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Mobilmachung in RusslandLetzte Hoffnung Anwalt

Viele Menschen in Russland sind von der Mobilmachung betroffen. Erstmals informieren sie sich über ihre Rechte, doch oft kann niemand helfen.

Ein russischer Reservist in Omsk verabschiedet sich von der Familie, Anfang Januar Foto: Alexey Malgavko/reuters

D en Russen wird oft vorgeworfen, viel zu langsam das Ausmaß der Katastrophe erkannt zu haben, in die sie, ohne besonderen Widerstand zu leisten und ohne zu verstehen, dass sie Opfer der staatlichen Politik wurden, hineingeraten sind. Die Mobilmachung, die zwischen September 2022 und Januar 2023 alle wie ein Schlag traf, ist für Zehntausende Familien zu einem Todesurteil geworden.

Война и мир – дневник

Чтобы как можно больше людей смогли прочитать о последствиях войны в Украине, taz также опубликовал этот текст на русском языке: here.

In Moskau kann man an der Bushaltestelle hören, wie junge Männer die Tauglichkeitsgrade diskutieren, nach denen einberufen wird. In den sozialen Medien kann man nachlesen, wer wie in die Musterungsstellen geholt wurde. Außerhalb Moskaus teilten Polizisten Vorladungen in den Fabriken aus. Dann wurden die Arbeiter festgenommen und zur Musterung gebracht. Einige wurden einfach auf der Straße verhaftet.

Zum ersten Mal seit vielen Jahren versuchen Russen dringend herauszufinden: Welche Rechte haben sie, wie verhält man sich bei der Musterung? Was tut man, wenn man das Land nicht verlassen kann? Und: Kann ich töten und möchte ich sterben? Warum passiert das alles? Warum ist es so schrecklich?

Eine Freundin ruft mich an. Weinend erzählt sie, dass ihr Vater einen Einberufungsbescheid bekommen hat. Dass er Rentner ist, dass er in der UdSSR zwei Jahre in Armenien gedient hat, aber nichts mehr davon erinnert. Dass er verstört ist wie noch nie. Dass sie einen Anwalt braucht und dass er Angst hat, in Moskau das Haus zu verlassen, weil sie ihn in die Musterungsstelle verschleppen könnten.

Xenia Babich

die Autorin arbeitet als Journalistin in Moskau. Sie war Teilnehmerin eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.

Eine andere Freundin erzählt, dass sie ihren Mann – einen Reanimatologen – bislang noch in keine Brigade aufgenommen haben, aber in seinem Krankenhaus schon Listen zusammenstellen. Die Menschen werden an die „Frontlinie“ geschickt. Ihr Mann will das Land nicht verlassen. Er ist Arzt und Vater eines kleinen Sohnes. Er spricht nicht über seine Ängste, aber seine Frau sucht auch einen Anwalt.

Die Verlobte eines Mannes aus St. Petersburg, der bereits eingezogen und ins „Trainingslager“ gebracht wurde, schluchzt und erzählt von starkem Druck: Der Mann wird aufgefordert, den Kontrakt zu unterschreiben, für Fahnenflucht drohen sie ihm Strafen an. Es gehe ihm schlecht, er bitte um Freistellung. Seine Eltern wissen nicht, was sie noch tun können. Auch sie suchen nach einem guten Anwalt.

Heute noch einen Anwalt zu finden, der von Mobilmachung betroffene Männer vor Gericht vertritt, ist eine der wenigen Möglichkeiten, der Einberufung zu entgehen. Ein Anwalt kann einschätzen, wie hoch die Chancen sind und gegebenenfalls zur Flucht raten. Oder helfen, die tausenden neuen Gesetze zu verstehen.

Allerdings sind in Russland nur wenige kritische Menschenrechtsanwälte geblieben. Fast alle haben das Land mittlerweile verlassen und können nur noch online beraten.

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

Finanziert wird das Projekt von der taz Panter Stiftung.

Einen Sammelband mit den Tagebüchern hat der Verlag edition.fotoTAPETA im September herausgebracht.

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9 Kommentare

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  • Die russische Gesellschaft ist dabei, den berühmten drei Affen "nichts sehen - nicht hören - nichts sagen" einen vierten hinzuzufügen: Nachher heulen.

  • Philippo,

    welchen Artikel haben Sie denn gelesen, und welche Leserkommentare?

    Wer hat hier etwas von Verteidigung der Demokratie geschrieben?

    Es stimmt, dass jetzt auch Russen in Panik geraten. Und ja, es ist auch gut, dass es solche Artikel gibt. Daher auch mein Dank an die taz.

    Krieg ist Wahnsinn, und er kennt viele Verlierer. Er kennt aber auch Profiteure. Sonst gäbe es keine Kriege.

    Viele der Russen, die jetzt um ihr leben fürchten, haben diese und andere Kriegen teilnahmslos bis wohlwollend hingenommen. Der Frieden fällt nicht vom Himmel. Er erfordert zivilgesellschaftliches Engagement. Hinterher jammern reicht nicht. Ihr Rassismusvorwurf ist äusserst fragwürdig. Würden Sie eine KZ-Sekretärin, die man jetzt vor Gericht stellt, auch als rassistisch verfolgt bezeichnen?

    Die Rettung der Welt ist nur im Frieden möglich. Aber wo bekommen wir ihn her? Ich würde ja gerne spenden, wenn wir für die Ukraine Frieden kaufen könnten (und nicht bloss Friedhofsruhe).



    Leider braucht die Ukraine derzeit Panzer, um genau diesen Frieden erreichen zu können. Haben Sie Butscha schon vergessen? Mariupol?

    Sie finden Liberalismus und Demokratie also gut. D'accord. Nur: wie soll das ohne eine Zivilgesellschaft funktionieren? Mit 70 bis 80% Mitläufern und Mittätern?



    Hier ist Eigenverantwortung gefragt und politisches Bewusstsein. Daran bestehtvin Russland anscheinend grosser Mangel. Ich wünsche mir auch nicht, dass dieser Mangel exportiert wird. Sie etwa?

  • Wo verteidigt wer die Demokratie?



    Es ist erfreulich, dass die taz auch mal wieder von der Not der Russen und Russinnen berichtet.



    Hier wird mal wieder der Wahnsinn deutlich, der Krieg heißt.



    Da gibt es nur Verlierer.



    Die Russen haben den Tod genausowenig verdient, wie die UkrainerInnen. Wer das anders bewertet und alle RussInnen in einen Topf wirft, muss sich konsequenterweise auch für die Todesstrafe aussprechen.



    Denn das bedeutet die Einberufung für Viele. Eine Verhandlung und ein Urteil gibt es nicht. Wofür auch? Dann wäre die Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe ja bereits verurteilenswert.



    Leider sind in der Berichterstattung Artikel wie dieser selten geworden. Der mainstream scheint zu sein, dass die Menschen links der Grenze böse und die rechts der Grenze gut sind.



    Die Lösung zur Rettung der Welt scheint nicht mehr Frieden zu heißen, sondern mehr Panzer.



    Unsere Gesellschaft zeigt derzeit nicht mehr ihren Liberalismus oder die Qualitäten einer Demokratie.



    Liest man/frau die Leserbrife zum Artikel, scheint der Deutsche auch keinen Wert mehr auf freie Berichterstattung zu legen. Schwarz - Weiß Denken ist ja so viel leichter. Für gewöhnlich bezeichnet man dieses Verhalten, das scheinbar auch in linken Kreisen Anklang findet, als Rassismus.



    Danke taz, dass Du dem etwas entgegen setzt.

  • Die Russen müssen echt beten das der Wille des Westens nachlässt die Ukraine zu unterstützen gegen die Wirtschaftsmacht des Westens gibt es keinen Sieg für Russland, Russland wird zu einem Land der Witwen, Waisen und Versehrten.

    • @Machiavelli:

      Da scheinen Sie davon überzeugt zu sein, der Westen ist an Putins Krieg schuld?

      • @HAHABerlin:

        Nein bin ich nicht. Aber der Westen wird diesen Krieg zu Ungunsten Russlands beenden wenn er will. Das russische Volk muss sich halt fragen ob es so zur Schlachtbank geführt werden will.

  • Es ist noch nicht lange her, als man mit russischen Touristen voll gefüllte Hotels in den Medien sehen konnten. Und mit; nicht lange her, meine ich schon nach dem 24 Februar 2022... Die entspannten Gesichter an den Pools und Bars, haben jetzt eine neue Facette bekommen! Hätten sie bloß Putins Gegner in eigenem Land unterstützt, anstatt an der türkischen Riviera und Israel zu entspannen - vielleicht wäre die traurige Geschichte doch etwas anders verlaufen.

    CARSTEN S. hat mit dem Zitat von Martin Niemöller das Thema gut getroffen!

  • Ich bin zornig, und mein Mitleid hält sich in Grenzen. Solange nur in der Ukraine gemordet wurde, war es anscheinend okay. Erst, wenn der Krieg das eigene Leben oder das eines nahestehenden Menschen kosten könnte, ist er schlimm.



    Es ist genau dieses "Unpolitischsein", das Diktaturen und Verbrecherregimes erst gross macht.



    Mir fällt dazu nur Martin Niemöller ein:



    "Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte."



    Das, was jetzt in Russland geschieht, war vorauszusehen.

    • @Carsten S.:

      So wie die deutschen glaubten A. H. sei ihr Führer glauben auch die Russen an Putin. Es gibt ja nur die eine Partei.