piwik no script img

Flucht über das MittelmeerUnterlassene Hilfeleistung

Seit Beginn des Jahres sind 600 Menschen bei dem Versuch gestorben, das Mittelmeer zu überqueren. Die UN-Hilfsorganisation ruft zu Solidarität auf.

Lebensgefährliches Unterfangen: Flüchtende aus Libyen im Mittelmeer Foto: Christian Ghodes/sea-watch/reuters

Berlin taz | Vor dem Amtsantritt Ende Oktober hatte Italiens rechtsextreme Regierung um Ministerpräsidentin Giorgia Meloni vieles versprochen. Das Wichtigste: Keine Flüchtlinge mehr – zur Not mit einer „Seeblockade“. Es kam allerdings anders: In dem halben Jahr seit Melonis Amtsantritt sind mehr Flüchtlinge angekommen als in jedem Halbjahr der fünf Jahre zuvor. Rund 55.000 waren es, davon rund 35.000 seit Jahresbeginn. Die Regierung ist rechts wie nie, die Zahl der Flüchtlinge aber ungebrochen hoch.

Die „unkontrollierte Einwanderung“ drohe zu „explodieren“, sagte der Senator der postfaschistischen Meloni-Partei Fratelli d’Italia, Paolo Marcheschi. Wer sich gegen die Maßnahmen der Regierung stelle, stelle sich „auf die Seite der Schleuser“.

Zu den Maßnahmen gehört unter anderem ein nochmals verschärftes Vorgehen gegen die Seenotretter. Schon im Februar hatte Melonis Regierung ein Dekret verabschiedet, das Rettungsschiffe unter anderem zwingt, nicht den nächsten sicheren Hafen etwa auf Sizilien anzulaufen – sondern den, den die Regierung ihr zuweist. Und die schickt vor allem die größeren Schiffe in weit im Norden liegende Hafenstädte: Um sie so gezielt aus dem Einsatzgebiet fernzuhalten, davon sind die NGOs überzeugt.

Bereits im Februar mussten etwa die Schiffe Geo Barents und Ocean Viking nach Rettungsaktionen vor Libyen bis nach Ancona in Norditalien fahren. Dort wurde die Geo Barents zwei Wochen festgehalten. Im März setzte Italien dann das private Rettungsschiff Louise Michel fest.

„Das neue Gesetz behindert die Rettungsbemühungen auf See und wird zu weiteren Todesfällen führen“, sagt ein Sprecher von Ärzte ohne Grenzen der taz. „Es reduziert die Rettungskapazitäten auf See und macht damit das zentrale Mittelmeer – eine der tödlichsten Migrationsrouten der Welt – noch gefährlicher.“

Den Schiffen unnötig weit entfernt liegende Häfen zuzuweisen, sei „zur gängigen Praxis“ geworden, sagt Wasil Schausel von der NGO SOS Humanity der taz. Die lange Navigation halte die Rettungsflotte aus dem Einsatzgebiet fern. Zudem müssten die Schiffe mit den Geretteten teils sehr lange Wege zurücklegen. „Je nach Lage und Gesundheitszustand an Bord sowie Wetter kann das sehr kritisch sein.“

Seit Beginn des Jahres sind 600 Menschen im Mittelmeer ertrunken, es ist der höchste Wert seit 2017. „Selbst uns, die seit fast acht Jahren zivile Seenotrettung im Mittelmeer betreiben, lassen die letzten Wochen fassungslos zurück“, heißt es in einer Erklärung der NGO Sea Watch.

Neben dem Fernhalten der privaten Retter ist für die gestiegene Zahl der Toten auch unmittelbar unterlassene Hilfeleistung verantwortlich. Darauf weist die UN-Migrationsorganisation IOM hin. Mindestens 127 Personen sind laut der IOM in diesem Jahr ertrunken, weil staatlich geleitete Rettungsaktionen verzögert wurden. „Das völlige Ausbleiben einer Reaktion (…) forderte das Leben von mindestens 73 Migranten.“ Die NGO-Einsätze seien „deutlich reduziert,“ so die IOM.

Die Lage im Mittelmeer sei „unerträglich“, sagte der Generaldirektor der IOM, António Vitorino. Er befürchte, dass sich die Todesfälle „normalisiert“ hätten. Dabei sei die Rettung von Menschenleben auf See eine „Verpflichtung für die Staaten“, so Vitorino. Statt Verschleppung brauche es „proaktive“ Such- und Rettungsmaßnahmen unter staatlicher Führung. „Im Geiste der geteilten Verantwortung und der Solidarität rufen wir die Staaten auf, zusammenzuarbeiten.“

Wir stehen vor einer weiteren großen Migrationskrise in Europa.

Manfred weber, Chef der EVP-Fraktion im Europaparlament

Doch genau daran fehlt es: an geteilter Verantwortung. Italiens Regierung hat den Notstand ausgerufen und wartet darauf, dass die EU „strukturell eingreift“, wie es bei der Regierungspartei Fratelli d’Italia heißt.

Der Chef der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber, der seit Kurzem auffällige Signale der Annäherung an die rechtsextreme Giorgia Meloni sendet, rief unterdessen die EU-Staaten zu stärkerer Solidarität mit Italien auf: „Wir stehen vor einer weiteren großen Migrationskrise in Europa. Deshalb unterstützt die EVP die italienische Regierung voll und ganz dabei, diesem Thema auf europäischer Ebene Priorität einzuräumen.“

Eigentlich hatten die anderen EU-Staaten – einmal mehr – versprochen, Italien tatsächlich unter die Arme zu greifen. Seit Langem stocken alle Bemühungen um einen festen Verteilmechanismus, vor allem weil die Staaten Osteuropas und Österreich dagegen sind. Ersatzweise hatte eine Gruppe von Staaten einen freiwilligen Verteilmechanismus beschlossen: Vom Sommer 2022 bis Sommer 2023 sollten darüber insgesamt 12.000 Menschen aus den Außengrenzen-Staaten für ein Asylverfahren in andere EU-Staaten ausreisen dürfen, davon 8.000 aus Italien – ein Tropfen auf den heißen Stein. Deutschland sagte zu, ein Viertel dieses Kontingents aufzunehmen.

Eine dem aktuellen Solidaritätsmechanismus vergleichbare Regelung – das so genannte Malta-Protokoll – hatte Ex-Bundesinnenminister Horst Seehofer 2018 ausgehandelt. Die Ampel hatte sich im Koalitionsvertrag vorgenommen, dies „weiterzuentwickeln“.

Doch damals wie heute kommt Deutschland seinen Aufnahmezusagen praktisch nicht nach: Bis Ende März 2023 sind nach Angaben des Bundesinnenministeriums über den aktuellen Solidaritätsmechanismus 520 Menschen nach Deutschland gekommen, davon 427 aus Italien und 93 aus Zypern. Und bis zum Ende der angekündigten Laufzeit sind es nur noch zwei Monate.

„In Italien kommen momentan täglich Hunderte Schutzsuchende an. Die in Aussicht gestellte Übernahme von 8.000 Menschen durch andere Mitgliedstaaten war deshalb von Anfang an absolut unzureichend“, sagt die Linken-Abgeordnete Clara Bünger. EVP-Chef Weber schlug indes einen Migrationspakt mit Tunesien vor. Man könne sich an dem Türkei-Abkommen von 2016 orientieren, sagte er. Tunesien allerdings ist daran nicht interessiert.

Tunesien ist indes auf der Migrationsroute immer wichtiger geworden. Während 2022 noch ein gutes Drittel der in Italien Angekommenen über Tunesien gereist waren, sind es in diesem Jahr über die Hälfte. Das Land hatte lange irreguläre Bootsabfahrten verhindert, war von dieser Praxis aber zuletzt immer weiter abgerückt. Zurückgegangen ist allerdings der Anteil der Tu­ne­sie­r:in­nen unter den Ankommenden: Sie machten 2022 noch je­de:n Fünf­te:n aus, in diesem Jahr sind es bisher nur rund 8 Prozent.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

22 Kommentare

 / 
  • Wieso sollte man diese Migranten in Europa verteilen?



    Von Australien lernen, alle kommen gesammelt auf eine Insel, dort wird geprüft ob ein Anspruch auf Asyl besteht....und wenn nicht wird zurückgeführt.

  • Retten bis man selbst gerettet werden muss,teilen bis ich selbst nichts mehr habe...........

    Langfristig wird diese Art von Hilfe das gegenteil bewirken und das tut jetzt schon.

  • @GRAF FOTO

    "Schlecht, dass nichts mehr wählbar ist."

    Das ist genau falsch. Das ist es, was Cambridge Analytica (wie auch immer das heute heisst) Sie glauben lassen will.

    Wählen allein löst keine Probleme. Nicht wählen macht neue dazu.

  • Die Lösung des Problems liegt in Berlin! Wir sind doch der sichere Hafen, oder gilt das nicht mehr?

    Wo sind die sicheren Fluchtwege? Gehandelt werden muss jetzt, dazu besteht eine moralische Verpflichtung!

    • @V M:

      "Sicherer Fluchtweg" ist ebenso ein Widerspruch in sich, wie "sicherer Kampfeinsatz" oder "risikofrei investieren".

      Wenn jemand flieht, hat er noch keinen sicheren Ort erreicht; wenn er ihn erreicht hat, braucht er nicht mehr zu fliehen.

      Wie würde denn ein "sicherer Fluchtweg" aussehen? Nehmen wir an, in Land X herrscht Krieg. Leute wollen da weg. Wie sollen sie unter kriegsbedingungen "sicher" ein Flugzeug oder ein Schiff besteigen?

      Ich fürchte, wenn ihnen jemand "sichere Fluchtwege" versprochen hat, wurde Ihnen ein Bär aufgebunden.

    • 6G
      677755 (Profil gelöscht)
      @V M:

      Warum steht für Sie immer Deutschland in der Pflicht?



      Falls Sie es noch nicht mitbekommen haben kommt D langsam an die Grenzen des machbaren.Es gibt kaum noch bezahlbaren Wohnraum und von Integration kann nicht mehr Rede sein.Langsam wird es mal Zeit das sich Länder wie Polen an der Aufnahme afrikanischer Flüchtlinge beteiligen.Immer nur kassieren,aber nichts tun funktioniert nicht mehr.

  • Rechts wirkt.



    Auch bei den Parteien die am rechten Rand nach Stimmen fischen.

  • Unterlassene Hilfeleistung.

    Muss sich wohl am ehesten Deutschland vorwerfen lassen.

    Sowohl Welthungerhilfe als auch Vereinte Nationen beziffern ihren Finanzbedarf um den etwa 300 Millionen akut Hungernden weltweit helfen zu können, auf etwa 50 Milliarden Dollar/Jahr. Das entspricht ziemlich genau dem Betrag, den Deutschland aktuell für das Migrationssystem ausgibt - die Flüchtenden aus der Ukraine nicht eingerechnet. Entspricht in etwa übrigens auch den Kosten des kompletten Pflegesystems.

    Deutschland bindet also hohe Summen für etwa drei Millionen Menschen, von denen die meisten weder Asyl- noch sonstige Schutzbedingungen erfüllen. Mit dem Geld könnte hundertfach mehr Menschen geholfen werden.

    Migrationswissenschaftler oder auch Verantwortungsethiker*innen, die mittel- und langfristig daran interessiert sind, möglichst viel Leid auf der Welt zu vermeiden, entscheiden sich klar für eine andere Zielrichtung von Hilfen.

    300 Millionen vs. drei Millionen sprechen eine deutliche Sprache.

  • @JIM HAWKINS

    Warten Sie, bis wir anfangen zu schiessen. Af dem besten Weg dazu sind wir -- leider! -- schon.

    Dann erfüllt sich Seehofers Traum.

    Natürlich hoffe ich, dass es nicht eintritt, aber ich beobachte genau dieses fatale Muster der Verantwortungsdiffusion die uns Menschen seit eh zu den grössten Grausamkeiten befähigt hat.

    • @tomás zerolo:

      Sicher doch der Seehofer. Man wird sich nie eingestehen, dass das eigene Lieblingspferdchen Menschebn nieder trampelt.

  • 6G
    676595 (Profil gelöscht)

    Frau Baerbock am 29.06.2018: "Wer auf Rückweisung auf hoher See setzt, Menschen an die libysche Küstenwache zu überführen, der bricht mit dem Völkerrecht."

    Koalitionsvertrag: "Wir wollen die illegalen Zurückweisungen und das Leid



    an den Außengrenzen."

    Gut, dass wir freie Wahlen haben. Schlecht, dass nichts mehr wählbar ist.

  • Hätte vor 30 Jahren jemand behauptet, dass Tausende bei dem Versuch nach Europa zu gelangen sterben werden, hätte man das wohl als finstere Sicht der Dinge abgetan.

    Heute ist es so und es kratzt fast keinen mehr.

    "Wir können nicht allen helfen" geht mittlerweile ziemlich vielen ziemlich leicht über die Lippen.

    30.000 sind seit 2014 im Mittelmeer ertrunken. Europa wäre nicht untergegangen, wären sie lebend angekommen.

    • @Jim Hawkins:

      Sehr wohl. Ist eben staatliches Jammern auf höchstem Niveau.

  • ca. 800 Millionen Menschen hungern weltweit, mehr als 24 000 von ihnen sterben täglich allein durch Hunger den Hungertod. Und dann lassen wir Menschen im Mittelmeer sterben. Und warum???????? Die Priorität sollte es sein diesen Menschen zu helfen, stattdessen werden Milliarden von Euro´s in der Ukraine und sonst wo verpulvert!

    Diese Entschlossenheit und Bereitschaft würde ich mir für die täglich 24.000 sterbenden wünschen.

    • 4G
      49732 (Profil gelöscht)
      @aberKlar Klardoch:

      Was ist das denn für ein links-pro-faschistischer Mist. Wir verpulvern nicht, sondern helfen einen von Faschisten angegriffenen Staat. Faschisten die gerne auf die Flüchtlinge im Mittelmeer schießen würden wenn sie an der Macht wären.