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Bundessozialgericht zu Hartz-IVTrinkgeld? Geht nicht an den Staat

Wenn jobbende Hartz-IV-Be­zie­he­r:in­nen Trinkgeld erhalten, wird das bisher vom Arbeitslosengeld abgezogen. Zu Unrecht, so das Bundessozialgericht.

Trinkgeld zählt nicht: Das Bundessozialgericht stärkt die Rechte von Hartz IV-Bezieher:innen Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Kassel taz | Hartz IV-Empfänger:innen, die sich etwas dazu verdienen, können Trinkgelder grundsätzlich behalten. Das entschied jetzt das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel. Erst ab rund 45 Euro monatlich müssen Trinkgelder auf das Arbeitslosengeld II (ALG II) angerechnet werden.

Geklagt hatte eine Frau aus Niederbayern, die als ausgebildete Fachkraft in der Gastronomie arbeitete. 2014 musste sie nach einer Hüft-Operation aussetzen und bezog in dieser Zeit ALG II. Anfang 2015 konnte sie wieder für einzelne Schichten bei ihrem Arbeitgeber, einem kleinen Wirtshaus, einspringen. Sie verdiente pro Monat 147 Euro und erhielt nach eigener Schätzung 25 Euro Trinkgeld dazu, macht zusammen 172 Euro.

Da Hartz IV-Empfänger:innen nur 100 Euro monatlich ohne Anrechnung hinzuverdienen dürfen, kürzte das Jobcenter Deggendorf das ALG II der Frau, das damals bei rund 400 Euro lag, um 72 Euro.

Die Frau sah aber nicht ein, warum sie das Trinkgeld nicht behalten darf und klagte. Tatsächlich war die Frage bisher weder gesetzlich geregelt noch höchstrichterlich entschieden. Zunächst verlor die Klägerin aber beim Sozialgericht Landshut und beim Landessozialgericht München. Trinkgeld sei Teil des Erwerbseinkommens und daher anzurechnen, hieß es.

„Wer nicht zufrieden ist, verzichtet eben auf ein Trinkgeld“

So argumentierte vor dem Bundessozialgericht auch Liane Leske, die das Jobcenter Deggendorf vertrat: „Die Kunden geben Trinkgeld, weil sie wissen, dass in der Gastronomie und beim Friseur nicht viel verdient wird“, so Leske, „das Trinkgeld soll dazu dienen, dass die Empfänger ihren Lebensunterhalt sichern können.“

Das sah Gönül Konuksever, die Anwältin der Klägerin, ganz anders: „Das Trinkgeld ist kein Arbeitseinkommen, sondern ein Geschenk.“ Die Kunden zeigten damit ihre Dankbarkeit. „Mit dem Trinkgeld bedanke ich mich für die Freundlichkeit des Service, die Schnelligkeit der Bedienung oder ich gebe etwas, weil mir das Gesicht der Kellnerin gefällt.“

Seit Einführung des Mindestlohns müssten die Kunden auch nicht mehr davon ausgehen, dass der Lebensunterhalt der Servicekräfte nur mit Hilfe von Trinkgeldern gedeckt werden kann.

Im Ergebnis folgte das Bundessozialgericht nun überwiegend der Klägerin. „Trinkgelder sind kein Erwerbseinkommen“, sagte die Vorsitzende Richterin Sabine Knickrehm, „denn das Trinkgeld zahlt der Kunde und nicht der Arbeitgeber.“ Trinkgelder seien auch freiwillig. Es gebe keine sittliche Pflicht, Trinkgeld zu bezahlen. „Wer nicht zufrieden ist, verzichtet eben auf ein Trinkgeld“, so die Richterin.

Laut Sozialgesetzbuch II müssen Zuwendungen, die ohne rechtliche und sittliche Pflicht bezahlt werden, nicht auf das ALG II angerechnet werden – soweit die Hilfsbedürftigkeit im wesentlichen bestehen bleibt. Die Grenze ist gesetzlich nicht definiert. Das BSG setzte sie nun bei zehn Prozent des Hartz IV-Regelsatzes an. Das heißt: derzeit können Hartz IV-Empfänger Trinkgelder von bis zu 44.90 Euro pro Monat ohne Anrechnung behalten.

Relevant ist das Urteil für alle Hartz IV-Empfänger, die sich ab und zu etwas hinzuverdienen (können). Wer gar nichts verdient, bekommt auch kein Trinkgeld. Und wer viel verdient, ist nicht bedürftig und bekommt kein ALG II.

Die Klägerin, die heute Mitte 40 ist, bekommt nun vom Jobcenter Deggendorf rund hundert Euro nachbezahlt. Sie selbst war in Kassel nicht anwesend. Nach der Genesung von der Hüftoperation hatte sie jahrelang wieder voll in der Gastronomie gearbeitet und ihr eigenes Geld verdient. In der Coronakrise wechselte sie die Branche und fährt jetzt für die Caritas Essen aus. Az.: B 7/14 AS 75/20 R

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5 Kommentare

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  • Im Artikel steht so ganz anonym das "Jobcenter Deggendorf".



    Aber dahinter stehen Personen.



    Um nicht zu sagen Menschen.

    Und ich wüsste gerne wer das ist. Damit ich mir ein Bild davon machen kann was das für eine Person ist. Welches Parteibuch diese Person hat. Wie diese Person lebt.

    Und damit ich rechtzeitig die Strassenseite wechseln und ausspucken kann.

  • Worüber sich die Gerichte alles Gedanken machen müssen. Hartz4ler die ihr Trinkgeld abgeben sollen und Politiker die Millionen Provisionen bei Maskendeals einkassiert haben...

    • @robby:

      Beides wird von Gerichten zu Recht bearbeitet. Wenn das was dort verhandelt wird auch völlig zu Unrecht passiert. Will heißen: Trinkgeld auf Hartz-IV anzurechnen ist eine Frechheit und ein Maskendeal, wie erfolgt, ebenfalls.

  • Trinkgeld ist bereits versteuertes Geld,



    also sollte es immer und in jeder Einkommensklasse bis zu einer bestimmten Obergrenze Steuerfrei sein. Eine Obergrenze deshalb damit kein Schindluder damit getrieben werden kann.

  • Höchstpeinlich, dass erst ein Richterspruch ergehen muß, damit ein Jobcenter einsieht, daß Trinkgeld kein Einkommen ist und auch nicht vom Arbeigeber bezahlt wird.



    Unverschämt, daß dieses Gebahren des Jobcenters sicher nicht das einzige seiner Art ist, und seit Jahren Praxis in vielen anderen Städten war.



    Noch unverschämter, daß es überhaupt zu so einer Praxis kam und man Trinkgelder angeben muß.