Stationierung von Mittelstreckenwaffen: Tomahawks für Deutschland

Deutschland hat der Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen zugestimmt. Einst demonstrierten dagegen Millionen. Was ist heute davon zu halten?

Menschen stehen vor dem Zaun eines Militärstützpunktes, Schwarz-weiß-Aufnahme

Protest der Friedensbewegung gegen Pershing-II-Raketen 1987 Foto: Thoams Pflaum/visum

1. Was haben die USA und Deutschland eigentlich da jetzt vereinbart?

Am Rande des Nato-Gipfels in Washington haben die Regierungen der beiden Länder am 11. Juli eine gemeinsame Erklärung veröffentlicht, nach der ab 2026 mehrere weitreichende landgestützte US-amerikanische Waffensysteme zunächst temporär, schließlich dauerhaft in Deutschland stationiert werden sollen. Dabei handelt es sich laut Erklärung um „SM-6, Tomahawks und derzeit in Entwicklung befindliche hypersonische Waffen“. Sie verfügen über eine deutlich größere Reichweite als die derzeitigen landgestützten Systeme in Europa.

2. Was sind das für Waffensysteme?

SM-6 steht für Standard Missile 6. Dabei handelt es sich um eine Mehrzweckrakete des US-amerikanischen Rüstungskonzerns Raytheon, deren neueste Version eine Reichweite von bis zu 1.600 Kilometer haben soll. Die Waffe könne für die Luftabwehr, die Abwehr ballistischer Raketen und von Marschflugkörpern sowie für Angriffe gegen Schiffe und auch andere Ziele eingesetzt werden.

Ebenfalls zum Portfolio von Raytheon gehören die Tomahawk Cruise Missiles. Das sind Marschflugkörper, die in ihrer aktuellen Variante (R/UGM-109H Tomahawk Block Vb) über eine Reichweite von über 1.650 Kilometern verfügen. Der Konzern wirbt für seine Kriegswaffe, dass es bereits „mehr als 2.350 Mal in einer operativen Umgebung eingesetzt“ worden sei, zuletzt in diesem Jahr von der Marine der USA und Großbritanniens gegen Stellungen der Huthis im Jemen. Die Tomahawks können auch atomar bestückt werden, sollen aber – zumindest vorerst – nur mit konventionellen Gefechtsköpfen ausgestattet sein.

Mit „hypersonischen Waffen“ sind Hyperschallraketen gemeint, in den USA ist von Long-Range Hyper­sonic Weapon (LRHW) die Rede. Sie werden auch Dark Eagle genannt und von der US-Rüstungsschmiede Lockheed Martin produziert, einem Sponsor der Münchner Sicherheitskonferenz. Die Raketen führen im Innern ihrer Spitze einen Gleitflugkörper mit. Nach Erreichen der Flughöhe in den äußeren Bereichen der der Erdatmosphäre löst er sich vom Rest der Rakete und gleitet dann mit Hyperschallgeschwindigkeit – mehr als fünffache Schallgeschwindigkeit – in Richtung seines bis zu knapp 2.800 Kilometer vom Abschussort entfernten Ziels.

Dark Eagle befindet sich noch in der Entwickungsphase, Ende Juni berichtete das US-Verteidigungsministerium über den erfolgreichen Test einer von Hawaii aus gestarteten Hyperschallrakete. Laut einem Bericht des Forschungsdienstes des US-Kongresses soll die Waffe nun in die Serienproduktion gehen, die ersten Raketen sollen Mitte August an die US-Armee ausgeliefert werden.

3. Wo sollen die Mittelstreckenwaffen genau stationiert werden?

Das ist noch nicht bekannt, wahrscheinlich wäre ein US-Stützpunkt in Süddeutschland. Sowohl die SM-6 als auch die Tomahawks gehören eigentlich zur Standardausrüstung der US-Navy, werden also üblicherweise von Schiffen aus abgeschossen. In Deutschland sollen sie vom Boden aus einsetzbar sein.

Hierfür nutzt die US-Armee seit dem vergangenen Jahr die von Lockheed Martin entwickelten Typhon-Raketenwerfer, die auf spezielle Lastwagen montiert werden. Auch die Hyperschallwaffe soll sich von dort aus abschießen lassen. Die Waffensysteme sollen also verhältnismäßig schnell von einem zu einem anderen beliebigen Ort gebracht werden können.

4. Wie viel kosten solche Waffen eigentlich?

Ein Schnäppchen sind sie nicht: Eine SM-6-Rakete kostet umgerechnet zwischen 3,2 und 4 Millionen Euro, ein Tomahawk-Marschflugkörper je nach Version zwischen 550.000 und 1,8 Millionen Euro. Die Kosten für eine Dark-Eagle-Rakete werden auf 41 Millionen Euro geschätzt. Hinzukommen noch die Typhon-Raketenwerfer, für deren Beschaffung die US-Army im kommenden Jahr Kosten von insgesamt etwa 215 Millionen Dollar angemeldet hat.

5. Wie viel kostet die Stationierung?

Für die Waffensysteme müssten eigentlich die USA aufkommen, die ja auch nach der Verlagerung nach Deutschland vollständig die Verfügungsgewalt über sie behalten. Ein US-Präsident Donald Trump könnte allerdings auch eine andere Rechnung aufmachen. Außerdem lässt sich aktuell nicht sagen, wie sich mögliche Kosten für die eventuell notwendige Bereitstellung von Infrastruktur auf den Bundeshaushalt auswirken können. Hier gab sich das Bundesverteidigungsministerium gegenüber der taz sehr zugeknöpft.

6. Hat der Bundestag bei der Stationierung solcher Waffen in Deutschland nicht ein Wörtchen mitzureden?

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Wahrscheinlich nicht. In einer früheren Entscheidung anlässlich der Stationierung von Pershing-2-Mittelstreckenraketen und Marschflügkörpern in der Bundesrepublik hat das Bundesverfassungsgericht das jedenfalls 1984 verneint (Az. 2 BvE 13/83). Damals hatte die grüne Bundestagsfraktion vergeblich dagegen geklagt, dass die damalige Bundesregierung der Raketenaufstellung im Rahmen des Nato-Doppelbeschlusses ohne spezielle gesetzliche Ermächtigung zugestimmt hatte. Bei einer Gegenstimme befanden die Karlsruher Richter, dass die Rechte des Bundestages weder unmittelbar gefährdet noch verletzt worden seien.

7. Was ist eigentlich damals aus den Pershing II und Cruise Missiles geworden?

Nachdem die USA und die Sowjetunion am 8. Dezember 1987 das Intermediate Range Nuclear Forces-Abkommen, kurz INF-Vertrag, zum Verzicht auf atomare Mittelstreckenraketen unterzeichnet hatten, wurden bis Mitte 1991 alle ab 1983 in der BRD stationierten Pershing-II-Raketen und Tomahawk-Marschflugkörper vereinbarungsgemäß demontiert und zerstört.

8. Warum gilt der INF-Vertrag nicht mehr?

Mit dem INF-Vertrag vereinbarten die USA und die Sowjetunion die Abschaffung aller ihrer landgestützten ballistischen Raketen und Marschflugkörper mit kürzerer sowie mittlerer Reichweite, also von 500 bis 5.500 Kilometern. Und sie verpflichteten sich, keine neuen herzustellen. Dadurch wurde die Welt ein ein ganzes Stück sicherer. Doch im Februar 2019 kündigte die US-Administration den INF-Vertrag, weil sie Russland vorwarf, ihn durch die Stationierung von atomar bestückbaren Kurzstreckenraketen in Kaliningrad systematisch unterlaufen zu haben.

Direkt im Anschluss kündigte Russland seinerseits das Abkommen und warf der USA ebenfalls Vertragsbruch vor. Offiziell endete am 2. August 2019 dieser historische Abrüstungsvertrag. Seit diesem Tag dürfen die beiden Länder nun wieder ohne Beschränkungen landgestützte und atomar bestückbare Mittelstreckenwaffen bauen. Was sie auch tun.

9. Gegen den Nato-Doppelbeschluss wurde heftig protestiert, warum gibt es heute keinen solchen Aufschrei?

Dass eine derart große Friedensbewegung wie Anfang der 1980er Jahre derzeit nicht in Sicht ist, hat einen zentralen Grund: den Überfall Russlands auf die Ukraine, der den Traum von einer friedlicheren Welt für viele Menschen in weite Ferne gerückt hat. Die Gefahr eines russischen Angriffs auf Nato-Territorium, gar auf Deutschland erscheint ihnen hingegen realer als vor vier Jahrzehnten.

10. Und deswegen gibt es keine Friedensbewegung mehr?

Nun ja, es gibt sie schon noch. Aber ihre Reste haben ein Glaubwürdigkeitsproblem. Denn neben einer Reihe von sehr integeren Menschen gibt es in der noch bestehenden Friedensbewegung auch einen nicht unrelevanten Teil mit einer – vorsichtig formuliert – unklaren Haltung gegenüber Putins Russland.

Obwohl es eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein müsste, fordern diese weder den Rückzug Russlands aus der Ukraine noch den Abzug der in der Ostsee-Exklave Kaliningrad stationierten und nuklear bestückbaren Iskandar-Kurzstreckenraketen, die mit einer Reichweite von bis zu 500 Kilometern Warschau, Berlin oder Kopenhagen erreichen können.

11. Dann ist also Protest gegen die Raketenstationierung diesmal nicht gerechtfertigt?

Das wäre eine falsche Schlussfolgerung. Die Friedensbewegung Anfang der 1980er Jahre richtete sich – zumindest in ihrer Mehrheit – sowohl gegen die US-amerikanischen Pershing-II- als auch gegen die sowjetischen SS 20-Mittelstreckenraketen. Denn beide machten die Welt nicht sicherer.

Und das gilt auch heute noch: Angriffstaugliche Systeme mit der Reichweite, der Geschwindigkeit und der Durchschlagskraft von Mittelstreckenwaffen welcher Herkunft auch immer erhöhen die Gefahr eines neuen, diesmal möglicherweise finalen Weltkriegs, selbst wenn sie (noch) nicht atomar bestückt sind. Aufgrund unglaublich geringer Vorwarnzeiten ist das Risiko einer unbeabsichtigten militärischen Eskalation immens hoch. Deswegen bringt ein bloß militärisches Denken keine Sicherheit.

So unrealistisch sie auch zur Zeit erscheinen mag, bleibt die Forderung der alten Friedensbewegung nach einer weitreichenden Abrüstung in Ost und West daher nach wie vor aktuell.

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