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Messerangriff in Zug bei BrokstedtLauter offene Fragen

Die Messerattacke in einem Regionalzug nahe Brokstedt sorgt für Entsetzen. Das Motiv bleibt unklar. Ähnliche Taten aber gab es zuvor schon.

Am Bahnhof in Broksedt wurde der Täter festgenommen Foto: Gregor Fischer/dpa

Berlin taz | Die Bestürzung ist auch noch am Tag danach spürbar. Am späten Donnerstagnachmittag tritt Bundesinnenministerin Nancy Faeser vor das Hotel „Bürgerhaus“ in Brokstedt, neben sich Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günter und Landesinnenministerin Sabine Sütterlin-Waack, beide CDU. Sie empfinde „tiefe Trauer“ und denke an die Opfer, sagt Faeser, die spontan in die Kleinstadt angereist war. Auch Günther beklagt, dass „zwei junge Menschen jäh aus dem Leben gerissen wurden“. Sütterlin-Waack hatte schon zuvor von einer Tat gesprochen, die sie „zutiefst betroffen“ mache.

Tags zuvor soll ein 33-Jähriger, Ibrahim A., in einem Regionalzug von Kiel nach Hamburg Mitreisende mit einem Messer attackiert haben. Eine 17-Jährige und einen 19-Jährigen, beide mit­einander bekannt, wurden tödlich verletzt, fünf weitere Fahrgäste teils lebensgefährlich. Auch der Tatverdächtige selbst verletzte sich leicht. Andere Mitreisende konnten A. schließlich überwältigen, die Polizei nahm ihn am Bahnhof Brokstedt fest. Am Donnerstagnachmittag wurde laut Staatsanwaltschaft Itzehoe gegen ihn einen Haftbefehl erlassen.

Das Motiv der Tat blieb am Donnerstag weiter unklar. Hinweise auf einen terroristischen Hintergrund gebe es bisher nicht, erklärte die Staatsanwaltschaft Itzehoe. Als Extremist war Ibrahim A. nicht bekannt, wohl aber als Straftäter. Medien berichteten, er habe nach der Tat verwirrt gewirkt. Itzehoes Polizeipräsident Frank Matthiesen berichtete dagegen von einem „ruhigen Eindruck“, den er auf Beamte gemacht habe.

Sütterlin-Waack betonte, noch sei vieles unklar. Auch das Ergebnis der Vernehmung von Ibrahim A. liege noch nicht vor. „Auch ich habe Fragen.“ Es blieben aber die Ermittlungen abzuwarten, so Sütterlin-Waack. Sie bitte daher, „Spekulationen keinen Raum zu geben“.

Auch für Ministerpräsident Günther stellen sich „viele Fragen, die wir aufklären müssen“, wie er vor dem „Bürgerhaus“ erklärt. Hätte die Tat verhindert werden können? Hat zwischen den Behörden alles richtig geklappt? Faeser sagt, zu klären sei auch, warum der Tatverdächtige trotz so vieler Vorstrafen nicht in Haft und noch im Land war.

Auch die Grünen fordern „keine Debattenverbote“

Bundesweit entfesselte die Tat aufgrund der von der Polizei schnell bekannt gemachten Nationalität des Tatverdächtigen, der staatenloser Palästinenser ist, auch eine politische Debatte. Die AfD forderte umgehend ein Ende der „wahnsinnigen Migrationspolitik“. Selbst Grünen-Chef Omid Nouripour sagte dem ZDF, es gebe „keine Debattenverbote“. Natürlich müsse man auch über Abschiebungen reden.

Für einen staatenlosen Palästinenser bräuchte es dafür aber ein aufnahmebereites Land – das es im Fall Ibrahim A. nicht gibt. Laut Staatsanwaltschaft reiste er im Dezember 2014 nach Deutschland ein – von woher, sei unklar. Im Juli 2016 erhielt er subsidiären Schutz. Im November 2021 wurde jedoch ein Rücknahmeverfahren eingeleitet, weil Ibrahim A. zuvor wiederholt straffällig wurde.

Mehrere Jahre hatte er zuvor in Nordrhein-Westfalen gelebt, sammelte dort drei Vorstrafen an, auch wegen Gewalttaten. 2021 zog er in eine Kieler Geflüchtetenunterkunft, in der er ein Hausverbot bekam, weil er Mitbewohnende belästigt haben soll. Zuletzt war er ohne festen Wohnsitz.

Auch die letzte Tat von Ibrahim A. war ein Messerangriff. Laut Staatsanwaltschaft Hamburg stach er am 18. Januar 2022 in einer Wohnungslosenunterkunft in der Hansestadt bei einer Essensausgabe einen anderen Mann mit einem Messer nieder. A. gab an, er habe unter Drogenkonsum gestanden. Wegen der Tat wurde er im August 2022 zu 13 Monaten Haft verurteilt – wogegen er Berufung einlegte. Bis vor sechs Tagen saß er dafür in U-Haft, aus der er wegen der langen Verfahrensdauer entlassen wurde. Dann erfolgte die Attacke in Brokstedt.

Kurz vor der Tat war Ibrahim A. laut dem Kieler Stadtrat Christian Zierau noch in der Kieler Ausländerbehörde, um eine Aufenthaltskarte zu beantragen. Dort habe er keinen auffälligen Eindruck gemacht, so Zierau.

Schon zuvor Messerangriffe in Zügen

Landesinnenministerin Sütterlin-Waack sagte, noch sei es zu früh für politische Forderungen und notwendige Lehren aus der Tat. Der Angriff erinnerte aber an andere Messerangriffe in Zügen in jüngerer Zeit. So hatte im Mai 2022 in Herzogenrath ein Mann mehrere Fahrgäste verletzt – er wurde in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen. Im November 2021 hatte ein Syrer in einem ICE bei Nürnberg vier Männer teils schwer verletzt. Die Tat wurde als islamistisch eingestuft, er wurde zu 14 Jahren Haft verurteilt. Schon im März 2021 hatte ein 25-Jähriger in Rommerskirchen einen 16-Jährigen niedergestochen und war zu acht Jahren Haft verurteilt worden.

Das Problem psychisch auffälliger Gewalttäter beschäftigt die In­nen­mi­nis­te­r:in­nen in Bund und Länder schon länger. Erst auf der jüngsten Innenministerkonferenz war dafür nach taz-Informationen ein Tagesordnungspunkt für die „Früherkennung von potenziellen Amokläufern und Attentätern“ anberaumt.

Nordrhein-Westfalen hatte bereits 2021 ein Pilotprojekt namens „Periskop“ gestartet, das labile Personen aufspüren soll, die Anschläge begehen könnten. Erhalten Polizei oder Behörden Hinweise auf psychische Erkrankungen und Gewaltaffinität, werden zu ihnen Prüffälle angelegt. Zusammen mit Gesundheitsbehörden, Schulen, Ausländerbehörden oder Kliniken berät die Polizei dann, wer der richtige Adressat für die Betroffenen ist und welche Maßnahmen ergriffen werden müssen.

Aktualisiert und ergänzt am 26.01.2023 um 17:40 Uhr. d. R.

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9 Kommentare

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  • Leider geht es immer wieder erneut los, dass bei jeder einzelnen Straftat, die die Öffentlichkeit erreicht, über Strafverschärfungen etc. gesprochen wird.

    Diese sind nach vielfältigen Studien schlichtweg wirkungslos. Sogenannte Härte führt, wenn es überhaupt Effekte gibt, zu mehr Kriminalität. Nachweislich das Rückfallrisiko senken, tun Maßnahmen, die sich auf die Behandlung und Rehabilitation beziehen. Das ist durch zahlreiche Studien belegt.

    Je unsicherer die Lebenssituation von Gewaltstraftätern oder Personen, die ein Gewaltpotential haben, desto häufiger kommt es zu Gewalt. Auch dies ist belegt.

    Wird ein Klima der Härte geschaffen oder werden Menschen ohne Perspektive illegalisiert, erhöht dies die Kriminalitätsrisiken und mindert sie nicht. Repressive ausländerrechtliche Maßnahmen eignen sich nicht zur Kriminalitätssenkung, sondern verfestigen illegale Strukturen.

    Die Gewaltstraffälligkeit hat in den letzten Jahrzehnten abgenommen, ganz entgegen des Glaubens vieler. Es wäre verheerend, wenn wir stattdessen, wie die USA und andere, auf Härte setzen.

    Denn dadurch ändert sich eine Gesellschaft so, dass sie mehr brutalisiert und dadurch kommt es auch zu einem Mehr an Kriminalität.

    Ein Artikel dazu von mir, damals erstaunlicherweise durch die Konrad Adenauer Stiftung veröffentlicht, findet sich hier: www.kas.de/c/docum...1c7&groupId=252038

    Härte in der Kriminalitätsbekämpfung droht, sich gegenseitig mit Kriminalität zu verstärken. Das hört nicht nach einmaliger Strafverschärfung auf, sondern geht immer weiter bei jeder Straftat - bis wir wie in den USA bei komplett unmenschlichen Strafen ankommen (lebenslang für dritten Diebstahl, hunderte Jahre Haft, keine Freiheitsperspektive, Todesstrafe etc. ).

    Dadurch wird die Gesellschaft wiederum so hart und brutal, dass auch die Kriminalität und ihre Brutalität steigt, was dann wiederum zu einem Mehr an Härte führt - ein Teufelskreislauf!

    • 3G
      39538 (Profil gelöscht)
      @PolitDiscussion:

      Sie haben vollkommen recht, in allem was Sie anführen — warum aber der Seitenhieb auf die Konrad-Adenauer-Stiftung? Insbesondere wo dort Ihrer Facheinschätzung doch Raum gewährt wurde. Die Stiftung leistet hier im Lande Kambodscha wirklich gute Arbeit. Und ein alter Mitarbeiter der Stiftung ist ja sogar zum deutschen Botschafter in Phnom Penh aufgestiegen.

  • Irgendwie stimmt da auch etwas nicht im Strafvollzug. Wenn da ein schon einmal tätlich gewordener Mann entlassen wird ohne eine Wohnadresse angeben zu können oder irgendwie nachgefragt wird,wo der Entlassene bleiben will (Warum hat ihn sein Verteidiger nicht unterstützt ?). Auch wenn es eine Untersuchungshaft war, die zu lange dauerte wegen Überlastung des Gerichts, muss doch irgendjemand eine Prognose abgeben oder Hilfestellung anbieten. Und der Täter hatte ja (ergebnislos) in Kiel beim Ausländeramt vorgesprochen und ist erst dann in den Zug nach Hamburg gestiegen, in der vagen Hoffnung, dort einen Schlafplatz zu finden. Ich denke, da gibt es noch Vieles zu klären, nicht zuletzt mit dem zuständigen Justizministerium.

  • "warum der Tatverdächtige trotz so vieler Vorstrafen nicht in Haft und noch im Land war."

    Warum er "noch" im Land war ist ja längst klar. Aber warum ein offensichtlich unsozialisierbarer Gewalttäter auf die Gesellschaft losgelassen wird, kann und will ich nicht verstehen. Die Herkunft spielt für mich dabei keine Rolle.

    • @Jörg Schulz:

      Kann Ihnen nur zustimmen!



      Das darf nicht sein.

  • Wir haben ein Migrationssystem, das wahnsinng machen kann - alleine wegen der beabsichtigten Dysfunktionaltität, was die Bearbeitung der Anträge und den Umgang damit und den Menschen angeht.



    Und wir haben eine Ausstattung (auch personell und persönlich) der Justiz und Verwaltung die irre macht.



    Der gefährliche Mann lief frei herum, weil er wegen überlanger Verfahrensdauer aus der U-Haft entlassen werden musste. Gegen wen wäre zu ermitteln? Niemand?



    Ich finde es mehr als schäbig, den Opfern und Hinteblebenen der Tat nun zuzumuten, dass man doch bitte schweigt, bis die Justiz was herausgefunden hat; wenn die Ermittlungen nicht eingestellt werden müssen, weil.... keiner da ist / Zeit hat.



    Auch die Frage der Zumutbarkeit ihr Persönlichkeitsrecht wahrnehmender unmedizierter kranker schwerst gestörter Menschen sollte gestellt werde: nicht nach, sondern vor der nächsten Tat - unabhängig von Alter oder Proveninenz. Noch ein paar Opfer mehr und der Mann ist im Maßregelungsvollzug für den Rest des Lebens; das hilft niemand: nicht den Opfern . nicht dem Täter. Weil was...

    • @oldleft:

      Vielleicht haben wir aber auch nur noch keine ausreichenden Strukturen, um, soweit dies im vorliegenden Fall den Tatsachen entspricht, labilen und oder erkrankten Menschen zu helfen und dabei gleichzeitig die Bevölkerung zu schützen.

  • "Auch die letzte Tat von Ibrahim A. war ein Messerangriff. Laut Staatsanwaltschaft Hamburg stach er am 18. Januar 2022 in einer Wohnungslosenunterkunft in der Hansestadt bei einer Essensausgabe einen anderen Mann mit einem Messer nieder. A. gab an, er habe unter Drogenkonsum gestanden. Wegen der Tat wurde er im August 2022 zu 13 Monaten Haft verurteilt – wogegen er Berufung einlegte. Bis vor sechs Tagen saß er dafür in U-Haft, aus der er wegen der langen Verfahrensdauer entlassen wurde. Dann erfolgte die Attacke in Brokstedt."

    Das ist schon ein harter Brocken, wenn man das so liest. Welches justiziale Organ hat hier versagt? Sowas darf einfach nicht vorkommen.

  • 4G
    49732 (Profil gelöscht)

    Man kommt schon gar nicht mehr hinterher mit den Meldungen!