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Häusliche Gewalt in DeutschlandUm Jahre zurückgeworfen

Nicole Opitz
Kommentar von Nicole Opitz

Der Anstieg von häuslicher Gewalt zeigt, dass die Pandemie uns als Gesellschaft zurückgeworfen hat. Es braucht mehr Plätze in Frauenhäusern und Geld.

Vor allem braucht es gesellschaftliche Sensibilität und Antigewalttraining für Männer Foto: Sophia Kembowski/dpa

D ie Zahlen zu häuslicher Gewalt sind gestiegen – um 9,3 Prozentpunkte gegenüber dem Pandemiejahr 2021. Das ergab eine Recherche der Welt bei den 16 Innenministerien und Landeskriminalämtern. Die Dunkelziffer ist vermutlich viel höher. Nun sind vor allem Männer überrascht: Huch, das ist ja schrecklich. Und dann geht’s weiter. Viel zu leicht ist das Wegsehen, viel zu komplex das Eingreifen in die vermeintlichen Privatangelegenheiten anderer Leute.

Die Reaktion von Innenministerin Nancy Faeser (SPD) darauf ist denkbar schlicht: Opfer häuslicher Gewalt sollen Anzeige erstatten, außerdem soll es bald mehr Plätze in Frauenhäusern geben.

Es gibt allerdings gute Gründe, warum manche Opfer häuslicher Gewalt (Hilfetelefon: 116016) keine Anzeige erstatten wollen oder können: Wenn ich als Illegalisierte in Deutschland lebe, werde ich dann abgeschoben, wenn ich bei der Polizei Anzeige erstatte? Bin ich finanziell abhängig von meinem Partner? Bin ich pflegebedürftig und bei dem Kontakt mit der Außenwelt auf die Hilfe der Person angewiesen, die häusliche Gewalt ausübt? Es lässt sich eben nicht so einfach beantworten, wie sich ein Gewaltopfer im Zweifelsfall zu verhalten hat.

Und ja, es braucht mehr Plätze in Frauenhäusern. Aber bislang ist noch nicht einmal klar, ob das Ministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend das Kernanliegen Kindergrundsicherung finanziell gestemmt bekommt, da ist es zweifelhaft, wie viel Geld für Frauenhäuser bleibt. Abgesehen davon ist mit einer Anzeige und einem Platz im Frauenhaus nur wenig getan, denn dann hat die Gewalt ja bereits stattgefunden.

Es braucht also politische Präventionsmaßnahmen wie Antigewalttrainings für Männer, die ausgebaut werden müssen. Es braucht aber auch mehr gesellschaftliche Sensibilität: ein Klima, das sexistische Witze am Arbeitsplatz oder in der Kneipe ächtet. Dass es diesen Fortschritt nicht gibt, zeigen die Rückschläge der letzten Jahre: Die Coronapandemie hat die Gesellschaft in Sachen Gleichstellung zurückgeworfen.

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Nicole Opitz
Redakteurin
Seit 2019 bei der taz. Interessiert sich vor allem für Feminismus, Gesundheit & soziale Ungleichheit. BVHK-Journalismuspreis 2023. Derzeit in Schreibpause.
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11 Kommentare

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  • Wieviele Männer kein Problem mit Gewalt gegen Frauen haben, das sieht man aktuell am Fall "Till Lindemann"

    Das ist erschreckend und völlig verstörend.

  • "Die Zahlen zu häuslicher Gewalt sind gestiegen – um 9,3 Prozentpunkte gegenüber dem Pandemiejahr 2021."



    Was ich bei der Berichterstattung hierüber vermisse (übrigens anscheinend überall, das scheint mittlerweile das zu sein, was man unter Journalismus versteht), ist eine zahlenmäßige Einordnung: wie verhält sich das zur Entwicklung von Haushalten und Einwohnern in derselben Zeit?



    Wahrscheinlich zu kompliziert.

  • 4G
    42798 (Profil gelöscht)

    Es braucht vor allem eine Abkehr vom patriarchal geprägten Alltag: finanzielle Abhängigkeiten, ungleicher Lohn, Sexismus. Dort beginnt geschlechtsspezifische Gewalt.

  • Prävention, es geht nur so! Gewaltaffine Männer waren auch mal unschuldige Babys - immer noch erziehen mehrheitlich Frauen, als Mütter, als Erzieher, als Grundschullehrer die Kinder! Was fehlt? Was läuft schief und warum? Ohne genauere gesellschaftliche Diagnosen werden weiterhin Symptome behandelt! Welche Personen sind besonders gefährdet, was begünstigt diese Gefährdungen?

    • @Toni Zweig:

      Hot Take: das Problem sind nicht die Frauen, die die Söhne in den verschiedenen Institutionen erziehen, sondern die Männer, die es nicht tun.



      Wenn Jungen in ein binäres Geschlechterverhältnis geworfen werden und ihnen ein positives Rollenmodell (Vater, Erzieher, Lehrer, Trainer, Sozialarbeiter...) fehlt, kommt es zu Negatividentifikation: man selbst ist kein Mädchen/keine Frau und macht deswegen das Gegenteil dessen, was die weiblichen Bezugspersonen ausmacht.

      Jungen, die einen nahbaren Vater haben, einfühlsame Erzieher und Lehrer, die ihnen eine Vielzahl an Identitätsmöglichkeiten bieten, die ohne misogyne Abwertung auskommen, werden seltener zuschlagen.

  • Ja zu allem. Ja, es ist komplex. Ja, die Männer müssen da auch ran, es ist schliesslich unser aller Problem.

    Was allerdings wirklich ein Skandal ist: dass die Frauenhäuser unterfinanziert sind. Und es auch vor der Pandemie waren.

  • Vorhin in meinem Postfach, ein Update zu dieser Petition hier

    www.change.org/p/f...endlich-um-savexx/

    》Die Istanbulkonvention ist für Deutschland seit über 5 Jahren rechtsbindend.

    Dieser rechtsstaatlichen Selbstverpflichtung zuwiderlaufend hat das BMFSFJ in den letzten Jahren dieGelder im Hilfesystem kontinuierlich eingekürzt.

    Die von Ministerin Paus aktuell als Innovation deklarierte „Planung einer staatlichen Koordinierungsstelle, die häusliche Gewalt ressortübergreifend bekämpfen soll“hätte gemäß Istanbulkonvention bereits 2018 implementiert werden müssen.

    Die Umsetzung der Istanbulkonvention ist imKoalitionsvertrag der Ampel(2021) verankert: Budgetiert und strategisch aufgesetzt ist sie bis heute nicht.

    Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ist bereits in unserer Verfassung, unserem Grundgesetz verankert.



    Und gilt auch für Frauen!《

  • Ich verstehe bloß nicht, warum die Zahlen nun NACH der Pandemie erst ansteigen? Wurden die Zahlen zuvor schlecht erfasst? Oder führt die größere ökonomische Not (und weniger die Pandemie) dazu? Intuitiv hätte ich den starken Anstieg 1-2 Jahre früher erwartet. In Zeiten der Lockdowns etc.

    • @Bernd Käpplinger:

      Den gab es zwar, aber er fiel weniger hoch aus als befürchtet.

      Dann aber wurde es wieder salonfähig, sich wie ein menschenverachtendes Arschloch zu benehmen - weit über Kreise hinaus, in denen man auch heute noch gern den Föhrer heilt, oder Deutschand in den Grenzen von 1871 wiederherstellen will.

      Und dann kam die Gegenreaktion, von MeToo initialisiert, unter der Pandemie aus den Nachrichten verschwunden, aber eben im Privaten rezipiert. Und das führte zu einem Rückgang der Dunkelziffer - keinem großen, aber immerhin etwas.

      Es ist also zum großen Teil Antwort 1 - die hundsmiserable Erfassung. Nur ein Bruchteil der Gewalt gegen Frauen im häuslichen/familiären/Beziehungsumfeld gelangt zur Anzeige. Immer noch, obwohl es ein bisschen besser (oder weniger schlimm) ist als vor Covid.

  • Die Probleme gehen doch schon damit los, das Frauenhäuser Geld kosten, zwischen 14 und 25 Euro pro Tag pro Person.

    • @Sven Günther:

      Frauenhäuser sind nicht das Problem, die Wurzel des Problems sind gewalttätige Männer.