Persönline Erinnerungen an Gorbatschow: Wodka, Winkelemente, Wirkung
Michail Gorbatschows Tod hat bei vielen Menschen im Westen eine große Traurigkeit ausgelöst. Vier Autor:innen erinnern sich persönlich an ihn.
Hoffnung und Neugier auf lebbaren Sozialismus
Die Frau setzt die Flasche an und lässt das Bier, das sie aus einem Tankwagen abgefüllt bekommen hatte, in einem Zug ihre Kehle herunterrinnen. Es ist Winter 1986 in Smolensk, ich stehe neben dem Spektakel und denke nur: So können Perestroika und Glasnost also auch aussehen.
Ich studierte damals Slawistik in Leipzig und verbrachte, so wie fast alle, die in der DDR russische Sprache und Literatur studierten, eine längere Zeit in der Sowjetunion. Ich wäre gern in Moskau gewesen, aber mich hatte es in die Provinz verschlagen. Dort war der Prohibitionismus, den Michail Gorbatschow als Generalsekretär der KPdSU ausgerufen hatte, um die Wirtschaft auf Vordermann zu bringen, stärker spürbar als anderswo. Es gab tatsächlich keinen Alkohol, die Leute brannten Schnaps selbst, einmal im Jahr kam ein Bierwagen.
Das irritierte mich zutiefst. Da bin ich in einem Land, das sich anschickt, den Sozialismus wirklich lebbar machen zu wollen, in Smolensk meine ich (fast) alles sagen zu können, was ich denke – und dann bildet sich am Bierwagen in Sekunden eine meterlange Schlange? Nach Smolensk reiste ich mit großer Hoffnung auf etwas Neues – und auf Gorbatschow. 1986 wusste ich noch nicht so recht, was das wohl werden wird mit Gorbi und seiner Perestroika. Das erlebte ich dann 1989 – umso euphorischer. Simone Schmollack
Mit Winkelementen an der Protokollstrecke
Er war einer meiner ersten Popstars. Im Sommer 1989 gab es plötzlich massenhaft Buttons mit seinem Konterfei. Auch ich steckte mir einen an, als unsere Klasse zum 40. Jahrestag der DDR mit Winkelementen an die Protokollstrecke beordert wurde. Die Winkelemente gab die Pionierleiterin aus, die Buttons wurden unter der Hand gehandelt. Die greise DDR-Führung hatte Gorbatschow zum 7. Oktober als Staatsgast eingeladen, wollte sich mit ihm schmücken. Er sollte ihnen mit seinem „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ einen Strich durch die Rechnung machen.
Für mich und viele meiner Klassenkamerad:innen war „Gorbi“ längst zum Symbol der Subversion gegen die vertrocknete Politikkaste und die starren Strukturen des Systems geworden. Perestroika und Glasnost waren klingende Begriffe, wir spürten, dass eine Zeit zu Ende ging und etwas Neues begann. Unsere Klasse schrumpfte täglich, Freunde verabschiedeten sich mit einem verstohlenen „Wir reisen aus“ und waren am nächsten Tag weg.
Wir Verbliebenen standen also am 7. Oktober an der Hermann-Duncker-Straße und riefen „Gorbi, Gorbi“ und winkten wie wild mit unseren Fähnchen. Wir winkten Michail Gorbatschow zu und Erich Honecker zum Abschied. Einen Monat später demonstrierten Hunderttausende auf dem Alexanderplatz. Fünf Tage später fiel die Mauer. Anna Lehmann
Ein Mensch voller Leben, der frei sprach
Erich Honecker, Leonid Breschnew, Konstantin Ustinowitsch Tschernenko – ich war zwanzig Jahre alt und wurde bis dahin mein ganzes Leben lang von Untoten regiert. Bis zum März 1985 war das so. Dann kam Michail Sergejewitsch Gorbatschow.
Er war ein Mann, der in seiner Jugend Mähdrescher gefahren ist, so wie ich es in der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft getan hatte. Ein Mensch voller Leben, verheiratet mit einer Frau, nicht mit der Partei. Einer, der frei sprach und Wörter benutzte, die ich nie gehört hatte, obwohl ich in der Schule Russisch hatte. „Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen“, rief er uns von Moskau herüber. „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen!“, hatten uns unsere Geschichtslehrer damals eingebläut. Jetzt gaben wir es ihnen lachend zurück. Wir brüllten „Gorbi! Gorbi!“ im Leipziger Herbst 1989. Und dann kam: „Wer zu spät kommt …“
Der Rest ist Geschichte. Ich selbst bin ihm nie begegnet, doch Gorbatschow hat auch mein Leben verändert. Was haben sie uns damals nicht alles erzählt, von den Volksmassen und den Gesetzmäßigkeiten der Geschichte. Dass aber ein einzelner Mensch das System zum Einsturz bringen kann, kam in ihrer stolzen Lehre nicht vor. Dass es schließlich ein Genosse war, haben sie ihm nie verziehen. Thomas Gerlach
Gorbimanie: Run auf Slawistik
Als Michail Gorbatschow 1985 sowjetischer Generalsekretär wurde, war ich gerade 16 geworden. Schule war für mich ein notwendiges Übel, dem ich wenig Zeit und Energie widmete. Das änderte sich schlagartig, als ich nach den Sommerferien von einem Russischkurs an meinem Oldenburger Nachbargymnasium erfuhr.
Dank einer engagierten Lehrerin wurde meine dritte Fremdsprache schnell mein Lieblingsfach und verbesserte deutlich meinen Notendurchschnitt. Der Kurs bescherte mir auch zwei Reisen in die Sowjetunion. Klar, dass ich anschließend Slawistik studieren wollte. Doch wegen der „Gorbimanie“ war der Run auf das Fach groß, der NC an der FU Berlin lag bei 2,2. Nur dank zweier Wartesemester konnte ich mich letztendlich immatrikulieren. Insgesamt waren wir schließlich 100 Slawistik-Erstsemester. Pro Russisch-Sprachkurs 50 Leute.
1991 dann erlebte ich das Ende von Gorbatschows politischer Karriere quasi live vor Ort. Der August-Putsch, der das Ende der Sowjetunion einläutete, überraschte mich bei meinem ersten längeren Aufenthalt in Leningrad. Die Nachrichtenlage vor Ort war dürftig, es gab weder Handy noch Internet. Nur dass Gorbatschow auf der Krim gefangen war, erfuhren wir irgendwie. Mir bleiben die drei Tage als bedrohliche Erfahrung in Erinnerung. Gaby Coldewey
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!