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Offene Briefe zum Krieg in der UkraineReden ist Gold

Angesichts des Ukrainekriegs üben sich deutsche Intellektuelle im Verfassen offener Briefe. Schlecht ist das nicht, im Gegenteil.

Eine Leistung: Alice Schwarzer hält mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg Foto: Oliver Berg/dpa

H er mit den offenen Briefen! Offene Briefe sind toll, offene Briefe sind wichtig, offene Briefe können wir aktuell gut brauchen.

Ich meine das vollkommen ernst. Auch Sie haben dieser Tage bestimmt ein paar hämische Bemerkungen gehört oder gelesen, wonach sich irgendwelche Hanselinnen und Hanseln für keine Unterschrift unter ein hingerotztes Pamphlet zu schade seien. Fix-fix hätten sie sich beim Überfliegen der Briefe zum Angriff Russlands auf die Ukraine eine Meinung gebildet und sich namentlich druntersetzen lassen. Zur Belohnung dürften sie fortan in Talkshows über Panzer, Atombomben und Embargos mitreden. Aber mit welcher Qualifikation eigentlich?

Es qualifiziert sie eben dies: dass sie ihren Namen unter ein Papier gesetzt haben. Doch, das reicht. Mit ihrer Unterschrift haben sie sich für eine Diskussion beworben. Wenn eine Bundesregierung angesichts eines Kriegs in Europa erklärt, wir seien „in einer anderen Welt aufgewacht“ und nun müssten alle bei allem umdenken, dann ist es wirklich sinnvoll, darüber auch mit Leuten ohne Expertise-Hintergrund in Panzer-, Atombomben- oder Embargo-­Dingen zu diskutieren.

Mag sein, dass einem Schauspieler dann argumentativ schnell die Puste ausgeht. Oder dass ein Professor so mies rüberkommt, dass er niemanden überzeugt. Doch diese Öffentlichkeit, von der wir hier reden, ist ein reiz­bares und wankelmütiges Ding, vielen macht sie Angst. Es ist nicht selbstverständlich, als Gast eine Talkshow souverän zu überstehen. Die wenigsten Menschen werden geboren, um adrett frisiert und ohne sichtbaren Schweißausbruch die eigenen Argumente fehlerfrei, korrekt artikuliert und pointiert auf einer Strecke von 60 oder 90 Minuten vorzubringen. Womit die Liste der Voraussetzungen für einen erfolgreichen Auftritt noch nicht einmal komplett wäre.

Deutungsmuster aus Kenntnisgebieten

Wenn sich nun aber Leute – nennen wir sie „Intellektuelle“ – finden, deren Selbstbewusstsein und Zeit ausreichen, sich den Talkshows und Radiointerviews, Podien und Streit­gesprächen für Qualitätszeitungen zur Verfügung zu stellen, dann ist das gut. Neben den natürlich sowieso notwendigen ExpertInnen für Panzer et cetera haben sie die Funktion, Deutungsmuster aus ihren je eigenen Kenntnisgebieten beizutragen, um das noch Unverstandene verstehbarer zu machen.

Denn dies ist ja die Leistung, die wir von Intellektuellen erwarten: dass sie Ideen, Bilder und Metaphern liefern, um schwierige Gegenstände auf eine politische Gesprächsebene zu hieven. Ein Krieg mit wirklich gar nicht berechen­baren Folgen bietet sich hierfür übrigens wesentlich mehr an als, sagen wir, ein Virus, das zwar ebenfalls überwältigend wirkt – dies aber immerhin nach naturwissenschaftlichen, also berechenbaren Gesetzen.

Es ist noch nicht so lange her, da bestand ein Gutteil der Feuilletons daraus zu beklagen, dass es keine hör- und sichtbaren Intellektuellen mehr gebe. Die Zeit fragte gefühlt alle acht Wochen, wo denn bitte der nächste „J’accuse“-Rufer sei – der politisch anprangernde Schriftsteller, der es versteht, dramatische Entwicklungen so zu schildern, dass sie das große Publikum auch bewegen. Jetzt haben wir einen ganzen Schwung solcher Leute, die etwas riskieren – und zwar in einer wesentlich unnachsichtigeren Öffentlichkeit als zuvor. Ist doch super.

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Ulrike Winkelmann
Chefredakteurin
Chefredakteurin der taz seit Sommer 2020 - zusammen mit Barbara Junge in einer Doppelspitze. Von 2014 bis 2020 beim Deutschlandfunk in Köln als Politikredakteurin in der Abteilung "Hintergrund". Davor von 1999 bis 2014 in der taz als Chefin vom Dienst, Sozialredakteurin, Parlamentskorrespondentin, Inlandsressortleiterin. Zwischendurch (2010/2011) auch ein Jahr Politikchefin bei der Wochenzeitung „der Freitag“.
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4 Kommentare

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  • "Intelligere" bedeutet doch "etwas bemerken, feststellen". Aber unsere Intellektuellen haben offenbar den Schuss nicht gehört.

  • Intellektuelle? Wäre ja schön, wenn die auch die entsprechende Qualität liefern würden. Aber geschenkt, sollen Sie schreiben. Aber warum eigentlich kollektiv? Sind die Argumente so schwach? Oder braucht es wirklich so viel gegenseitige Deckung vor der "unnachsichtigen Öffentlichkeit"? Gibt es wirklich so wenig Meinung, dass man sie schützen muss? Wohl kaum. Und wieso schreibt man jetzt plötzlich Briefe an den Bundeskanzler? Wie ist das gedacht? Untertänigst oder privilegiert oder beides? Mit einem offenen und breiten politischen Diskurs hat dergleichen jedenfalls nicht besonders viel zu tun.

  • Ich habe auch den Eindruck, dass diese offenen Briefe die Debatte ein wenig aus den Fängen der Profitprofis befreit hat.

  • sehr richtig! egal wie man zu den Meinungen in den offenen Briefen steht, es ist gut das diese geschrieben werden und es ist auch gut das (zumindest einige) in der Luft zerrissen werden. Das gehört dazu. Eine Meinung oder Haltung nicht auszusprechen, weil befürchtet wird, sie könne nicht bestehen, hilft niemanden. Eher entsteht so das Gefühl eines Maulkorbs. Die meisten Meinungen verdienen es gesagt zu werden, genauso wie viele es verdienen widerlegt zu werden. Lieber öffentlich widerlegt, als im Stillen immer größer anzuschwellen...



    Was gar nicht geht, ist die Aburteilung missliebiger Briefeschreiber, mit Verurteilungen, a la wie kann man nur in solch einer Blase leben...der Schreiber lebt hinter in einer egozentrishcen Welt etc. Das stimmt ja teileise sogar, aber nur durch Öffentlichkeit werden genau diese Blasenbildungen verhindert... eine Blase platzt wenn darüber geredet wird.... und oft genug haben solche Appelle auch Recht.