Russischer Dissident Warlam Schalamow: Kontakt mit der Vergangenheit
Schriftsteller Warlam Schalamow überlebte den sowjetischen Gulag. Seine Briefe sowie seine Biografie geben Einblicke in eine Poetik des Schreckens.
Sechzehn Jahre hat Warlam Schalamow im Gulag verbracht, vierzehn davon an der Kolyma, einem Fluss im äußersten Osten Russlands, nahe dem Kältepol der Erde. Zu Beginn seiner Haftzeit, Ende der 1930er Jahre, mussten die Häftlinge dort im Sommer vierzehn Stunden sieben Tage die Woche schwere körperliche Arbeit verrichten; im Winter waren es weniger, aber die Temperaturen fielen bis unter minus 50 Grad.
„Ich habe keine Stelle am Körper, die nicht drei- und viermal erfroren ist“, schreibt der russische Autor 1965 an einen Mithäftling, der wie er nur durch einen Zufall überlebt hatte. Millionen anderer dagegen starben an Hunger, Erschöpfung oder Krankheiten in den Holzbetrieben, beim Aufbau der Eisenbahnlinien, der Industriekombinate und Bergwerke Sibiriens.
Alle Häftlinge, die aus dem Gulag zurückkehrten, wurden zum Schweigen verpflichten. Aber schon aus Selbstschutz haben viele nicht mehr über ihre Erlebnisse gesprochen. Sie wollten den Schrecken in der Erzählung nicht noch einmal durchleben. Und denen, die trotz des Verbots über ihre Erfahrungen sprachen, hörte bald niemand mehr zu.
Warlam Schalamow hielt das Schweigen für falsch. „Ich habe, als ich im Norden war“, schreibt er 1955 an einen ehemaligen Mithäftling, „Menschen immer energisch verurteilt, die nach ihrer Abreise nicht schrieben und so versuchten, die Verbindung zur Vergangenheit, zum Schrecklichen, in den kleinen Dingen zu kappen und nicht begriffen, dass der Mensch an diese Vergangenheit auf Leben und Tod gebunden ist.“
Kontinuität des Stalinismus
Er sollte recht behalten. Die Wiederkehr des verdrängten Stalinismus in Putins heutigem Russland ist unübersehbar.
Franziska Thun-Hohenstein, die die deutsche Werkausgabe Schalamows herausgibt, hat nun eine Auswahl seiner Briefe vorgelegt. Gabriele Leupold hat sie, wie schon alle anderen Texte der Ausgabe, in gewohnter Qualität ins Deutsche übersetzt. Es sind Briefe, die nicht nur aus biografischen Gründen interessant sind, sondern vor allem, weil sich Schalamow hier ausführlich über seine Poetik äußert.
Warlam Schalamow: „Ich kann keine Briefe schreiben“. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Matthes & Seitz, Berlin 2022, 751 Seiten, 48 Euro
Franziska Thun-Hohenstein: „Das Leben schreiben. Warlam Schalamow: Biographie und Poetik“. Matthes & Seitz, Berlin 2022, 536 Seiten, 38 Euro
Thun-Hohensteins lesenswerte Biografie „Warlam Schalamow. Biographie und Poetik“, die gleichzeitig mit den Briefen erschienen ist, greift zusätzlich auf Notizen, Gespräche mit Zeitgenossen und Archivfunde zurück, um Biografie und Poetik des Autors nachzuzeichnen.
1907 in Wologda, im Norden Russlands, in die Familie eines orthodoxen Geistlichen hineingeboren, wollte Schalamow schon früh schreiben. Für das Studium ging er 1924 nach Moskau und versuchte, in der literarischen Szene Fuß zu fassen, was ihm jedoch nicht gelingt. 1928 wegen seiner (wohlweislich verschwiegenen) Herkunft aus einer Priesterfamilie von der Universität relegiert, wurde er 1929 das erste Mal verhaftet und verbrachte zwei Jahre im Norden Russlands, in einem der ersten sowjetischen Zwangsarbeiterlager.
Leninistische Opposition
Bis zu seiner zweiten Verhaftung 1937 arbeitete er als Journalist und veröffentlichte erste Erzählungen. Noch in dieser Zeit bezeichnete er sich als Anhänger der leninistischen Opposition. Und unter den rund 100 überlieferten journalistischen Texten sind auch solche, schreibt Franziska Thun-Hohenstein, die im Sinne des Regimes zur Denunziation aufrufen.
Erst seine zweite Haft an der Kolyma wurde für Schalamow zum Wendepunkt. Zwar hat er später hin und wieder die Aufbruchsstimmung der 1920er Jahren verklärt, aber der Glaube an den Sozialismus sowjetischer Prägung war gebrochen.
Heute kann man sich die Euphorie kaum mehr vorstellen, die die Veröffentlichung von Alexander Solschenizyns Roman „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ im November 1962 in der Literaturzeitschrift Novi Mir hervorrief. Chruschtschows Rede auf dem 20. Parteitag 1956, in der er die Verbrechen Stalins angeprangert hatte, war geheim gewesen und nur langsam in die sowjetische Öffentlichkeit durchgesickert.
Außerdem hatte er vieles verschwiegen und war mehr oder weniger abstrakt geblieben. In Solschenizyns Roman dagegen wurde zum ersten Mal für jeden, der eine Ausgabe von Nowy Mir in die Hände bekommen konnte, konkret der Schrecken eines Lagers beschrieben.
Auseinandersetzung mit Solschenizyn
Dass Schalamow dieser von Solschenizyn geschilderte Tag im Vergleich zu einem realen Tag in den Goldgruben der Kolyma harmlos erschien, hat die euphorische Wirkung auf ihn nicht gemindert. Liest man die ersten Briefe, die er an Solschenizyn nach der Veröffentlichung von dessen Roman schrieb, lässt sich erahnen, welche Hoffnungen dieser Text in der damaligen Sowjetunion hervorgerufen hat.
Endlich würde das Erlittene öffentlich wahrgenommen, endlich würden – so die Hoffnung Schalamows – auch seine eigenen Texte, die er immer wieder zu veröffentlichen versucht hatte, erscheinen können.
Doch „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ konnte in der kurzen Phase des Tauwetters wohl auch nur deshalb gedruckt werden, weil in ihr nicht das ganze Grauen, die ganze Menschenverachtung des Gulags eingegangen war. Solschenizyn wurde einer der bekanntesten sowjetischen Dissidenten und bekam 1970 den Literaturnobelpreis. Schalamow dagegen gelang es nicht, die auf vier Bände angewachsenen schonungsloseren „Erzählungen aus Kolyma“ in der Sowjetunion zu veröffentlichen.
Nur ein paar Erzählungen und fünf von der Zensur mehr oder weniger verstümmelte Gedichtbände von ihm wurden gedruckt. Bis zur Veröffentlichung der russischen Werkausgabe in den 1990er Jahren blieb er deshalb außerhalb der Szene literarisch Interessierter unbekannt.
Sprache des Widerstands
Wie Imre Kertész im „Roman eines Schicksallosen“ bewusst eine neue Schreibweise für seine Erfahrungen in Auschwitz gewählt hatte, meinte Schalamow, dass auch der Gulag anders erzählt werden müsse. Solschenizyn dagegen gebe mit den Mitteln der russischen Realisten der zweiten Hälfte des 19. Jahrunderts dem Lager einen falschen literarischen Ausdruck.
Umgekehrt äußerte sich Solschenizyn enttäuscht über die Prosa Schalamows und bestätigte damit indirekt dessen Eindruck von der Poetik des Schriftstellerkollegen. „Es stimmt“, meinte er, „dass mich die Erzählungen Schalamows literarisch nicht zufriedenstellten. Mir fehlten in allen Charakteren Personen mit Vergangenheit und mit einem besonderen Blick auf das Leben.“
Aber genau das wollte Schalamow. Er wollte von Charakterlosigkeit, Vergangenheitslosigkeit oder – mit dem Begriff von Imre Kertész – von Schicksallosigkeit erzählen. Denn im Lager wurde jedem Häftling sein Charakter, seine Vergangenheit und sein Schicksal genommen. Das Individuum wurde zu einer Nummer, zu einer anonymen Arbeitskraft gemacht, dessen einziges Ziel nur darin bestehen konnte, den Tag zu überleben.
Schalamow war der Auffassung, dass eine Prosa über die Erfahrungen im Gulag eine autofiktionale Prosa sein müsste. Er knüpft damit im Gegensatz zu Solschenizyn an die Moderne an. Marcel Proust, dessen ersten Band seiner „Suche nach der verlorenen Zeit“ Schalamow noch in Sibirien las, war für ihn ein Genie, das die Absicht Flauberts umgesetzt habe, einen Roman zu schreiben, der allein von der Form her Bestand hat.
Es sollte eine „körperliche“ Prosa sein, eine, in der der Autor die Schrecken des Lagers noch einmal durchlebt. Die in ihrer sprachlichen Kargheit nicht nur der sibirischen Schneelandschaft entspricht, sondern gleichzeitig der äußersten Reduzierung des Horizonts der Lagerhäftlinge auf das tägliche Überleben Rechnung trug.
Hier unterscheidet sich Schalamows Poetik von der Kertész’, der einmal meinte, dass der „Roman eines Schicksallosen“ eigentlich kein Roman über Auschwitz sei, weil man über Auschwitz nicht schreiben könne. Kertész versucht das Grauen nicht unmittelbar, in einem „körperlichen“ Schreibakt zu erzählen, sondern den Schrecken mit sarkastischer Ironie erzählerisch zu umkreisen.
Elendes Schicksal
Jahrzehntelang litt Warlam Schalamow unter Krankheiten als Folge der Lagerhaft. 1973 wurde er in ein Altersheim eingewiesen. Er starb 1982, fast blind und taub, kurz nach der Einlieferung in die Psychiatrie, an einer Lungenentzündung.
Die Einweisung war, wie Jelena Sacharowa, die Frau des Physikers und Dissidenten Andrei Sacharow, in einem Erinnerungstext schrieb, aufgrund einer falschen Diagnose verfügt worden. Wahrscheinlich um Aufsehen zu vermeiden, denn sein elendes Schicksal in einem Invalidenheim begann die Aufmerksamkeit von prominenten sowjetischer Autoren auf sich zu ziehen.
Sacharowa, die sich mit Freunden das letzte Jahr vor seinem Tod um Schalamow gekümmert hatte, berichtet auch von seiner Beerdigung. Eine Szene darin drückt auf gespenstische Weise die Mentalität der heutigen Mehrheit der russischen Bevölkerung aus, jene Mischung aus Opportunismus, Passivität und naivem Führerkult. Sie ist die Folge des verdrängten Stalinismus, gegen die Schalamow seit dem Ende des Gulags angeschrieben hatte.
„Am Fahrerhaus des Bestattungsbusses war ein Stalin-Bild befestigt. Einer meiner Freunde ging zum Fahrer und gab ihm die traditionelle Flasche Wodka. Der fragte, wer der Tote sei. Als er hörte, dass es ein Schriftsteller war, der im Lager gesessen hatte, entschuldigte er sich und entfernte das Bild.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“