Neuwahlen in Großbritannien: Ein überfälliger Neuanfang

Noch vor der Sommerpause wählt Großbritannien ein neues Parlament. Die politischen Weichen neu zu stellen ist gut für das Land.

Großbritanniens Premier Rishi Sunak im weißen Hemd bei einer Rede

Rishi Sunak hat aufgeräumt. Die Früchte seiner Arbeit werden andere ernten Foto: HENRY NICHOLLS/via REUTERS

Endlich. Großbritanniens Premierminister Rishi Sunak hat Neuwahlen noch vor der Sommerpause auf den Weg gebracht und damit die politischen Weichen neu gestellt. Dass er die Wahlen verlieren wird und die Konservativen nach vierzehn Jahren an der Macht zurück auf die Oppositionsbänke wandern, gilt als sicher, nicht zuletzt in den Reihen der Konservativen selbst. Seit dem Sturz von Boris Johnson vor zwei Jahren dümpeln die Tories in den Umfragen hoffnungslos abgeschlagen hinter Labour, ihre Moral liegt am Boden und viele ihrer bekannten Gesichter schauen sich bereits nach neuen Karrieren jenseits der Politik um.

Es ist nur logisch, dieses Trauerspiel nicht weiter in die Länge zu ziehen, sondern es pünktlich zu den Sommerferien zu beenden. Sunak mag zwar so tun, als kämpfe er für den Wahlsieg, pflichtbewusst bis zuletzt. Aber die kleine Sekunde nach Abschluss seiner verregneten Wahlankündigungsansprache vor 10 Downing Street, als er mit seinem Manuskript durch war und kurz mit einem intensiven, wehmütigen Abschiedsblick in die Kameras schaute, sprach Bände.

Sunak folgt der alten Londoner Spekulantenweisheit „Sell in May and go away“ – der weitsichtige Geschäftsmann macht von Herbst bis Frühjahr profitable Geschäfte und holt sich dann im Mai den Ertrag, um damit den Sommer zu genießen. Der Ertrag in diesem Fall für die Tories ist das Abwerfen einer zunehmend ungemütlichen Last, nämlich des Regierens eines Landes, das sie nicht mehr sehen kann.

Umwälzung wie 1945 scheint möglich

Der Wahltermin 4. Juli und die Aussicht auf einen Labour-Erdrutschsieg erinnert unweigerlich an Großbritanniens letzte Juli-Wahl – am 5. Juli 1945, als noch vor dem endgültigen Ende des Zweiten Weltkrieges (gegen Japan wurde noch gekämpft) der konservative Weltkriegspremier Winston Churchill von den Wählern in die Wüste geschickt wurde. Seine Labour-Koalitionspartner kamen an die Macht mit dem Versprechen, nach dem Sieg gegen Hitler nun in die Zukunft zu blicken und ein neues, gerechteres Land aufzubauen. Damals rutschten die Konservativen von 48 auf 36 Prozent der Stimmen ab und von 386 auf 189 Sitze im 650 Abgeordnete zählenden Unterhaus, Labour stieg von 38 auf 48 Prozent und von 239 auf 393 Sitze hoch.

Die Umfragen 2024 lassen heute eine mindestens genauso große Umwälzung als möglich erscheinen. Sunak nahm den Anklang an 1945 gleich zu Beginn seiner Wahlankündigung auf, mit dem Satz „In den vergangenen fünf Jahren hat sich unser Land durch die größten Herausforderungen seit dem Zweiten Weltkrieg gekämpft“. Und „ich war nie stolzer, Brite zu sein“, fügte er im Zusammenhang mit der Bewältigung der Pandemie hinzu, bei der er als Finanzminister eine entscheidende Rolle spielte.

Hier sprach der Migrantensohn indischer Abstammung, der erste nichtweiße Regierungschef der britischen Geschichte. Und ein gewisser Ingrimm war Rishi Sunak in den letzten Monaten häufig anzusehen, als die Kritik an ihm immer heftiger und grundsätzlicher wurde und seine Beliebtheitsraten immer weiter in den Keller rutschten, obwohl er es gewesen ist, der nach dem Chaos von Boris Johnson und Liz Truss aufgeräumt hat: Der Inder hat seine Schuldigkeit getan, der Inder kann gehen.

Dienst an der Demokratie

Der scheidende Premierminister sieht sich als der Kärrner, der den Karren aus dem Dreck geholt hat – ein Karren, der nicht nur aus Eigenverschulden im Dreck liegt – entgegen den Vorwürfen der Opposition, entgegen der Wahrnehmung in Teilen der europäischen Öffentlichkeit. Die Misere ist auch nicht nur auf den Brexit zurückzuführen, sondern umfasst eben auch die Herausforderungen der Corona-Pandemie und des Ukraine-Krieges. Die gröbsten ökonomischen Krisensymptome scheinen überwunden.

Ab Juli dürfte also ein Labour-Premierminister namens Keir Starmer die Früchte von Rishi Sunaks Aufräumarbeit ernten können. Ähnlich wie Labour nach 1945 auf der Grundlage von Churchills Sieg im Krieg den Aufbau eines Wohlfahrtsstaates für Friedenszeiten angehen konnte, will die Partei 2024 auf der Grundlage von Sunaks Aufräumarbeit den Reformstau in Großbritannien angehen, der sich im Leben der Menschen immer dringlicher bemerkbar macht.

Insofern sind die vorgezogenen Neuwahlen am 4. Juli ein Dienst an der britischen Demokratie. Die Labour-Wahlsieger werden im Sommer Zeit haben, sich zu sortieren, bevor es im Herbst ernst wird. Die Tory-Wahlverlierer können befreit in den Urlaub fahren. Allen voran Rishi Sunak selbst, dem hartnäckig Umzugspläne mit seiner Familie nach Kalifornien nachgesagt werden, um dort in der globalen Tech-Branche eine zweite Karriere anzugehen.

Labour will regieren. Die Tories wollen nicht mehr regieren. Jetzt darf die britische Wählerschaft daraus die Konsequenzen ziehen. Gut so.

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