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Russlands Krieg gegen die UkraineRealität trifft auf Kremlherrscher

Moskau bestätigt die Annexion von vier ukrainischen Gebieten. Dabei sind Grenzverläufe noch unklar. Bei den Menschen in Russland wächst indes der Unmut.

Ohne Gegenstimme: Das russische Oberhaus beglaubigt am Dienstag Putins Landnahme Foto: Russischer Föderationsrat/reuters

Moskau taz | Moskau arbeitet sich schnell und stur an der Annexion ukrainischer Territorien ab. Hatte am Montag erst die Duma, das Unterhaus des russischen Parlaments, für Änderungen in der Verfassung gestimmt – ohne Gegenstimme freilich –, so folgte am Dienstag, ebenfalls ohne Gegenstimme, der Föderationsrat, das Oberhaus des Parlaments. Die Gebiete Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja nennt Russland nun „auf ewig“ russisch.

Die Unterschriften unter die vier „Ratifizierungsverträge“, für jedes Gebiet eines, sind gesetzt. Bis zur vollen Umsetzung der Gesetze gilt eine Übergangsfrist bis zum Jahr 2026. Zu feiern aber, wie Russlands Präsident Wladimir Putin mit seiner Unterschrift bereits am vergangenen Freitag zu tun vorgab, gibt es wenig im Land. Putins Traum von der „historischen Gerechtigkeit“ scheitert an der Realität. Auch wenn viele im Land diese Realität weiterhin verleugnen.

Die Stimmung aber wandelt sich. Nach Umfragen des staatlichen Meinungsforschungsinstitutes FOM bezeichnen knapp 70 Prozent der Befragten die Atmosphäre mittlerweile als „beunruhigend“. Das ist doppelt so viel wie vor der sogenannten Teilmobilisierung, die die Russen als „Vollmobilisierung“ wahrnehmen. Moskaus „militärische Spezialoperation“ ist in jeder Familie in Russland angekommen.

Die Menschen, die das Thema Krieg in den vergangenen sieben Monaten oft mit nahezu allen Mitteln zu umgehen versuchten, reden über kaum etwas anderes mehr. „Soll ich meinen Sohn erst zum Arzt schicken und dann zum Anwalt oder erst zum Anwalt und dann zum Arzt?“, fragen sich manche. Andere suchen nach Wegen, den Ehemann, Sohn oder Bruder aus dem Land zu bringen. „Oder zumindest auf irgendeine Datscha irgendwo in den Weiten Sibiriens“, erzählen sie.

Indirekt steht durch die Unzufriedenheit der Menschen letztlich auch die Autorität des Kremlschefs infrage. Vor allem auch, weil die Falken des Regimes immer aufmüpfiger werden, auch wenn ihre Kritik Putin als Oberbefehlshaber noch nicht infrage stellt.

Ramsan Kadyrow, der ungehobelte Machthaber Tschetscheniens, warf einem hohen General militärisches Versagen vor. Er nannte den „Nichtsnutz“ nach der Schlappe von Lyman, wo sich russische Streitkräfte Ende vergangener Woche offiziell auf „vorteilhaftere Linien“ zurückgezogen hatten, beim Namen: Alexander Lapin.

Lapin ist einer der federführenden Regionalkommandanten, den Putin seit der Invasion im Gegensatz zu vielen anderen Generälen nicht entlassen hatte. Er gilt gewissermaßen als Putins Liebling und wird nun nicht nur von Kadyrow offen angegangen. Auch Jewgeni Prigoschin, der Gründer der Söldnergruppe Wagner, sprang Kadyrow bei. „All diese Volldeppen sollten mit Sturmgewehren barfuß an die Front“, heißt es in Prigoschins Telegram-Kanal.

Das ist durchaus als Alarmzeichen zu sehen, denn sowohl Kadyrow als auch Prigoschin betreiben mit ihren schlagkräftigen und treu ergebenen Privatarmeen gewissermaßen eigene Machtzentren innerhalb der russischen Armee. In der Ukraine haben sie mit ihren brutalen Methoden Erfolge vorzuweisen und könnten im Gerangel um Macht versuchen, sich mit gewaltsamen Mitteln Vorteile zu verschaffen. Kadyrow hört etwa nicht auf, laut nach dem Einsatz von Nuklearwaffen in der Ukraine zu rufen.

Auch etliche Militärblogger klagen über die „Unentschlossenheit“ an der Front. Sie prangern den Mangel an Kommunikation zwischen den Einheiten an, beschweren sich über fehlende Verteidigungslinien und die viel zu spät ausgerufene Mobilisierung, die auch noch ungeordnet ablaufe. Die Kluft zwischen dem inszenierten Jubel aus dem Machtapparat und den Problemen mit der Antwort auf die Frage, wie es weitergehen soll, wird immer größer.

Verworrene Darstellung von Geschichte

Putin selbst holt lieber mit seiner verworrenen Darstellung von Geschichte aus, als auf praktische Fragen zu reagieren. Wo Russlands Westgrenze verläuft, vermag niemand zu sagen. Aus dem Kreml hieß es, die Grenzen der „neuen Subjekte“ sollen am „Tag der Aufnahme in die Russische Föderation“ bestimmt werden, rein formal also dann, wenn Putin nach der „Ratifizierung“ durch den Föderationsrat die „Verträge“ unterschreibt.

Der „Tag der Aufnahme“ ist für Putin allerdings der vergangene Freitag, als er zusammen mit den vier „Chefs“ der okkupierten Gebiete die „Heimholung“ im Kreml besiegelte. Faktisch aber kontrolliert Moskau den Grenzverlauf im Westen nicht. Auch die Machtverteilung innerhalb der annektierten Gebiete ist bislang nicht klar geregelt.

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20 Kommentare

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  • "Vor allem auch, weil die Falken des Regimes immer aufmüpfiger werden"



    Als Aufmüpfigkeit würde ich das nicht interpretieren. Maximale Verbalaggression ist einfach die einzige Methode von Kadyrow und Prigoschin, um ihre Loyalität zu Putin zu beweisen. Und eine sichere Methode: Auch wenn Putin zurückrudern sollte, sind Aufrufe zu Gewalt kein Fehler, der einen was kosten wird. (Umgekehrt schon).

    • @Barbara Falk:

      Es ist beides. Ein Loyalitätswettbewerb der 3 großen Machtgruppen (ideologische Hardliner, Militärführung, Propagandaapparat), der für die Geschlossenheit des Regimes alles andere als förderlich ist.

      Eigentlich müssten sie jetzt mehr zusammenstehen denn je. Stattdessen spielen sie Reise nach Jerusalem.

  • Leider kann Putin besonders gerade dann gefährlich werden, wenn er dabei ist, zu verlieren.

    • @PolitDiscussion:

      Diese Meinung ist hinreichend bekannt. Und absolut keine Richtschnur zum Handeln. Gedroht hat er von Anfang an. Die geäußerte Meinung heißt: Putin machen lassen. Dann kommt er zwar nicht nach Südostasion - den Wohnort des Meinenden - aber es ist eine komfortable Einladung zum weiter so. Als Psychologe sollte man das wissen.

  • Die Geschichte mit der "Befragung zum Grenzverlauf" spricht Bände.

    Zwischen der Annexion und jetzt hat man im Kremel verstanden, dass das Westufer des Dniepr nicht zu halten ist, ebensowenig wie die russische Armee wohl kaum kurzfristig ganz Donetzk oder Zaporijjia erobern kann. Das Ziel ist wohl, eine mehr oder minder leicht zu verteidigende Grenze zu definieren und den Krieg auf dieser einzufrieren, die Gebiete durch Bevölkerungsverschiebung dauerhaft zu russifizieren, um dann in ein paar Jahren nach Wiederaufrüstung den Rest der Ukraine zu erobern. Ich glaube nicht, dass es kurzfristig zu einer ernsten russischen Offensive kommen wird.

  • 4G
    47351 (Profil gelöscht)

    Als russischer Staatsrechtler würde ich wirklich verzweifeln: erst werden eigene Söldner auf fremdes Gebiet geschickt und zu Separatisten umgerubelt, dann wird aus einem angeblichen Manöver ein Angriffskrieg, dann werden Umfragen in einem Gebiet nach rechtlichen Regeln durchgeführt, die dort nicht gelten. Und schließlich wird diese Annexion in dem Moment gefeiert, in dem man dort wieder hinauskomplimentiert wird und keine Staatsgewalt mehr ausüben kann.

  • Alexander LAPIN, Putins Lieblingsgeneral. Lapin - heißt auf französisch Hase.

    • @Konfusius:

      Die Ukrainer hatten vor ein paar Tagen ein Propagandavideo mit dem Lied "Run rabbit run" hochgeladen, kann ich leider hier nicht verlinken weil darin doch eine Menge toter russischer Soldaten zu sehen sind. Aber passt jetzt wohl doppelt.

  • In der Realität ist die Ukraine nicht ein Fall von Angriff und Verteidigung, sondern ein hybrider Krieg mit nahezu allen Mitteln - ein Hype.

  • Hab ich etwas verpasst? Wo genau haben Kadyrows Leute oder die Wagner-Soeldner in der Ukraine "mit ihren brutalen Methoden Erfolge vorzuweisen"?

    • @Volker Scheunert:

      Ich dachte, das wäre bei der Schlacht um Mariupol der Fall gewesen.

      • @kric:

        Sagt Kadyrow, woanders lese ich, etwas davon, dass tschetschenische Einheiten aufgerieben wurden. Schlagkräftig scheinen die halt v. a. gegen unbewaffnete Zivilisten zu sein...

  • Leider müssen wir konstatieren, dass die Russen nicht gegen den Krieg sind sondern nur dagegen, dass sie ihn verlieren oder selbst daran teilzunehmen.



    Eine Reform von innen wird es nicht geben. Absolut hoffnungslos.

    • @Mallorcajoerg:

      Ja, genau andersrum wie bei uns. Aber warum sollten sie anders denken...?

      Die verteidigen nur die aus ihrer Sicht die nicht legalen aber legitimen Interessen der Menschen auf der Krim, Donbass etc.



      Und was wir hier an Gräuel sehen - erst seit paar Monaten - sieht man dort halt seit 2014.

      >Eine Reform von innen wird es nicht geben. Absolut hoffnungslos.

      Putin stirbt i-wann... die Frage ist, was dann. Hoffentlich kein Kadyrow.

      Ein 2. Lybien, paar Meter nebenan & 30x so groß, mit Kadyrow UND zig Tsd Atomwaffen - USA sind weit weg. und evtl. kommen durch Kontakte zum Widerstand an's Öl im Kaukasus - wie das für Europa ne sonnige Perspektive sein sollte kann ich aber nicht sehen.

    • @Mallorcajoerg:

      Das haben sich Zar Nikolai II und Leopoldo Galtieri auch gedacht.

  • Putin wird erst mal keine Nuklearwaffen einsetzen - sonst hätte er sich ja die Mobilisierung sparen können.

    • @Timelot:

      gewagte These. wenn eine Atombombe nur noch genug gezündet wird, ist die kurzfristige Wirkung zwar verheerend aber eine langfristige Verstrahlung tritt nicht ein. Putin könnte auch erst die Ukraine taktisch angreifen um dann freien Weg für seine Soldaten zu schaffen.

      • @Usch Bert:

        Deswegen ist es wichtig das die NATO sagt das sie dann interveniert. Dann bringt ein Atomwaffeneinsatz nichts und bleibt aus.

      • @Usch Bert:

        Gewagte These: "Atombombe nur goch genurg gezündet wird ist die kurzfristige Wirkung zwar verheerend aber eine langfristige Verstrahlung tritt nicht ein".



        Dann hat eine taktische Atombombe aber



        a) auch keine große Wirkung. Ein solche kleine Bombe (>=1K TNT) hat nur einen Wirkungsradius von ein paar hunder Metern.



        b) Die Dinger sind vom Prinzip her ziemlich dreckig weil es eine Mindesmenge Plutonium erfordert um eine Atomwaffe zu zünden.

        Die militärische Wirkung einer einizge Bombe ist sehr gering. Um etwas zu bewirken braucht man 10-30 Bömbchen. Dann werden die schlecht ausgerüsteten Rekruten aber zinelich nervös senn sie in diese GEbiete einrücken müssen.