Ukraine-Geflüchtete in Berlin: Unter einem Dach
Dörte und Frank haben im März drei Ukrainerinnen aufgenommen. Was heißt es, so lange als eigentlich Fremde zusammenzuleben?
A n einem Abend Anfang März hält Dörte es nicht mehr aus. Eine Woche ist es her, dass Putin die Ukraine angegriffen hat, im Fernsehen laufen die Bilder der zerstörten Häuser, der fliehenden Frauen und Kinder. Einfach nur zuschauen, das will sie nicht mehr. „Was hältst du davon, wenn wir jemanden aufnehmen?“, fragt sie Frank, ihren Partner. Zehn Minuten später sind sie auf dem Weg zum Berliner Hauptbahnhof.
Dort kommen in den ersten Wochen des Kriegs täglich über zehntausend Geflüchtete an. In einer Nebenhalle des Bahnhofs warten Menschen, die bereit sind, UkrainerInnen bei sich unterzubringen. Junge und Ältere, zwei Punks, jemand hat einen Kinderwagen dabei. So sieht man es auf einem Video, das Dörte an jenem Märzabend gemacht hat. Viele halten Pappschilder hoch, darauf steht, wie viele Geflüchtete sie bei sich aufnehmen könnten und für wie lange. Auch Dörte und Frank schreiben einen solchen Zettel. Sie haben ein Gästezimmer und die Couch im Wohnzimmer, Platz für drei Personen. Immer, wenn Geflüchtete und BerlinerInnen zueinander finden, wird in der Halle gejohlt und geklatscht.
Gegen 21 Uhr ruft ein Helfer, dass eine ukrainische Großmutter, deren Tochter und die zehnjährige Enkelin eine Bleibe suchen. Nina, Maryna und Salma. Sie haben nur einige Tüten und einen kleinen Koffer dabei. Dörte meldet sich. Bei der Begrüßung hilft eine Dolmetscherin, dann geht alles ganz schnell. Zu fünft sitzen sie plötzlich im Auto, Dörte, Frank, Nina, Maryna, Salma, und fahren durch das nächtliche Berlin. Zur Vierzimmerwohnung in Neukölln, wo sie von jetzt an zusammen leben werden. Keiner von ihnen weiß, für wie lange. Ob alles gut gehen wird. Ob sie sich überhaupt verstehen.
Über 600.000 UkrainerInnen wurden seit Kriegsbeginn in Deutschland registriert, vor allem viele Frauen und Kinder. Diese Zahl umfasst auch jene, die in andere Länder weiter- oder wieder in die Ukraine zurückgereist sind. Genaue Daten gibt es nicht, auch nicht zur Art der Unterbringung. In einer Befragung des Bundesinnenministeriums von Ende März sagten jedoch fast zwei Drittel der befragten Geflüchteten, sie hielten sich in privatem Wohnraum auf. Viele schliefen bei Freunden und Verwandten, 22 Prozent „in einer anderen Privatwohnung“ – etwa bei Menschen, die sie gar nicht kannten. Bei Leuten wie Dörte und Frank.
Dass Geflüchtete bei Einheimischen wohnen, unterscheidet die Situation von 2015: Die Menschen aus dem Nahen Osten mussten Asyl beantragen und für die Dauer des Verfahrens in Sammeleinrichtungen wohnen. UkrainerInnen dürfen ohne Visum in die EU einreisen. Sie können in Deutschland einen Aufenthaltstitel für ein Jahr beantragen, ihn auf bis zu drei Jahre verlängern – und eben bei Privatleuten schlafen.
Nun dauert der Krieg schon ein Vierteljahr. Was heißt es, so lange mit Fremden zusammenzuleben, für beide Seiten? Die taz hat Dörte und Frank, Nina, Maryna und Salma in den vergangenen Wochen begleitet.
An einem Montagabend Anfang April sitzen Dörte und Frank an ihrem Küchentisch und erzählen, wie die Ukrainerinnen zu ihnen kamen. Dörte arbeitet als Therapeutin, sie wirkt im Gespräch ruhig und gelassen. Als sie jedoch über die schrecklichen Fernsehbilder vom Kriegsbeginn spricht, ringt sie um Fassung. Frank sagt: „Man musste was tun.“ Er ist Architekt, die Brille rutscht ihm beim Reden tief auf die Nase.
Zu Beginn des Gesprächs steht Maryna, die Mutter der kleinen Salma, noch in der Küchentür und schaut auf ihr Handy. An diesem Wochenende sind gerade die Gräuel von Butscha bekannt geworden, Maryna sucht nach neuen Nachrichten. Der Kriegsverlauf beschäftigt die Frauen sehr, sie tauschen sich auch mit Dörte und Frank darüber aus. Manchmal fragt Dörte sie bewusst auch nach anderen Dingen. „Wenn sie Fotos von ihren Wohnungen, ihrem Garten zeigen, fangen sie an, ganz anders zu erzählen, fröhlich.“
Maryna und Salma verschwinden ins Gästezimmer. Großmutter Nina, blondiert und in weißen Puschen, hantiert mit dem Wasserkocher. Nach über vier Wochen kennt sie sich gut in Dörtes und Franks Küche aus. Sie macht sich einen Tee mit Honig und zieht sich dann ebenfalls zurück. Die Ukrainerinnen sprechen kein Deutsch und kaum Englisch, sie werden später von ihren Erlebnissen erzählen, wenn eine Dolmetscherin der taz dabei ist. Mit Dörte verständigen sie sich per Übersetzungsapp. „Ich hatte noch nie so oft das Handy am Tisch, ich hasse das eigentlich“, sagt Dörte. Jetzt hilft es aber, jeden Tag.
Frank ist in Ostberlin aufgewachsen. Für Nina, Maryna und Salma kramt er sein Schulrussisch hervor. Für Höflichkeitsformen reiche das nicht, sagt er, sie duzten sich von Anfang an. Auch deshalb tauchen sie in diesem Text alle nur mit ihren Vornamen auf. Nina heißt in Wirklichkeit anders. Sie wohnte vor dem Krieg in der von den Russen besetzten Region Luhansk und möchte durch diesen Text keine Probleme bekommen, sollte sie eines Tages in ihre Heimat zurückkehren.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Dass Dörte und Frank die drei aufgenommen haben, hängt mit ihren eigenen Geschichten zusammen. Frank fühlt sich Osteuropa verbunden, schon weil er in der DDR viel über Kultur und Geschichte dort gelernt hat. Er habe nicht nur eine ostdeutsche, sondern auch eine linke Vergangenheit, sagt er. Früher habe er von einer neuen Gesellschaft geträumt, von einem Leben, das nicht von Eigentum bestimmt sei. Wie sich Russland aber entwickelt habe, die Diktatur, der knallharte Kapitalismus, nun der Krieg, das sei grauenhaft. „Ich erlebe das als endgültiges Scheitern dieser linken Utopie, als totale Katastrophe.“
Dörte wiederum stammt aus der Nähe von Hamburg. Ihr Großvater war General der Wehrmacht, befehligte den Balkanfeldzug und wurde bei den Nürnberger Prozessen angeklagt. Ihre Mutter floh im Zweiten Weltkrieg aus Ostpreußen. Dörte engagierte sich nach dem Abitur bei der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste und beschäftigte sich auch als Erwachsene viel mit dem Zweiten Weltkrieg. Als Therapeutin arbeitete sie unter anderem mit Traumatisierten des Krieges, Soldaten wie zivilen Opfern. Manchmal werde sie wegen ihres Nachnamens, Foertsch, mit ihrem Großvater in Verbindung gebracht, erzählt sie. Auch deshalb sei es ihr wichtig, jetzt, da wieder Krieg ist, Position zu beziehen, den Geflüchteten zu helfen.
Auf dem Küchentisch steht eine Packung Datteln, Frank nimmt sich eine und noch eine. Dörte sagt: „Mach mal den Deckel drauf.“ Frank sagt kauend: „Wir könnten sie auch noch ein bisschen offen lassen.“ „Die hat Nina gekauft“, wendet Dörte ein. „Aber sie hat sie uns doch angeboten“, sagt Frank. Dörte zögert. „Ja, okay.“
Nehmen sie genug Rücksicht? Sind sie zu vorsichtig? Solche Fragen gehören seit bald drei Monaten zu ihrem Alltag.
Dörte und Frank sind Mitte 60 und haben schon vieles gemeinsam gewuppt, etwa eine Patchworkfamilie mit fünf Kindern. Es wirkt, als würde sie so schnell nichts aus der Ruhe bringen. Doch auch für sie ist die Situation eine Herausforderung.
Gastgeber Frank
Schon der bürokratische Aufwand. Um Nina, Maryna und Salma bei der Registrierung zu helfen, stellten sie sich kurz nach deren Ankunft um 6 Uhr früh bei der zuständigen Behörde an. Am frühen Nachmittag war Schluss, sie kamen nicht mehr dran. In der nächsten Nacht waren sie um 3 Uhr morgens vor Ort, mit Schlafsäcken und Campingstühlen. Bei Temperaturen knapp über null warteten sie bis zum Morgen. Sie banden ihre erwachsenen Kinder ein, wechselten sich ab, wollten die Ukrainerinnen nicht alleine lassen. Das Warten zwischen den Menschen, die alles verloren hatten, die die Sprache nicht verstanden und die nicht wussten, was passiert, das sei auch für sie „eine Erfahrung“ gewesen, sagt Dörte. Seitdem könne sie sich besser vorstellen, wie es Geflüchteten in Deutschland gehe. Schließlich kamen sie doch noch rein. „Wir waren am Mittag die Letzten, die in die Halle durften“, erzählt Dörte. Sie mussten eine Nummer ziehen und weiter warten. Um 17 Uhr hatten sie es geschafft.
Frank kümmerte sich um die Aufenthaltserlaubnis und auch um das Sozialamt. 300 Euro bekommt Nina, Maryna und ihre Tochter Salma erhalten 450 Euro. Dörte organisierte für Salma einen Platz an einer nahegelegenen Grundschule. Ein Konto bei einer deutschen Bank brauchen die Frauen auch. Und einen Deutschkurs. All das organisieren Dörte und Frank neben ihren Jobs. „Wir sind die Generation, die dafür die mentalen Reserven hat“, sagt Frank. Er könne sich nicht vorstellen, wie Jüngere mit kleinen Kindern das alles schaffen sollten.
13 Quadratmeter zum Rückzug
Schon nach einem Monat haben die fünf in der Wohnung gewisse Routinen entwickelt. Nina, Maryna und Salma halten sich viel im Gästezimmer auf: 13 Quadratmeter mit Regal, Schrank, Schreibtisch. In der Mitte steht ein großes Bett mit roter Überdecke. Das ist nur 1,60 breit, aber die Frauen sind nicht groß, sie schlafen quer, so reicht es für alle drei. „Eine zusätzliche Matratze oder aufs Sofa wollten sie nicht“, sagt Frank.
Frank nutzt vor allem das Gäste-WC, das große Bad teilen sich Nina, Maryna, Salma und Dörte. Die Zahl der Tuben und Fläschchen dort hat sich vervielfacht. Ein altes Glas steht auf dem Boden neben dem Klo, ohne Etikett, vielleicht waren mal Gurken darin. Es tauchte ein paar Tage nach der Ankunft der Ukrainerinnen auf. Dörte vermutet, dass die Frauen es statt der Spülung benutzen. Frank ist überzeugt, dass sie Wasser ins Glas abfüllen, um sich damit zu waschen. Aus Diskretion haben sie nicht nachgefragt.
Auch in der Küche arrangieren sie sich. Im Kühlschrank liegen Makrelen und sauer eingelegtes Gemüse neben Melone, Joghurt und Milch. Dörte lacht, das Chaos gefällt ihr. Frank nimmt sich noch eine Dattel.
Seit sie zu fünft in der Wohnung sind, wird auch der Balkon als Kühlschrank genutzt. Ein Topf Suppe steht dort, Nudeln schwimmen darin. Nina koche jeden Tag, manchmal zweimal, erzählt Frank. Kostengünstige Suppen aus Hühnerklein. „Ich kenne das noch von meinen Großeltern.“ Nina bietet ihnen das Essen an. Frank isst mit, auch wenn er manchmal eigentlich nicht möchte. „Nina ist hartnäckig“, sagt er. Dörte lehnt ab, sie ist Vegetarierin. Wenn schon morgens der Geruch nach Hühnersuppe durch die Wohnung ziehe, sei das für sie gewöhnungsbedürftig, sagt sie. Und wischt den Satz gleich wieder beiseite, sie will sich nicht beschweren, es gibt wirklich Schlimmeres.
Drei Tage später, bei einer weiteren Begegnung mit der taz, setzen sich Nina, Maryna und Salma an den Tisch in der Küche. Dörte und Frank sind nicht da, Nina schlüpft in die Rolle der Gastgeberin, bietet Tee an. Die taz-Dolmetscherin übersetzt. Als die drei Ukrainerinnen zu erzählen beginnen, wird klar, wie unterschiedlich die Geschichten der Menschen sind, die hier in dieser Wohnung zusammengefunden haben.
Maryna und die kleine Salma sind muslimisch. Auf den Fotos sollen ihre Gesichter nicht zu sehen sein, „aus religiösen Gründen“, sagt Maryna. Wenn Frank in der Wohnung ist, tragen beide Schleier. Jetzt, da er nicht da ist, lassen sie die Kopfbedeckung weg. Maryna, Mitte 30, hat ihr Haar am Hinterkopf zusammengebunden und lange silberne Ohrringe angelegt. Sie sitzt sehr aufrecht. Wenn sie spricht, wirkt sie konzentriert und klar.
Die meisten UkrainerInnen sind orthodoxe ChristInnen wie ihre Mutter Nina. Maryna kam über ihren Ex-Mann zum Islam, einen Muslim aus der russischen Stadt Kasan. Maryna konvertierte, sie bekamen Salma, dann trennte sich das Paar. Bis zum Kriegsbeginn wohnten Maryna und Salma in einem Vorort von Kiew, etwas südlich von Irpin. Salma zeigt Fotos auf dem Handy, die Zehnjährige ist ganz aufgekratzt dabei. Man sieht hohe, beige gestrichene Wohntürme in der Sonne, dazwischen saubere Straßen und gepflegte Grünanlagen. Mutter und Tochter lebten auf 45 Quadratmetern im 13. Stock, mit einem Papagei, auch von ihm zeigt Salma stolz ein Foto.
Maryna arbeitete als Kindermädchen bei Freunden. Kurz vor Putins Angriff war sie bei Ikea, um ein Bücherregal und eine kleine Kommode zu kaufen. „Alle redeten davon, dass es vielleicht Krieg gibt, aber ich konnte mir das nicht vorstellen“, sagt sie. Am 24. Februar weckte sie der Anruf ihrer Freundin: „Pack deine Sachen, der Krieg hat begonnen.“ Sie fuhren zur Moschee, dort ließen sie den Papagei zurück, im Auto ging es weiter in die Karpaten.
Heimwehfotos auf dem Handy
Nina war zu der Zeit gerade in Kiew bei Tochter und Enkelin zu Besuch. Sie wollte nicht mit den beiden nach Westen, sondern zurück zu ihrem Häuschen nördlich von Luhansk. Vielleicht schreckte sie der Krieg weniger, weil die Kämpfe ihr schon länger nahe waren. Auch sie zeigt Fotos: Sie selbst, in tief ausgeschnittenem Sommerkleid auf ihrer Terrasse, sie sieht glücklich aus. Ihre Katze Richard. Ein Grillrost mit Hühnchen darauf. Die Blumen in ihrem Garten, dort baute sie auch etwas Gemüse an. Gänse auf einer Straße.
Nina ist 63 und bekommt so wenig Rente, dass sie als Saisonarbeiterin in polnischen Gewächshäusern Gemüse pflückte und andere Jobs machte. Mit ihrem Mann lebte sie früher in Russland. „Er hat Ukrainerinnen nicht respektiert“, sagt sie. Offenbar behandelte er sie sehr schlecht. So ließ sie sich scheiden und kehrte mit Maryna in die Ukraine zurück.
Als der Krieg begann, schlossen in Kiew die Lebensmittelläden, bald wurde Nina klar, dass sie ihrer Tochter und Enkelin folgen musste. Einen Tag lang wartete sie am überfüllten Bahnhof in Kiew, um in einen Zug Richtung Westen zu steigen. „Wir saßen mit vierzehn Leuten in einem Abteil für vier.“ In Lwiw traf sie Maryna und Salma wieder. Mit dem Zug ging es zur polnischen Grenze. Eigentlich wollten die drei nach Finnland, sie hatten gehört, dort sei es gut. Aber nach Finnland zu kommen, war schwierig. „Die Leute sagten, eine andere gute Option für Muslime ist Deutschland“, erzählt Maryna. Nach einer Nacht in einem Flüchtlingscamp in Polen nahmen Freiwillige sie mit nach Leipzig, dort stiegen sie in den Zug nach Berlin.
„Wir hatten wirklich Glück“
In der Halle am Hauptbahnhof seien viele deutsche Familien gewesen, die Flüchtlinge aufnehmen wollten, erinnert sich Nina. „Eine andere Frau wollte uns auch, aber Dörte war schneller.“ Es sei schon merkwürdig gewesen, auf einmal in einem Auto mit Menschen zu sitzen, die sie gar nicht kannten, sagt Maryna. „Aber ich war zu müde, um über all das nachzudenken.“ Frank habe in der Nacht noch Pizza besorgt. „Wir sind so dankbar, dass sie uns aufgenommen haben und sich um uns kümmern.“
Sie sind auch dankbar dafür, dass Frank und Dörte ihnen anfangs Geld gegeben haben. Dass sie mit zur Registrierung gekommen sind, obwohl das so lange dauerte. Dass sie ihnen bei so vielen Dingen helfen. „Wir hatten wirklich Glück, dass wir diese Menschen getroffen haben“, sagt Maryna. Auf die Frage, ob es nicht auch schwierig sei, so lange bei jemand Fremden zu Gast zu sein, sagt Maryna: „Wir haben hier einen friedlichen, sicheren Ort. Wir hoffen nur, dass wir Dörte und Frank nicht zu viel Mühe machen.“ Um ihnen nicht zur Last zu fallen, halten sie sich viel in ihrem Raum auf. „Wir sind leise, wir rauchen nicht, wir trinken nicht“, sagt Nina. „Wir kochen viel für die ganze Familie.“ Suppen, Salate, das ist ihre Form, sich für die Hilfe zu revanchieren.
Sie mögen Berlin, die Menschen bewegten sich freier hier als in ihrer kleinen Heimatstadt, sagt Nina. „Wenn ich dort einkaufen gehe, mache ich mich vorher schick und schminke mich. Hier ist das egal.“ Neukölln sei ihnen allerdings etwas zu vermüllt. Maryna kann sich vorstellen zu bleiben. Sie sagt: „Im Islam heißt es: Wenn Gott dir etwas nimmt, dann gibt er dir auch etwas zurück, vielleicht sogar etwas Besseres.“ Dörte, Frank, Maryna, Nina und Salma kommen soweit gut miteinander klar. Es gibt jedoch auch andere Beispiele. In einem Forum, in dem sich Gastgebende über ihre Erfahrungen austauschen, schreibt eine Frau von einer Ukrainerin, die so fordernd sei, dass sie sich inzwischen völlig erschöpft fühle. Natürlich seien nicht alle Geflüchteten so – „wir haben einfach Pech gehabt“. Eine andere schreibt, die Geflüchteten, ein älteres Ehepaar mit Hund, respektierten ihre Privatsphäre nicht und kämen regelmäßig ins Schlafzimmer.
Gut möglich, dass sich die Leute in einem anonymen Internetforum vor allem Luft verschaffen wollen. Aber sicherlich gibt es vielerorts – wie in anderen Wohngemeinschaften auch – Spannungen und enttäuschte Erwartungen, auf beiden Seiten.
Michael Haas-Busch koordiniert die Ukraine-Hilfe der Caritas Berlin. Schon die Behördengänge würden manche GastgeberInnen überfordern, sagt er am Telefon. Ebenso die Krisen, die man hautnah miterlebe. „Viele haben sich das wie eine WG vorgestellt. Nun haben sie es mit traumatisierten, verängstigten Menschen zu tun, die sich sehr zurückziehen oder sogar vielleicht depressiv sind.“
Die UkrainerInnen befinden sich in einer ungleich schwierigeren Lage als die Gastgebenden, sie haben alles verloren und wissen nicht, wie es weitergeht. Die private Unterbringung ist für viele besser, als in einer Sammelunterkunft zu wohnen. Und doch hat sie auch ihre unangenehmen Seiten.
Oleksandra Bienert ist 2005 aus der Ukraine nach Berlin gekommen, sie arbeitet als Stadtteilkoordinatorin in Berlin-Marzahn, schreibt an ihrer Doktorarbeit und engagiert sich in der Geflüchtetenhilfe. Da hört sie nun, was frisch aus dem Kriegsgebiet geflohene UkrainerInnen über ihre hiesigen Unterkünfte erzählen. „Man hat keine Privatsphäre, will nichts Falsches tun, man ist Gast.“ In einer fremden Wohnung hätten viele Angst, etwas kaputt zu machen.
Vor allem aber sei die Rolle belastend, auf die die Situation sie reduziere, sagt Bienert: „In ihrem früheren Leben waren sie Ärztin oder Ingenieurin. Jetzt sind sie die Hilfsbedürftigen.“ Viele Menschen nähmen die Geflüchteten herzlich auf – aber die wollten keine „Opfer“ sein. „Wenn jemand sagt: Ich habe Geld und kann dir etwas kaufen, dann ist das auch erniedrigend.“ Deshalb sei die Sozialhilfe so wichtig. Das eigene Geld mache die Geflüchteten weniger abhängig von ihren GastgeberInnen.
Eine Ukrainerin, die mit ihren Kindern bei einer Familie auf einem ehemaligen Bauernhof in Hessen untergekommen ist, glaubt, dass es egal ist, ob man bei Verwandten oder Fremden wohne. In einer Nachricht an die taz schreibt sie: Auch innerhalb der Familie könne man sich streiten, wenn man plötzlich eng zusammenlebe. Ihrer Meinung nach hänge es vor allem von der inneren Einstellung ab, wie leicht ukrainischen Geflüchteten das Ankommen in Europa falle. „Es kommt darauf an, wie offen man ist für Veränderung. Wie bereit man ist, den materiellen Besitz aufzugeben. Ob man neue Beziehungen aufbauen kann und weiter positiv auf die Welt blickt.“
Sie hatte Glück im Unglück, sie kann mit ihren Kindern länger auf dem Hof in Hessen bleiben. Was aber passiert mit den Menschen, denen die Gastgebenden sagen, es geht nicht mehr? Michael Haas-Busch von der Caritas berichtet, dass sich seit dem vergangenen Monat vermehrt Leute an die Beratungsstellen wendeten, die Geflüchtete spontan aufgenommen hätten und nun, nach einigen Wochen, nach anderem Wohnraum für ihre Gäste fragten. „Der Druck nimmt zu, gerade wenn sich die Leute Bad und Küche teilen.“
Die Geflüchteten können dann versuchen, bei Bekannten unterzukommen. Oder sie tragen sich auf einer Plattform für die Vermittlung von privatem Wohnraum ein, etwa bei #Unterkunft Ukraine. Um die Geflüchteten vor Kriminalität zu schützen, wird dort auch die Identität der Gastgebenden überprüft. Im Schnitt bieten GastgeberInnen auf #Unterkunft Ukraine Wohnraum für eine Dauer von acht Wochen an. Eine echte Perspektive ist das nicht.
In Düsseldorf hat mittlerweile die Stadt eine Plattform für die Vermittlung von dauerhaftem Wohnraum gestartet, Mitarbeiter der Wohlfahrtsverbände begleiten die Geflüchteten dabei. Auch in Berlin ist eine Vermittlungsplattform im Aufbau. Wo die vielen benötigten Wohnungen herkommen sollen, ist angesichts des angespannten Wohnungsmarkts allerdings unklar.
Zuständig für die Unterbringung von Kriegsflüchtlingen sind die Länder. Die Berliner Sozialverwaltung schreibt auf Nachfrage, dass ukrainische Geflüchtete, die keine Bleibe haben und Berlin zugewiesen werden, zunächst in Gemeinschaftsunterkünften unterkommen.
Der Sprecher schreibt auch, dass alle, die keinen Aufenthaltsort für mindestens sechs Monate in Berlin haben, sich zuerst beim Ankunftszentrum in Tegel melden müssen. Von dort werden viele auf andere Bundesländer verteilt. Das macht es Berliner Gastgebenden noch mal schwerer: Schicken sie Geflüchtete nach einer Weile wieder weg, müssen die vielleicht gleich ganz woanders hin.
Für Dörte und Frank war von Beginn an klar, dass Nina, Maryna und Salma so lange bei ihnen bleiben können, bis sie eine eigene Wohnung haben. Doch erst mal kommt es anders.
Denn kurz vor Ostern bricht Nina plötzlich wieder auf – zurück in die Ukraine. Die Sehnsucht nach ihrem Zuhause war zu groß. Sie hat sich mit Maryna gestritten deshalb, und auch Dörte und Frank haben ihr von der Rückkehr abgeraten. Ihr Heimatort ist von den Russen besetzt, der ukrainische Gouverneur von Luhansk hat dringend zum Verlassen der östlichen Landesteile aufgerufen. Nina fährt trotzdem.
Es sei Nina in Berlin nicht gutgegangen – so erzählt es Dörte Ende April in einem Telefonat mit der taz. „Sie war überhaupt nicht richtig da, lag nur noch im Bett, wollte nicht rausgehen. Das wirkte schon depressiv.“
Es wäre schrecklich für Maryna und Salma, würde Nina in der Ukraine in Not geraten. Auch bei Dörte und Frank ist die Sorge, dass Nina etwas zustoßen könnte, groß. Sie schafft es über Dnipro bis nach Bachmut im Osten der Ukraine. In der Nähe will sie die Frontlinie durchqueren. Drüben, auf der anderen Seite, kennt sie sich aus, da würde es schon gehen, glaubt sie, die Russen ängstigen sie nicht. Doch der Fahrer, der sie bis in die Nähe der Front gebracht hat, weigert sich weiterzufahren.
In einem Keller findet Nina Unterschlupf für die Nacht. Die Menschen harren seit zwei Monaten dort aus, viele Alte, sie wirken alle völlig erschöpft, einige sind krank. In der Ferne hören sie das Bombardement. Nina wird klar, hier kann immer etwas passieren, und niemand wird sie weiter nach Osten bringen. Nun bekommt sie doch Angst. Als am nächsten Tag ein Bus auftaucht, um die Menschen aus dem Keller zu holen und in eine sicherere Gegend zu bringen, fährt sie mit. Eine Woche lang sucht sie in Dnipro nach Wegen, doch noch irgendwie nach Luhansk zu kommen. Dann macht sie sich zum zweiten Mal auf nach Berlin.
Sie habe hässliche Erfahrungen gemacht in jenen Tagen, erzählt Nina bei einem Treffen Anfang Mai. In Lwiw habe ein Polizist sie gefragt, warum sie denn Russisch spreche. Als er hörte, dass sie aus Luhansk stammt, habe er gesagt: „Alles passiert deinetwegen. Du willst, dass Putin dich rettet.“
In Dnipro wiederum habe eine Ukrainerin, mit der sie auf der Straße ins Gespräch kam, sie als Verräterin beschimpft, weil sie nach Europa gegangen war. Nina sagt: „Die Leute glauben, wenn du in Europa bist, bist du fröhlich und sicher. Aber das ist nicht wahr. Es ist nicht leicht, im Ausland zu sein. Meine Seele ist in der Ukraine.“
Ihre Haare hat Nina sich inzwischen rötlich gefärbt. In Berlin fühlt sie sich weiterhin nicht gut. „Maryna versteht nicht, warum ich so traurig bin.“ Für ihre Tochter sei es leichter, die sei jung. „Sie findet den Gedanken an eine Zukunft in einem anderen Land aufregend.“
Während Nina, Maryna und Salma draußen fotografiert werden, erzählen Dörte und Frank in der Küche von den vergangenen Wochen. Dörte hat für Maryna einen Deutschkurs bei der Volkshochschule organisiert. Zur Anmeldung konnte sie nicht mit. Maryna bekam einen Platz für einen Onlinekurs zugeteilt – dabei hat sie gar keinen Laptop und kennt auch noch gar nicht das lateinische Alphabet. Nun versuchen sie es noch einmal mit einem anderen Kurs.
Während Dörte nicht nur Organisatorisches mit den dreien bespricht, sondern manchmal auch einfach so mit ihnen quatscht – so gut das bei allen sprachlichen Schwierigkeiten eben geht –, klappt das bei Frank oft nicht. „Maryna und Salma verschwinden sofort, wenn ich nach Hause komme.“ Das sei einfacher für sie, als sich zu verschleiern. Wenn er Kontakt haben wolle, sei es immer er, der den ersten Schritt machen müsse. „Als Mann bin ich ziemlich außen vor.“
Er klingt etwas enttäuscht, aber das bestreitet Frank. Er stelle das nur nüchtern fest, die Gastfreundschaft gelte trotzdem.
Frank glaubt inzwischen, dass es für Dörte und ihn aufgrund der ungleichen Lebenssituation kaum möglich sei, eine normale Beziehung zu Nina, Maryna und Salma aufzubauen. „Alles ist überdeckt von der permanenten Abhängigkeit.“
Dörte hat Quiche vorbereitet mit Spinat und Schafskäse. Die Ukrainerinnen helfen den Tisch zu decken, dann essen sie gemeinsam.
Dörte und Frank nutzen die Anwesenheit der taz-Dolmetscherin, um auch schwierigere Themen anzusprechen. „Ich mache mir Gedanken darüber, wie Nina zurechtkommt, ob sie Deutsch lernen wird“, sagt etwa Dörte. Und es stellt sich heraus, dass Nina glaubte, sie müsse erst Latein lernen, um dann Deutsch zu lernen, wegen des „lateinischen Alphabets“. Außerdem wisse sie ja nicht, wie lange sie überhaupt bleiben werde. „Ich finde, du solltest dich darauf einstellen, dass du so schnell nicht zurückgehen kannst“, sagt Dörte. Nina antwortet: „Ich brauche noch Zeit und Ruhe.“ Sie wolle ja etwas ändern. „Deshalb wechsle ich ständig die Haarfarbe“, sagt Nina und fasst sich an den Kopf. Salma lacht. Und Nina sagt, für die großen Veränderungen sei sie eben noch nicht bereit.
Auch Frank lässt von der Dolmetscherin etwas übersetzen: Er mache sich Sorgen, dass er und Dörte vielleicht als übergriffig wahrgenommen würden, weil sie so viele Entscheidungen für die drei mit träfen. „Wir wollen euch helfen, aber wir wollen nicht über euer Leben bestimmen.“ Die Frauen betonen erneut, wie dankbar sie sind, dass die beiden sie wie Familienmitglieder behandeln. Von Dörte und Frank „dominiert“? Maryna und Nina schütteln heftig den Kopf. „Überhaupt nicht“, sagt Maryna.
Bald wird sich die Situation sowieso verändern. Eine Einzimmerwohnung auf demselben Stockwerk steht leer. Frank konnte den Vermieter überzeugen, dort Maryna, Nina und Salma einziehen zu lassen. Sie haben Wände eingebaut, so dass aus dem einen zwei kleine Zimmer wurden.
Wenn alles klappt, steht der kleine Umzug am 1. Juni an. Maryna sagt, sie freuten sich darauf, vor allem Salma. Trotzdem betont sie gleich, das möge man nicht falsch verstehen – sie fühlten sich auch jetzt im Gästezimmer sehr wohl.
Mit einer eigenen Wohnung und eigenem Geld vom Sozialamt wären die drei wieder weitgehend unabhängig von Dörte und Frank. Das könnte auch ihr Verhältnis verändern, überlegt Frank. „Vielleicht entsteht dann noch mal etwas Neues.“
Antje Lang-Lendorff, 44, ist Vizeleiterin der taz am wochenende. Sie hat die Atmosphäre in der Neuköllner Wohnung als sehr herzlich erlebt.
Doro Zinn, 34, freie Fotografin, lebt auch in Berlin-Neukölln. Sie hat ukrainische FreundInnen, die jetzt ihre Einraumwohnungen mit ganzen Familien teilen.
Kateryna Kovalenko, 27, hat für diese Reportage gedolmetscht. Sie hat in der Ukraine als Journalistin gearbeitet und lebt seit einem Jahr in Berlin.
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