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Skandal beim Eurovision Song ContestŠČ! ŠČ! ŠČ!

Der kroatische Beitrag „Mama ŠČ“ rettet dem ESC politisch den Arsch. Derweil haben die Organisatoren Selenski verboten, ein Grußwort zu halten.

Irgendwo zwischen Egotronic, Trio und Peaches: Die kroatische Postpunk-Band Let 3 Foto: Martin Meissner/ap

Die Organisatoren des ESC verbieten dem ukrainischen Präsidenten Selenski, ein Grußwort zu halten. Dieses Vorgehen sollte jedem ESC-Fan Grund für lauten Protest sein. Wäre der ESC unpolitisch, warum steckt er dann seine Moderatorinnen in blau-gelbe Kostüme und zeigt Fotos von Gebäuden aus der Ukraine? Diese Haltung ist alberner, als es der Auftritt der bei dem Wettbewerb hoch favorisierten kroatischen Camp-Band Let 3 je sein könnte.

Die jedoch retten dem ESC politisch den Arsch. Denn Let 3 schreibt dieses Jahr Geschichte auf dem ESC. Zum ersten Mal überhaupt werden diakritische Zeichen zum Zeichen gesamteuropäischer Solidarität.

Ganz Europa singt seit Wochen „ŠČ!“, beziehungsweise „Schtsche!“ (das e dabei kurz in Richtung ö gehend). Und zwar ohne dass irgendjemand wüsste, was diese Akkumulation von Buchstaben mit Tüddeln auf engstem Raum bedeuten soll – einschließlich der Erfinder.

Der Slogan stammt aus „Mama ŠČ“, dem ESC-Beitrag von Let 3, mit dem sie am Samstag im Finale stehen. „ŠČ!“ klingt lustig, ironisch, dadaistisch, surrealistisch. Alles andere? Unklar. Auch für Kroatischsprechende wie mich.

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Ich etwa denke bei „ŠČ!“ an „Scht!“, also an „Hör auf!“, „Sei leise!“, „Basta!“, „Es reicht!“, an eine Variation des Anti-Kriegs-Slogans „No more war“. Ich denke aber auch an unverständliches Gebrabbel und interpretiere „ŠČ!“ als slawische Aktualisierung von Charlie Chaplins großer Diktatoren-Parodie.

Dass diese semantisch völlig offene Form „ŠČ!“ einen derartigen Erfolg hat, sollte Kulturpessimisten ein Zeichen sein, dass ihre Sorge unbegründet ist. Völlig egal, ob „Mama ŠČ“ den ESC gewinnt – er ist jetzt schon Mehrfachsieger: Der Erfolg von „ŠČ!“ ist der Sieg des Publikums über die Experten, der Kunst über das Management, der uneindeutigen Eindeutigkeit über die vermeintliche Neutralität.

Keine politischen Aussagen geduldet

„Mama ŠČ“ rettet dem ESC 2023 politisch den Arsch. Nicht nur, weil er – wie auch die Beiträge der Schweiz und Tschechiens – den Krieg textlich anspricht, obwohl der ESC keine politischen Aussagen duldet. Auch, weil „Mama ŠČ“ über schrillste Ästhetik und universale Sprache (ja, „ŠČ!“ sollten Sie ab sofort so selbstverständlich benutzen wie „Ok Bruder“) die Krieger in ihrer Lächerlichkeit inszeniert und damit das Publikum zum Jubeln bringt.

Mit ihren militärischen Fantasie-Uniformen, dicken Schnauzbärten, auf Atomraketen reitend, sich bis auf die Unterhose ausziehend und Rosen zwischen den nackten Ärschen klemmend, ist die Botschaft von „Mama ŠČ“ eindeutiger als der Refrain.

Den restlichen Text hingegen muss man nicht verstehen, um die Parodie zu verstehen. „Psychopath“ und „Traktor“ versteht jeder. „Mama hat einen Traktor gekauft“, „Mama hat einen Trottel geliebt“, „Mama, ich gehe in den Krieg“ heißen die wenigen anderen Sätze, die die gewollte Überinszenierung von Absurdität nur noch weiter verstärken.

Dass ausgerechnet die Kroaten diesen Beitrag als den ihren ins Rennen geschickt haben, spricht für diese Gesellschaft, die immer noch mit den Folgen des eigenen Krieges in den 1990er Jahren zu tun hat.

Die Band Let 3 ist in Kroatien seit Jahrzehnten so etwas, wie Laibach in Slowenien mal war: ein Bürgerschreck, ein Angriff auf die heimelige Ordnung der Geschlechter, der Mächte, des Geschmacks.

Eigentlich ein Skandal

Ins Deutsche übertragen wäre Let 3 eine Mischung aus der antideutschen Punkband Egotronic („Raven gegen Deutschland“), der NDW-Band Trio (Da, Da, Da) und der kanadisch-deutschen Queer-Punk-Ikone Peaches („Fuck the pain away“).

Die kroatischen Postpunkrocker-Oldies zeigen nun buchstäblich ihre Eier, um den Kriegern die Hosen runterzuziehen. Anders als die Ausrichter des ESC. Dass der diesjährige Austragungsort Liverpool nur ein Ausweichquartier ist, gerät in der bisherigen Inszenierung des Wettbewerbs stark in den Hintergrund.

Eigentlich hätte die Show in der Ukraine stattfinden sollen. Deren Repräsentanten, die Band Kalush Orchestra, hatten den Wettbewerb 2022 gewonnen. Die Ukraine hatte sich freudig bereit erklärt, den ESC auszurichten, doch die Chefs des ESC, die European Broadcasting Union, entschieden sich dagegen. Eigentlich ein Skandal.

Was wäre das für eine Feier des Lebens und eine Demonstration europäischer Solidarität gewesen, wenn an diesem Samstagabend alle mal nicht auf die Ukraine in Trümmern oder im Schützengraben geguckt hätten?

Stattdessen gibt es nur das ESC-Motto „United by Music“. Wenigstens im Namen hätte man an die Besonderheit der Situation erinnern und sich beispielsweise „ESC in Exile“ nennen können.

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9 Kommentare

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  • Das Foto ruft: Nicht einschalten!

  • Was für ein Riesenquatsch!



    Damit wird das Volk gefüttert. Blos keine Pausen, in denen man nachdenken könnte.



    Ole Ole Ole Ole!!

  • kann ja Alles sein.



    Aber die Ausrichtung in der Ukraine wäre gefährlich bis naiv unsinnig gewesen, soweit mensch das 2022 sehen konnte.



    Was wäre denn der Kommentar, wenn der ESC wegen dauerndem Rakentenarlarm unter- und abgebrochen werden muss: wie kann man nur, oder ähnlich.

    • @oldleft:

      Ohje, dann hätte vielleicht jeder in Europa sehen können, dass die Raketen tatsächlich bis Kiew fliegen, wo noch nicht einmal nach prorussischer Lesart Raketen etwas zu suchen haben. Wäre eine Katastrophe gewesen.

    • 6G
      652797 (Profil gelöscht)
      @oldleft:

      Können Sie mir weiterhelfen was das ersetzen des Wortes "man" durch "mensch, frau/mann" immer soll?

      • @652797 (Profil gelöscht):

        Kennen Sie das wirklich nicht?

        "mensch" statt "man" wird schon seit Jahrzehnten genutzt, um darauf hinzuweisen, dass "man" wie "Mann" klingt, aber alle gemeint sind und nicht nur die Hälfte der Leute.

        • 6G
          652797 (Profil gelöscht)
          @Arne Babenhauserheide:

          Ich hab das erst in der taz baw. in den Kommentaren gelesen. Dass man seit Jahrzehnten schon so unsinnig Wörter austauscht war mir davor nicht bekannt.

  • Die Frage die mir, als am ESC un- aber politisch interessierter, schon nach dem ersten Absatz auf der Zunge brannte war, ob denn bisher die Präsidenten/Kanzler des Ausrichterlandes Grußworte sprechen durften? Falls nicht, wo ist der Skandal?

  • Habe mir gerade das Video auf YouTube angeschaut.



    Mit Sicherheit kein "Song" der zum Ohrwurm wird und an den sich ein paar Monate nach dem ESC noch Jemand erinnert.



    Nichts im Vergleich zu den Antikriegs-Songs der 70er Jahre, die über viele Jahrzehnte unvergessen sind.



    Die entstanden aus echten Gefühlen, vermittelten echte Gefühle und waren handwerklich gut gemacht.



    Der ESC produziert nur noch Strohfeuer.