Sozialdemokratie in Europa: Die verblasste Erzählung der SPD
In Großbritannien steht die Labour-Partei vor einem Wahlsieg. Was die SPD tun müsste, um ebenfalls ein Comeback zu feiern.
![Ein Mann und eine Frau, bürgerlich gekleidet, stehen auf einer schwankenden Leiter und schauen ängstlich in ein schwarzes Loch Ein Mann und eine Frau, bürgerlich gekleidet, stehen auf einer schwankenden Leiter und schauen ängstlich in ein schwarzes Loch](/picture/7089408/624/35680488-1.jpeg)
Multiple Krisen bedrohen das Aufstiegsversprechen Illustration: Katja Gendikova
Der Sozialdemokratie wird mal wieder das Totenglöcklein geläutet. Sozialdemokraten führen in Europa nur noch in ein paar Staaten Regierungen an. Rechtspopulisten drängen mit Schwung an die Macht, die Sozialdemokraten stehen ratlos daneben.
Ein Lichtschein in der Finsternis ist die nahende Wahl in Großbritannien, die Labour wohl triumphal gewinnen wird. Labour-Chef Keir Starmer hat die Partei auf einen Mitte-Kurs gezwungen. Ist das Vorzeichen eines Umschwungs? Nach dem Sieg der Liberalen in Polen nun ein Sieg der Linken über die Brexit-Konservativen in London? Kann die SPD davon etwas lernen?
Die Ausgangslage ist ziemlich anders als 1997 und 1998, als Tony Blair und Gerhard Schröder an die Macht kamen. Damals waren die britische und die deutsche Wirtschaft zusammengenommen drei Mal so groß wie die indische und chinesische. Heute ist das BIP von China und Indien drei Mal so groß.
Großbritannien ist nach eineinhalb Jahrzehnten Tory-Regierung in desolatem Zustand. Die Kinderarmut ist hoch, die Kluft zwischen Reich und Arm spektakulär. Ein deutsches Gericht hat 2023 verboten, einen Straftäter auszuliefern – die britischen Knäste seien aus humanitären Gründen unzumutbar. Kurzum: Labour gewinnt die Wahl nicht, die Tories verlieren sie.
Keir Starmer ist für die SPD kein Vorbild. Er hat – Spalten statt Versöhnen – den linken Flügel aus der Partei gemobbt, seinen Vorgänger Corbyn aus der Fraktion geworfen und Ken Loach aus der Partei. Der ist nicht nur einer der bedeutendsten britischen Filmregisseure – er hat auch jenen warmen, empathischen Blick auf gewöhnliche Leute, der der Apparate-Sozialdemokratie schmerzhaft fehlt. Loach quittierte den Rauswurf mit der süffisanten Bemerkung, Starmer wirke auf seinem Anti-links-Feldzug wie Mr. Bean, der sich in Stalin verwandelt.
Wenn die soziale Mitte Aufrüstung, Erhalt des Sozialstaates und Klima-Umbau bezahlen soll, werden die Statusängste weiter wachsen
Labour erscheint 2024 als blutarmer Technokraten-Club, der leidenschaftslos Sachzwänge exekutiert. Ein geplantes Öko-Investitionsprogramm, das rund 35 Milliarden Euro pro Jahr kosten würden, wurde beerdigt. Starmer will unbedingt einen schuldenfreien Haushalt – klingt bekannt. All das ist wenig erfolgversprechend. Foreign Affairs, eher kein linkes Kampfblatt, warnt, dass Labour untergehen wird, wenn es auf Sparen und „Weiter so“ setzt.
Trotzdem: Muss die SPD, um in Zeiten des Rechtsrucks Wahlen zu gewinnen, in die Mitte rücken und alles Linke abstreifen? Auf diese Frage gibt es keine richtige Antwort. Denn sie suggeriert, dass „Mitte“ und „links“ ein Gegensatzpaar sind. Das stimmt 2024 so nicht. Um die Mitte zu erobern oder sie wenigstens nicht zu verlieren, müssen Sozialdemokraten linke Politik machen.
Verlustangst in der Mitte
Dafür gibt es ein paar Gründe: Statusangst ist einer davon. Ein recht sicherer Indikator für die Stimmung der Deutschen ist das Sparbuch. Die Deutschen sparen weniger. 2020 legten noch 70 Prozent etwas zurück, 2023 war es nur noch jede Zweite – wegen der Inflation und steigender Mieten. Die Reallöhne sanken 2022 um 4 Prozent, so stark wie noch nie in der Bundesrepublik. Ein Fünftel der privaten Haushalte hatte 2023 seine Rücklagen aufgebraucht. Auch in der sozialen Mitte ist es Usus geworden, auszugeben, was reinkommt.
Das Phänomen der Verlustangst in der Mittelschicht ist komplex. Es geht dabei um Geld, vor allem aber um Status – wie man sich selbst wahrnimmt und wahrgenommen glaubt. Eine Studie in Finnland hat 2022 gezeigt, dass nicht jene, die einen realen Statusverlust hinter sich hatten, rechtsextrem wählen, sondern jene, die ihn befürchten. Das gilt auch für viele in der oberen Mittelschicht, von wo der mögliche Fall besonders dramatisch aussieht. Statusangst gehört zu den auf Konkurrenz gebauten Marktwirtschaften wie die Rolex zu Cristiano Ronaldo. In Multikrisenzeiten ist der Statusstress besonders heftig. Martin Wolf, Herausgeber der Financial Times, hält die „Ökonomie der Statusunsicherheit“, die fast alle in vibrierende Unsicherheit versetzt, für einem zentralen Grund für die Krise des westlichen Kapitalismus.
Das grassierende Gefühl, dass man etwas verliert, ist eine Mixtur aus übersteigerter Verlustangst und angemessener Empfindsamkeit. Im welthistorischen Maßstab stehen wir an einer Bruchkante. Europa hat 500 Jahre den Globus geprägt und ausgebeutet. Jetzt neigt sich die Ära des Westens als ökonomisch, politisch und kulturell vorherrschende Macht dem Ende entgegen. Die Globalisierung schlägt zurück. Die stolze deutsche Autoindustrie, Symbol bundesrepublikanischer Überlegenheit, kann bald dort enden, wo die einst ruhmreiche Stahlindustrie schon lange ist.
Verteilungskämpfe stehen an
Die Multikrisen – Ukrainekrieg, Klimawandel, Umbau der Wirtschaft – sind nicht nur Angstbeschleuniger, sie sind auch teuer. Die russische Bedrohung ist unkalkulierbar, der Schutz durch die USA unwägbar geworden. Europa wird mehr für Militär ausgegeben, so bitter das ist. Der deutsche Verteidigungsetat wird Richtung 100 Milliarden Euro jährlich und 4 Prozent vom BIP steigen.
Gleichzeitig ist nach dem törichten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimatransformationsfonds offen, wie der gigantische Umbau der Wirtschaft Richtung Klimaneutralität angeschoben werden kann. Dazu kommen Firmenpleiten und Nullwachstum, höhere Energiepreise und politisch motiviertes derisking im Handel mit Autokratien. Autobahnen und Bahnstrecken weiter verrotten zu lassen ist auch keine gute Idee.
Auch wenn die Schuldenbremse irgendwann mehr oder weniger gelockert wird, stehen Verteilungskämpfe an, die rau und heftig werden, gerade für die bundesdeutsche Sowohl-als-auch-Konsensdemokratie. Alle spüren, dass irgendjemand wird zahlen müssen. Entweder die Ärmeren mit einem gekürzten Sozialetat, die Mittelschicht mit höheren Steuern oder – surprise – die oberen zehn Prozent.
Vor dem Prospekt dieser Verteilungskämpfe muss man auch die beiden deutschen Quasi-Gelbwesten-Aktionen 2023 lesen: den Widerstand gegen das Heizungsgesetz und gegen die Kürzung beim Agrardiesel. Beides waren zum Teil irrationale, angstgetriebene und von Rechten und Lobbygruppen gepushte Kampagnen. Aber sie hatten auch einen rationalen Kern: Wir (Bauern, Fuhrunternehmer, Hausbesitzer – die Reihe wird noch länger werden) werden angesichts von Inflation und Reallohnverlusten diese Krisen nicht bezahlen. Es reicht nicht, den Anti-Eliten- und Angst-Diskurs der AfD irrwitzig zu finden (was er ist), man muss verstehen, warum er funktioniert.
Hat die SPD darauf Antworten? Schemenhaft. Immerhin scheint die Partei nach der Niederlage bei der Europawahl wach geworden zu sein und zu begreifen, dass die Hoffnung, dass Merz noch unbeliebter ist als Scholz, noch keine Strategie ist. Dass die SPD flügelübergreifend eine Lockerung der Schuldenbremse fordert und den Sozialstaat verteidigt, ist erfreulich – aber nicht genug.
Für die Kämpfe, die nun beschworen werden, ist die Partei nur bedingt gerüstet. Die SPD ist eine alternde, schrumpfende Partei, dominiert vom öffentlichen Dienst. Ein Malus ist, dass zu viel vom Kanzler abhängt und es kaum andere Stimmen gibt. Saskia Esken redet wie Scholz, Kevin Kühnert, der sich im Eiltempo vom Rebellen zum Parteisoldaten verwandelt hat, wie Lars Klingbeil. Die vielstimmige SPD, die vom knorrigen Gewerkschafter bis zum feinsinnigen bürgerlichen Intellektuellen reichte, ist Vergangenheit. Auf der Habenseite steht, dass die SPD, anders als die Milieupartei Grüne, als kommunal fest verankerte Organisation und Ex-Volkspartei noch immer Antennen in verschiedene Milieus hat und deren Stimmungen nicht erst aus Boulevardzeitungen erfährt.
Eine sinnstiftende Erzählung fehlt
Allerdings fehlt der SPD etwas Entscheidendes, um die depressiven Zukunftserwartungen – Krieg in der Ukraine, Klimakatastrophe und Statuspanik – zu kontern: eine überwölbende, sinnstiftende Erzählung. Die Grünen haben als Klimarettungsakteur ein strapazierfähiges, verbindliches Narrativ. Die Rechtspopulisten bieten das Völkische als regressives Sinnangebot. Das Narrativ der Sozialdemokraten – kollektive Solidarität und individueller Aufstieg – wirkt in Westeuropa aus vielen Gründen blass und ausgewaschen.
Die Individualisierung hat die Idee und Praxis des Kollektiven geschwächt. Dass Blair und Schröder vor 25 Jahren den Neoliberalismus umarmten, hat den Verfall beschleunigt. Pragmatisch und nicht besonders korrupt zu regieren mögen erfreuliche Eigenschaften sein – aber sie wärmen nicht. Ideen und Bilder, wie es besser werden kann, könnten Statusstress und die angstgetriebene Retro-Sehnsucht nach Gestern kontern und dämpfen. Doch die grundpragmatische, intellektuell genügsame, ideenarme SPD produziert keine Visionen mehr.
Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt hat kürzlich schnittig einen „Populismus der Mitte“ angekündigt. Für die vielen, und jenseits der Berliner Politblasen. Das könnte funktionieren, wenn „Populismus der Mitte“ nicht wie bei Sigmar Gabriel eine funkelnde Idee ist, an die sich in zwei Wochen niemand mehr erinnern kann.
Das könnte klappen, wenn die SPD damit nicht meint, die „hart arbeitende Mitte“ gegen Bürgergeldempfänger auszuspielen, wie es die Rechte derzeit tut. Das könnte klappen, wenn die SPD-Fraktion im Juli nicht zähneknirschend einen Sparhaushalt durchwinkt, der die nächste Gelbwesten-Revolte auslöst. Das könnte klappen, wenn Politik für die Mitte endlich effektive Mietbegrenzungen und (linke) Umverteilungspolitik meint – nicht um antikapitalistische Siege zu feiern, sondern um den demokratischen Kapitalismus vor seinen eigenen Dämonen zu retten.
Wenn die SPD die Statusängste der Mitte einhegen will, muss sie sich in den Verteilungskämpfen auch mit den Eliten anlegen, die in jeder Krise reicher geworden sind. Denn wenn die soziale Mitte Aufrüstung, Erhalt des Sozialstaates und Klima-Umbau bezahlen soll, werden die Statusängste weiter wachsen.
Wer da nach Vorbildern oder Inspirationen sucht, wird nicht in Großbritannien fündig. Sondern eher in Österreich. Dort verbindet der Sozialist Andi Babler, ein linker, erdverbundener Provinzpolitiker, jenseits der ideologischen Trampelpfade Normalität mit Emanzipation. Und zeigt, dass Mitte und links zusammen funktionieren.
Leser*innenkommentare
Bussard
Für die sich so bedroht fühlende Mittelschicht ist es aber leider immer naheliegend, die Finanzierung der geschilderten Herausforderungen mehrheitlich immer von den noch schwächer Gestellten (Migranten, Arbeitslose, Niedriglohner) zu fordern, als von denen, wo das Geld liegt, nämlich von der oberen Mittelschicht und der Oberschicht.
Lindenberg
Gabriel ist jetzt Aufsichtsrat im Dienst der Deutschan Bank, was für ein Verrat an den Idealen der SPD, ganz wie sein Landsmann Schröder, der am Ende der Karriere auch im Dienst des Großkapitals war, dass die kleine Verkäuferin, für die Gabriel einst schwärmte maximal ausbeutet.
Woran Keir Starmer noch glaubt, weiß vermutlich er selbst nicht mehr. Dabei türmen sich die Probleme die Dekaden des Neoliberalismus hinterlassen haben: massive Umverteilung von unten nach oben, kaputte Bahn, Ausverkauf des staatlichen Vermögens an Wohnungen, zu hohe Mieten, keine neuen Sozialwohnungen, Niedergang des Gesundheitswesens und der unteren Lohnstruktur, alles Dinge die in England noch viel ausgeprägter sind, aber auch in weiten Frankreich stark zu spüren waren, für die ein Politiker wie Macron nur eine Antwort kannte: mehr Markt, weniger Staat.
Es wäre an den vielen jungen SPD-Abgeordneten im Bundestag, neue Wege zu finden, ein Blick auf die Kommunisten, SPÖ in Österreich vielleicht.
Aber Intellektualität gibt es in der SPD nicht mehr, auch bei Kühnert, der das Zeug dazu hätte neue Wege aufzuzeigen, wenn er in seinem neuen Amt nicht, wie Reineke genau beobachtet, den Klingbeil geben würde.
Gerald Stolten
Vor allem sollte die SPD mal ihre Zusammenarbeit mit der Organisierten Finanzkriminalität (CumEx...) einstellen.
Solange sie die Kriminellen mit ihrer Beute ungestraft entkommen lässt und von ihnen noch "Spenden" annimmt, bleibt sie unwählbar !
Diese Kleptokraten braucht keiner.
Octarine
Das Land braucht sozialdemokratische Politik, günstige Wohnungen, Zugang zu Bildung, ein funktionierendes Gesundheitswesen, Einkommen und Rente von der man leben kann und Frieden.
Die SPD wurde gewählt in der Erwartung, dies als ihre Aufgabe zu betrachten, dies umzusetzen.
Sie hat es nicht getan, wieder ist die Befriedigung anderer Interessen wichtiger.
Damit stellt sich die Frage, warum sollten Menschen eine Partei wählen, die nicht für sie handelt.
Janix
1997 hatte Lafontaine die deutsche Sozialdemokratie wiederbelebt, programmatisch klar links und dabei modern. Was das über Schröder unterdrückt wurde, mit bekannten unguten Folgen.
Während Blair wie Starmer von Beginn den Fehler machten, sich für richtige soziale Politik irgendwie zu schämen.
Nein: Was die Tories/Union an Fiesem machten, gehört umgedreht, und das hat auch eine Mehrheit.
Kohlrabi
Ein Unterschied zu Großbritannien ist vielleicht auch, dass im UK die am meisten arbeiterfeindliche Politik von Maggie Thatcher gemacht wurde, während in Deutschland die konservativ geführten Regierungen Kohl und Merkel keinen expliziten Klassenkampf von oben führten. Das war vielmehr dem "Genossen der Bosse" mit seiner Agenda 2010 vorbehalten.
Dadurch ist nicht nur einfach ein Imageschaden entstanden, sondern das klassische sozialdemokratische Milieu der sozial abgesicherten "Arbeitnehmerlage" ist deutlich geschrumpft worden, die "Zone der Verwundbarkeit" (nach R. Castel) dagegen vergrößert. Vorher hatte die SPD in Zeiten der Stärke 40%, in Zeiten der Schwäche nie unter 30%. Jetzt liegt die Schwankungsbreite zwischen 25% und 15%.
"Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt - es ist niemals gutzumachen." (Kafka: Ein Landarzt)
Abgesehen davon fragt es sich ja, warum man als Sozialdemokrat eine Partei wählen soll, die auf den im Artikel beschriebenen unumgänglichen relativen Abstieg des "Westens" mit einer Erhöhung der Rüstungsausgaben auf 4% des BIP reagieren wird (wie im Artikel in Aussicht gestellt).
Dietmar Rauter
Viel Stoff zu Nachdenken, insbesondere auch dahingehend, wie der Brexit verarbeitet wurde. Ist es durch die Nachkriegserfahrung, dass viele Menschen bei uns für eine neue -nicht zuletzt US-Kapital angeschobene- Konsum- und Profit-Wirtschaft gebraucht wurden und damit ein besonderes Mittelschichtserlebnis entstand. Und heute, wo viele Jobs einfach der Produktivitätssteigerung zum Opfer fielen zugunsten einer Dienstleistungsgesellschaft, die nur deswegen möglich war, weil immer mehr Profite über den 'Weltmarkt' realisiert wurden. Waterloo: Jetzt gehen auch hierzulande die Lichter der Profitwirtschaft aus, es wird weniger 'Kohle' gefördert, die für Auskommen und Wohlstand sorgt... hierzulande und schon länger auf der Insel.
o_aus_h
Ob Babler es aber auch schaffen wird, eine Regierung zustande zu kriegen, bleibt völlig offen. Mit aktuell 23% ist schwer Kanzler werden.
Plewka Jürgen
Der Lobgesang für die SPÖ verwundert. In der letzten Wahlumfrage, bevor Babler Parteivorsitzender wurde (Juni 2023), lag die SPÖ bei 24%, aktuell sind es 22%. Bei einer Direktwahl des Kanzlers würden 14% für ihn stimmen, damit läge er hinter den Kandidaten der FPÖ und ÖVP.
Das Problem mit der SPD besteht darin, dass es nach den Wahlniederlagen mit den Spitzenkandidaten Steinbrück, Steinmeier und Schulz und der innerparteilichen Protestbewegung (Kühnert und andere) gegen eine große Koalition tatsächlich eine tiefgehende selbstkritische Auseinandersetzung gegeben hat. Das Ergebnis ist nachlesbar in einer Analyse der verlorenen Wahlkämpfe, die öffentlich verfügbar gemacht wurde und zur Grundlage für die Konzipierung der Wahlkampagne 2021 wurde.
Die SPD hat sich da tatsächlich neu erfunden, ist mit der richtigen Schwerpunktsetzung in den Wahlkampf gegangen ... um anschließend erneut in eine Koalition zu geraten, in der (auch notgedrungen) die gleichen Fehler gemacht wurden wie zuvor.
Von sozialdemokratischem Profil ist kaum noch etwas zu sehen und - höchstproblematisch - die glaubwürdigen Vertreter im letzten Wahlkampf (Klingbeil, Kühnert, Scholz) sind verbrannt.
XXX
"Die Grünen haben als Klimarettungsakteur ein strapazierfähiges, verbindliches Narrativ. Die Rechtspopulisten bieten das Völkische als regressives Sinnangebot."
Die AfD und das BSW haben zudem noch "Frieden schaffen durch Verhandlungen" als Alleinstellungsmerkmal. Komisch, irgendwann war das einmal ein breiter Konsens innerhalb der "Linken". Wenn man so etwas entscheidendes aufgibt, warum wundert man sich eigentlich noch über Misserfolge bei Wahlen?
Ciro
Verlustängste treibt Extremisten. Werde die Sozial- oder Politikwissenschaft nicht widerlegen (können), aber ich verstehe es nicht, im Gegenteil würden sie es schlimmer machen.
Sie wollen die EU schwächen, also ob ein Land allein sich global durchsetzen könnte. Sie sind näher am Kapital als an den Arbeitnehmer/innen.
justus*
@Ciro Man sollte die Auseinandersetzung mit dieser Partei nicht mit Halbwahrheiten oder gar Falschinformationen führen. Die AfD betont, dass sie nicht gegen die EU ist, sondern gegen einen „Bundesstaat Europa“ mit alleinigem Machtzentrum in Brüssel. Stattdessen fordert sie die Rückkehr zu einem Staatenbund, also einem wirtschaftlichen Zusammenschluss der EU-Staaten, wie es die EWG in den wirtschaftlichen Wachstumsjahren von 1957 – 2009 war.
Ähnlich, wenn auch aus vollkommen anderen Gründen, sieht dies auch das Bündnis Sarah Wagenknecht. Zitat aus dem Europawahlprogramm des BSW: „Die Integration Europas in Richtung eines supranationalen Einheitsstaats hat sich als Irrweg erwiesen, der Europa eher spaltet, als eint. Statt zu mehr Gemeinsamkeit und großen europäischen Antworten auf die Probleme unserer Zeit hat die Zentralisierung von Entscheidungskompetenzen in Brüssel zu wachsenden Spannungen und Konflikten geführt, die ein abgestimmtes Vorgehen behindern.“
Anmerkung: Von Brüsseler Lobbyismus, Vetternwirtschaft, Korruption, Selbstbedienungsmentalität, Ignoranz gegenüber den vielfältigen und liebenswerten, kulturellen Besonderheiten der Völker Europas einmal abgesehen.
Rudi Hamm
Der Erfolg der Labour-Partei liegt einzig daran, dass man die rechten Populisten in die Regierung wählte und nun merkt, dass es nur heiße Luft war und dem Land unglaublich geschadet hat.
So wäre es auch bei uns. Kämen die BeHÖCKErten an die Regierung, würde auch der letzte AfDummheit-Fan schnell bemerken, dass sie außer großen Sprüchen nichts auf dem Kasten haben.
Es wäre mir lieber, sie würden es schon vorher erkennen.
2Cents more
Die Gründe für den Verfall der Sozialdemokratie sehr schön beschrieben, nur wo das Personal für eine glaubhafte Änderung der Parteiprogrammatik ist, die dringend benötigt ist, sehe ich nicht. Traurig.
Andere Meinung
Die Sozialdemokraten haben das falsche Personal, die falsche Programmatik und den falschen Koalitionspartner.
Personal: Nur ein paar Beispiele - Selbst unter Mitgliedern der SPD dürfte es mittlerweile unbestitten sein, dass Olaf Scholz nicht führen kann. Aufgrund der diversen Finanzskandale aus Hamburg ist er auch unabhängig davon nicht tragbar. Eine weitere Unart beim Personalmanagement der SPD ist es unqualifiziertes Personal ohne praktische Berufserfahrung in Spitzenpositionen zu bringen (e.g. Kühnert und Esken). In dem Maße kommen da nur noch die Grünen mit.
Programmatik: Die SPD ist nicht mehr der Vertreter des Arbeiters. Mittlerweile wird sie von der Bevölkerung als der Vertreter des Arbeitslosen gesehen. In den 90ern ds letzten Jahrhundert wäre das mit über 5 Mio Arbeitslosen vielleicht noch eine Erfolgsformel gewesen. Heute bei unter 3 Mio Arbeitslosen aber nunmal nicht mehr.
Koalitionspartner: Die Grünen sind nicht von ungefähr die unbeliebteste Partei der Koalition mit dem größten prozentualen Stimmenverlust bei der Europawahl. Arroganz, Überforderung und Realitätsferne beim grünen Spitzenpersonal lässt dort nur noch einen kompletten Neustart als mögliche Lösung zu.
Šarru-kīnu
In Deutschland gibt es eigentlich große Mehrheiten für im Kern sozialdemokratische Politik ala mehr Umverteilung, mehr Gleichheit, mehr Sozialstaat usw. . Die SPD hat für sich aber irgendwann entschieden, dass ihr die Kernanliegen ihrer eigenen Stammklientel weniger wichtig sind als der Ruf der Wirtschaft nach möglichst billigen und unmündigen Arbeitskräften um das Lohnniveau zu drücken.
BrendanB
"Vorgänger Corbyn aus der Fraktion geworfen und Ken Loach aus der Partei. Der ist nicht nur einer der bedeutendsten britischen Filmregisseure – er hat auch jenen warmen, empathischen Blick auf gewöhnliche Leute, der der Apparate-Sozialdemokratie schmerzhaft fehlt."
Sobald es um Israel und Juden geht, ist der warme Blick von Loach hart wie Kruppstahl und kalt wie Eis.
www.nzz.ch/feuille...s-passt-ld.1750399
Braucht kein Mensch in einer linken Partei.