Debattenkultur in Deutschland: Gefangen im Diskursteufelskreis
Schuld sind wieder mal Ausländer, Fleisch ist Leitkultur, Klimaaktivist*innen sind respektlos. In Deutschland dominieren die fauligen Debatten.
S ehr geehrte Lesende, liebe Mitbürger*innen der First, Business und Economy Class, leider muss ich Ihnen mitteilen, dass wir nach langjähriger Beobachtung zu dem Ergebnis gekommen sind, dass Deutschland sich selbst gefangen hält.
Die Lage ist ernst. Wir sind eingesperrt im Diskursteufelskreis. Eine Achterbahn der unangenehmen Gefühle. Ist Ihnen schon übel? Brauchen Sie eine Kotztüte? Sind Sie eingeschlafen vor Langeweile? Zur Fütterungszeit wirft ein Dompteur das rohe Fleisch aufs Klicklaminat.
Der Wecker piepst im Takt der fauligen Debatten. 00:15 Uhr: Ausländer raus. 6:45 Uhr: Die Freiheit Deutschlands wird auf der Karnevalsparty verteidigt. 11:20 Uhr: Grillfleisch ist Leitkultur. 14:03 Uhr: Verdammt, wer wird unseren Spargel stechen? 16:30 Uhr: Das wird man ja wohl noch sagen dürfen – aber bitte nicht auf Arabisch. 20:15 Uhr: Respektlose Klimakleber*innen als Bedrohung des Rechtsstaats. Dann von vorn, etwaige Lücken stopft „Identitätspolitik“. Und Fakten? Lieber nicht.
Ich habe mir mal vorgenommen, nicht auf diese Köder zu reagieren. Leider klappt das nicht immer. Rassistische und faktisch falsche Aussagen sollten nicht unwidersprochen bleiben, schon gar nicht, wenn sie von Staatsverwaltern getätigt werden, und von Leuten, die öffentliche Wahrnehmung formen. Es hilft nicht, das todlangweilig zu finden. Sich darüber zu belustigen. Zu glauben, man müsse es nur ignorieren, dann ginge es von alleine weg. Also: Gegenrede. Dagegen, dagegen, dagegen. Und doch ist mir mit jedem Satz, mit jedem Nachdenken über die Provokation, als ginge etwas Wichtiges verloren. Die Chance, herauszufinden, worüber man eigentlich nachdenken will. Die Möglichkeit, zu wachsen. Und das ist nicht nur mein persönliches Problem.
Gedankliches Auswandern
Demokratie braucht Widerstand, wenn der sich aber auf Abwehr beschränkt, kostet das: Energie, Lust am Mitmachen, und Raum für Ideen und für den Mut, über das Etablierte hinauszudenken. Es gibt viel Potenzial in Deutschland für diesen Mut – ganz besonders auch bei denen, die der CDU-Vorsitzende „kleine Paschas“ nennt und die Innenministerin „junge Männer mit Migrationshintergrund, die unseren Staat verachten“.
Bei denen, die Jahrzehnte geschuftet haben, um dann abgeschoben zu werden oder altersarm zu sein. Bei denen, die Lützerath verteidigt haben und für eine radikale Wende in der Klimapolitik kämpfen. So viel Potenzial, aber so wenig Boden, auf dem es wachsen kann.
Der „lebendigen Streitkultur“ sind Lebendigkeit und Kultur abhandengekommen. Im Diskursteufelskreis schaltet man die Nachrichten aus, redet nicht mehr mit, wandert gedanklich aus. Innerlicher Braindrain, nicht als Entgiftungskur, sondern für immer. Das ist der zerstörerische Nebeneffekt unterirdischer Debatten. Er führt dazu, dass dieses Land ständig scheitert an dringend notwendigem Wandel, Moderne und Fortschrittlichkeit. Muss das sein?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ost-Preise nur für Wessis
Nur zu Besuch
Israel demoliert beduinisches Dorf
Das Ende von Umm al-Hiran
Etgar Keret über Boykotte und Literatur
„Wir erleben gerade Dummheit, durch die Bank“
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Verzicht auf Pädagogen in Bremer Kitas
Der Gärtner und die Yogalehrerin sollen einspringen
Grüne Parteitagsbeschlüsse
Gerade noch mal abgeräumt