Zum Tod von Michail Gorbatschow: Auswärts beliebter als zu Hause

Im Westen verehrt, in Russland beschimpft: Der frühere Sowjet-Präsident Michail Gorbatschow riss Mauern ein und glaubte an die Freiheit. Ein Nachruf.

Michail Gorbatschow und Erich Honecker küssen sich

Kuss vom großen Bruder: Michail Gorbatschow und SED-Prteichef Erich Honecker 1987 in Berlin Foto: ap

MOSKAU taz | Noch kurz vor seinem 90. Geburtstag, als er bereits gebrechlich war und sich kaum mehr der Öffentlichkeit zeigte, sagte Michail Gorbatschow einen Satz, der stets seine Lebensüberzeugung gewesen war: „Es darf keinen Krieg geben, wir müssen in Freundschaft leben.“ Ein Jahr nach diesem Satz ließ Wladimir Putin, Gorbatschows Nachfolger, auch wenn Gorbatschow nie russischer Präsident gewesen war, Bomben auf die Ukraine fallen. Sechs Monate später starb Gorbatschow am Dienstagabend infolge einer langen schweren Erkrankung in einem Moskauer Krankenhaus.

Putins Pro­pa­gan­dis­t*in­nen frohlocken selbst in diesem Moment der Trauer: „Gorbatschow ist tot. Zeit, das Versprengte wieder einzusammeln“, schrieb etwa Margarita Simonjan, die Chefin des staatlichen Fernsehsenders RT, in ihrem Telegram-Kanal. Es ist diese Art Verachtung, die Gorbatschow im Russland Putins stets entgegenschlug, weil nicht wenige Menschen im Land – wie auch Putin selbst – den Zerfall des großen Imperiums, dessen Wegbereiter der erste und letzte sowjetische Präsident war, nie überwunden haben.

Nun ist Krieg, im Heimatland von Gorbatschows Mutter. Er ist ein Symbol dafür, wie unverarbeitet die sowjetische Vergangenheit bis heute in Russland ist, und eine völlige Demontage von Gorbatschows Erbe, seiner Überzeugung von einem Leben in Freiheit und Frieden. Heuchelei und Lüge sind zurück, die Menschen in Russland tun – aus Angst oder auch aus Überzeugung – wieder so, als ginge das Leben einfach weiter, obwohl russische Soldaten ukrainische Städte zerstören und Kinder, Frauen und Männer in einem anderen Land bestialisch töten und ihnen jegliches Menschsein absprechen.

Sie tun so, als sei alles normal, obwohl russische Po­li­zis­t*in­nen ihre eigenen Nach­ba­r*in­nen abholen, russische Rich­te­r*in­nen diese Nach­ba­r*in­nen für Jahre in die Strafkolonie schicken, weil diese Krieg als Krieg bezeichnen und das tun, was sie aus Zeiten Gorbatschows gelernt haben: kritisieren, unbedingt auch die Führung des eigenen Landes. Der Tod des historisch unvergessenen Mannes, der im Westen stets „Gorbi, der Friedens­engel“, geblieben war und in Russland von vielen als „Gorbatsch, der Totengräber der Sowjetunion“, gehasst wird, zeigt auf tragische Weise, welche Epoche mit ihm zu Ende geht.

Geprägt vom „Vaterländischen Krieg“

Michail Gorbatschow, 1932 im nordkaukasischen Stawropol geboren, war elf, als der Krieg in sein Dorf kam. Es lag in der ukrainisch-russischen Grenzregion. Der Zweite Weltkrieg, den die Rus­s*in­nen bis heute „Vaterländischer Krieg“ nennen, dessen Bedeutung Putin entstellt und für seine Politik voller Großmachtfantasien missbraucht, er prägte Gorbatschow ein Leben lang. In nahezu jedem Interview ging er auf die entbehrungsreiche Zeit ein, holte manches Mal auch zu weit aus, allein um das Ausmaß dessen zu zeigen, was ihn stets geleitet hat. Er blieb ein Verfechter des „Nie wieder“, ein Widerpart zum Putin’schen „Wir können es wiederholen“. Dessen Politik hatte er zuletzt, als er noch auftreten konnte, kritisiert. Vor allem im Innern. Hatte Putins Regierungsstil als „Imitation der Demokratie“ bezeichnet.

Außenpolitisch aber unterstützte der „Patriot“, als der er sich immer sah, durchaus Putins Pläne. Er hieß die russische Annexion der Krim gut, ging auch zuweilen konform mit Putins immer lauter werdender Kritik an den USA. Der Überfall auf die Ukraine, so überliefern es zumindest jene, die noch Zugang zu Gorbatschows Krankenbett hatten, machte ihn allerdings völlig fassungslos.

Gorbatschow war 19, als er, ein Bauernjunge, zum Jurastudium nach Moskau kam. Sein schwerfälliger südrussischer Akzent war stets Anlass zu Spott – selbst als er bereits die höchste Karrierestufe des sowjetischen Einparteienstaates erklommen hatte. Der Junge aus dem Dorf verstand schnell, dass sich ihm die Türen erst mit dem Eintritt in die Kommunistische Partei öffneten. Mit seinem Umzug wurde er Mitglied der KPdSU, mit 40 stieg er ins Zentralkomitee auf. Acht Jahre später war er eines der Mitglieder des Politbüros, des höchsten Leitungsgremiums der Partei und somit auch des Staates.

Juri Andropow, der damalige Chef des sowjetischen Geheimdienstes KGB, förderte den aufstrebenden Genossen. Als nach dem Tod Andropows auch dessen Nachfolger Konstantin Tschernenko am 11. März 1985 starb, übernahm Gorbatschow nur einen Tag später den Posten des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei – mit gerade einmal 54 Jahren, ein Jüngling fast im Vergleich zu seinen Vorgängern.

An die Partei und die Sowjetunion glaubte er noch, als sich diese längst in Auflösung befanden. Einer Auflösung, deren Wegbereiter er selbst war – mit seinen Reformen, durch die er die Welt zwei russische Begriffe lehrte: Glasnost (Transparenz) und Perestroika (Umbau). Als er auf dem 27. ­Parteitag der KPdSU im Februar 1986 von der „Strategie zur Beschleunigung der sozial­ökonomischen Entwicklung“ sprach, versetzte er sein Land in einen stürmischen Denkprozess. Er ließ Eigentum legalisieren, ließ politische Gefangene frei und sowjetische Truppen aus Afghanistan abziehen. Er machte die deutsche Einheit möglich, verhandelte mit den USA über Abrüstung. 1990 bekam er dafür den Friedensnobelpreis.

Kritik war nun gestattet
Ronald Reagan und Gorbatschow auf dem Roten Platz in Moskau

Da wurde noch geredet: Gorbatschow zeigt US-Präsident Ronald Reagan den Roten Platz in Moskau, 1988 Foto: Ira Schwartz/ap

Durch Gorbatschows Öffnung wurde in der Sowjetunion gezweifelt, gestritten, endlich Politik gemacht. Er nahm den Menschen die Angst vor der Obrigkeit und war – im Gegensatz zu Stalin und Putin – nie der Meinung, dass der Chef immer recht habe. Er ließ sich selbst kritisieren, was ihm auch nach dem Ende der Sowjetunion Stärke verlieh. Dennoch hatte er sich bis ins hohe Alter an den Gedanken gehalten, das sowjetische Imperium, das durch das Sammeln von Territorien, durch Zwang und Gewalt geformt worden war, trotz seines Umbaus zu halten gewesen wäre. Die Freiheit, die er möglich machte, ging mit leeren Ladenregalen einher. In den sowjetischen Republiken forderten immer mehr Menschen ihre Unabhängigkeit. Die Kasachen wollten einen eigenen Staat, die Balten gingen für ihre Selbstständigkeit auf die Straße, im Kaukasus kam es zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen.

Altkommunistische Hardliner putschten schließlich, hielten Gorbatschow tagelang auf der Krim fest. Boris Jelzin, der so unerschrocken auf einen Panzer vor dem Weißen Haus in Moskau kletterte, bot den Ewiggestrigen die Stirn – demütigte mit seinem Verbot der KPdSU aber auch deren entführten Generalsekretär. Sechs Jahre nach dem Amtsantritt ging Gorbatschow zusammen mit dem Land, an das er so sehr glaubte und das er notfalls auch mit Gewalt zusammenzuhalten bereit war. Das Prinzip der Gewalt zur Lösung von Problemen ist bis heute ein fester Bestandteil russischer Politik.

Gorbatschow war gescheitert – und ist gerade durch dieses Scheitern ein Vorbild, zumindest für eine Minderheit in Russland: Er ist bis heute der einzige Staatsmann der russischen Geschichte, der zurücktrat und die Macht durch eine echte Wahl einem anderen überließ. Putin, der nie einen Hehl daraus machte, wie sehr er Gorbatschow und seinen Reformen abgeneigt war, hat mit dem Krieg in der Ukraine Gorbatschows Vermächtnis zunichtegemacht. Hat dessen Träume von einem „gemeinsamen Haus Europa“ zerstört. Für Putin bedeutet der Verlust des Imperiums mehr als die Freiheiten, die aus Gorbatschows Reformpolitik erwuchsen.

Gorbatschow versank nach seinem Rückzug schnell in der Bedeutungslosigkeit. Mit seiner Stiftung setzte er sich für Menschenrechte und Umweltschutz ein, war Mitinhaber der unabhängigen Zeitung Nowaja Gaseta. Nach dem Überfall auf die Ukraine und den harschen Mediengesetzen stellte das Blatt die Arbeit ein. Der letzte Sowjetchef lebte zuletzt, bis er ins Moskauer Zentralkrankenhaus kam, ein einsames Leben auf seiner Staatsdatscha nahe der russischen Hauptstadt. Hier hatte er Helfer, Köchinnen, die ihn mit Pelmeni, den russischen Teigtaschen, versorgten, Pfleger, die ihn ins Bett trugen. Und hier hatte er Fotos seiner längst verstorbenen und geliebten Frau Raissa. Viele Fotos.

Auf dem Moskauer Friedhof des Neujungfrauenklosters wird er neben seiner Raissa beigesetzt. Wohl ohne hohe ausländische Gäste. Auch das eine Tragik, herausgewachsen aus der Monstrosität des russischen Krieges in der Ukraine.

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