Nachrichtenagentur ap bei den Familien von acht im Gazastreifen festgehaltenen amerikanischen Geiseln nicht gut angekommen. Sie seien „zutiefst enttäuscht“, dass er nicht garantiert habe, dass die Geiseln nach Hause kommen werden, erklärten sie in einer gemeinsamen Mitteilung.
Netanjahu habe versäumt, „neue Lösungen oder einen Weg voran“ aufzuzeigen und sich zu einem möglichen Abkommen zur Freilassung der Geiseln zu bekennen, das auf dem Tisch liege und zu dessen Abschluss er von Verteidigungs- und Geheimdienstvertretern aufgefordert wurde. Die Familien riefen ihn dazu auf, den Deal unter Dach und Fach zu bringen, „bevor es zu spät ist“.
Hamas: „Gerede eine glatte Lüge“
Die islamistische Hamas erklärte in einer Stellungnahme laut dpa: „Netanjahus Gerede über verstärkte Bemühungen um die Rückkehr der Geiseln ist eine glatte Lüge und führt die israelische, amerikanische und internationale Öffentlichkeit in die Irre.“ Netanjahu hatte in seiner Rede keine Vereinbarung über eine Waffenruhe verkündet.
Er sei derjenige, „der alle Bemühungen zur Beendigung des Krieges und zum Abschluss eines Abkommens“ über die Freilassung der Geiseln im Austausch gegen palästinensische Häftlinge in israelischen Gefängnissen vereitelt habe, teilte die Hamas weiter mit. Und das trotz der Bemühungen der Vermittler und der „Flexibilität“, die die Hamas bei den Verhandlungen gezeigt habe. „Man mache Netanjahu für die Folgen dieser Situation und für das Schicksal der Geiseln im Gazastreifen verantwortlich, hieß es.
Die für diesen Donnerstag angekündigte Reise einer israelischen Delegation nach Katar zu den indirekten Verhandlungen mit der Hamas verschiebt sich weiter. Sie werde nun erste kommende Woche erwartet, bestätigte eine israelische Repräsentantin.
Leser*innenkommentare
Käptn Blaubär
Moderator*in
Vielen Dank für eure Beiträge, wir haben die Kommentarfunktion geschlossen.
Jim Hawkins
Klasse Artikel,
Ist nicht als Kommentar gekennzeichnet, ist aber einer.
Die Zahlen der Hamas werden unkommentiert als Wahrheit präsentiert.
Und dann dürfen die islamistischen Terroristen noch zu Protokoll geben, dass Netanjahu ein Lügner ist.
So geht Nahost Berichterstattung heute.
Pi-circle
Es wird kommen wie von Netanjahu in Washington DC angekündigt: nach dem Gaza-Krieg wird der Gaza-Streifen demilitarisiert, es gibt dort dann eine zivile palästinensische Verwaltung (ohne Hamas) und die Polizei wird in den kommenden Jahrzehnten von den Israelis gestellt.
Ist das realistisch? Aus meiner Sicht realistischer als eine 2-Staatenlösung.
Squirrel
Netanyahu gehört vor Gericht. Das er immer wieder an die Macht gewählt wird ist eine Katastrophe.
Das Verhalten der Hamas ist allerdings schlicht unerträglich. Israel sollt die Bedingungslose Freilassung und die Auslieferung sämtlicher Hamasschlächter, die daran beteiligt waren, fordern. Alles, was nach dem Überfall geschehen ist, hat ausschließlich die Hamas zu verantworten. Auch das Leid der Palästinenser.
hamann
@Squirrel Die Missachtung des Völker-und Kriegsrechts im faktisch besetzten Gaza und den annektierten Gebieten im Westjordanland haben die Entscheidungsträger in Israel zu verantworten und es wird Zeit, dass sie vor Gericht gestellt werden.
O.F.
@Squirrel Mit Verlaub, aber das ist auf dem Niveau derer, die das Hamas-Massaker als legitimen Freiheitskampf darstellen. Keine Konfliktpartei – egal ob Angreifer oder nicht – agiert in einem rechtsfreien Raum, erlittenes Unrecht legitimiert keine begangenes. Wenn Israel Kriegsverbrechen begeht, ist dafür Israel verantwortlich, egal was Hamas gemacht hat.
Pi-circle
Laut einer Recherche des ZDF von 12/2023 wird die Hamas von der palästinensische Autonomiebehörde, Katar und dem Iran finanziert (in dieser Reihenfolge). Der größte Geldgeber der palästinensischen Autonomiebehörde sind die EU, die USA und Israel. Außerdem verfügt die Hamas über ein internationales Firmengeflecht. HGier sind die genauen Geldströme nicht bekannt. Wenn behauptet wird, dass die Hamas nicht durch den Iran finanziert werde, ist das ein alternativer Fakt. Allerdings wurde die Hamas auch indirekt durch die EU, USA und Isarael finanziert und das war ziemlich dumm.
Horst Schlichter
Ich habe vollstes Verständnis für die Bekämpfung der Hamas.
Gaza in Schutt und Asche zu legen und über 30.000 Zivilisten zu töten, kann so nicht hingenommen werden.
Der Hass wird bleiben, jahrzehntelang.
Bei der jahrelangen Siedlungspolitik im Westjordanland hört mein Verständnis auf. Das ist kriminell.
Netanjahu gehört vor Gericht. Die Geheimdienstchefs, die offenbar völlig versagt haben, ebenfalls.
Ernie
Netanjahu ist am Ende. Jetzt fügt er Israel noch maximalen Schaden zu.
tomás zerolo
@BUDZYLEIN
Nicht, dass mir die Hamas sympathisch wäre. Es ist eine Terrororganisation.
Aber Netanjahu ist auch nicht gerade [1] sauber. Die Proteste gegen ihn also durchaus berechtigt.
[1] www.timesofisrael....n-up-in-our-faces/
Budzylein
Die Hamas als Geiselnehmerin wirft Netanjahu also vor, nicht genug für die Freilassung der Geiseln zu tun und für deren "Schicksal" verantwortlich zu sein. Ein klassischer Fall von sich selbst widerlegender Propaganda. Nein, es ist kein Schicksal; solange die Geiseln nicht von Israel befreit worden sind, ist es allein die Hamas, die dafür verantwortlich ist, wie sie die Geiseln behandelt und ob und wann sie sie freilässt.
Janix
Krasser Gegensatz zur bescheidenen, sachlichen und doch positiv inspirierenden Rede Bidens.
Netanyahu bleibt in seiner ewigen Dauerattacke kleben, mit den schärfsten Worten für Menschen, die einfach nur Menschenrecht, Völkerrecht und Menschenleben ernster nehmen als er. Er schadet damit langfristig dem eigenen Land, der eigenen politischen Kultur, dem Ansehen, der Geltung des Rechts, auf das jedes Land angewiesen ist.
Nein, keine Entschuldigung für das, was die Hamas tat. Aber dies wiederum ist keine Entschuldigung für das, was Netanyahu jetzt tut! Und schamlos sein Spiel ohne Rücksicht auf Verluste anderer durchzieht: sehr, sehr unangenehm.
DocSnyder
@Janix Das Beste was Netanyahu tun könnte wäre zurückzutreten und jemanden Israels Führung zu überlassen, dem das Leben der Geiseln wichtiger und ein langfristiger Frieden wichtiger ist.
Rückwirkend betrachtet war Biden ein doch sehr guter und vor allem angenehmer Präsident der USA, das komplette Gegenteil seines israelischen Amtskollegen.
Rudi Hamm
@Janix So perfekt beschrieben, dass ich mir einen eigene Kommentar spare und mich deinem anschließe.