Krieg in der Ukraine: Kinder als Faustpfand
Zahlreiche Minderjährige aus der Ukraine werden nach Russland verschleppt. Moskau behauptet, viele von ihnen seien Waisen.
David und Maxim wie auch siebzehn weitere Jungen und Mädchen, so Ria, seien Kinder und Pflegekinder aus Mariupol, deren Eltern die Kinder abgegeben hätten oder deren Pflegeeltern verschollen seien. Russland betrachtet sie als Waisen. Im Beitrag heißt es: Die Kinder seien zur Kur in einem Mariupoler Sanatorium gewesen, als die Angriffe auf die Stadt begonnen hätten. Alle Erwachsenen aus dem Sanatorium hätten die Stadt und die Kinder verlassen, wird behauptet.
Erst russische Truppen hätten die Mädchen und Jungen zwischen 4 und 17 Jahren „gerettet“ und in ein Waisenheim in Donezk gebracht. Auch in anderen russischen Staatsmedien finden sich die Gesichter der beiden Brüder. Es sind Beiträge über ein Waisenheim in Russland.
Nach Angaben ukrainischer und russischer Behörden bringt Russland jeden Tag Hunderte von Menschen aus der Ukraine weg. „Evakuierung“ nennt das Russland. „Kidnapping“, sagt die Ukraine. Die Ukrainer*innen werden in ganz Russland in Übergangswohnheimen untergebracht oder kommen bei Verwandten unter. Oder in Waisenheimen. Journalist*innen wird der Zugang zu solchen Wohneinrichtungen hinter Zäunen verwehrt – oder nur in organisierter Form gestattet.
Nach russischen Angaben will Russland 915.000 Ukrainer*innen aus der Ukraine geholt haben, darunter 170.000 Kinder. 1.700 davon seien elternlos, sagt Russlands Beauftragte für Kinderschutz Maria Lwowa-Belowa kürzlich. Schwer zu sagen, ob diese Zahlen glaubwürdig sind. Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) bestätigt bislang 550.000 deportierte Ukrainer*innen, darunter 121.000 Kinder.
„Sie zählen die Leute busweise“, sagt Ludmila Denisowa, die ukrainische Ombudsfrau für Flüchtlinge. „Wir haben um Listen mit allen Familiennamen gebeten. Aber so etwas gibt es noch nicht. Aufgrund der ständigen Kämpfe sind solche Listen derzeit nicht zu bekommen, weil es keinen Zugang zu den russisch besetzten Gebieten gibt. Und zu russischem Staatsgebiet auch nicht.“
Russland vereinfacht derweil das Adoptionsrecht für Kinder aus dem Donbass. Bei allen Berichten in Russland geht es lediglich um die Kinder aus dieser Region, obwohl laut ukrainischen Angaben auch Kinder aus anderen Gebieten der Ukraine entführt worden sein sollen.
Das könnte, so sagen ukrainische Expert*innen, damit zusammenhängen, dass Russland mit den von Moskau anerkannten Separatistengebieten Donezk und Luhansk an gemeinsamen Gesetzen arbeitet, unter anderem auch am veränderten Adoptionsrecht. Deshalb „durchlaufen“ alle von den russischen Truppen mitgenommenen ukrainischen Kinder zunächst sogenannte Fürsorgeeinrichtungen in den „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk, meist in Donezk. Dann gelten sie als „Waisenkinder aus dem Donbass“.
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Die Kinder sollen Russisch lernen
In russischen Foren tauschen sich Pflegeeltern über Möglichkeiten einer schnellen Adoption ukrainischer Kinder aus. Die russischen Behörden stören sich nicht einmal mehr an der ukrainischen Staatsbürgerschaft der Kleinen. Ukrainer*innen beklagen, dass es den Russ*innen auch durch solche Maßnahmen um die Zerstörung ukrainischer Identität gehe.
Das russische Staatsfernsehen sendet derweil Bilder vom fröhlichen Empfang der ukrainischen Kinder in der Region Moskau. Geschmückt ist der Bahnhof, der Gouverneur wartet mit Plüschbären in Rosa und Hellblau. Es sind verstörende Bilder, wie er mit dem Spielzeug auf die Kinder zustürmt, Mädchen umarmt, sich freut, wie die Kinder „Mama“ zu ihnen unbekannten Frauen sagen. Er lässt sich mit den Kindern fotografieren, sich zurufen, dass es ihnen gut gehe. Freiwillige stünden bereits Schlange, um Kinder aufzunehmen und zu adoptieren, heißt es in dem Beitrag.
Bei einem Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in dieser Woche erklärte die russische Kinderschutzbeauftragte Lwowa-Belowa, dass spezielle Register angelegt würden für die Waisenkinder aus dem Donbass. Pflegschaften und Adoptionen von Kindern aus der Ukraine sollen so problemloser werden. „Sagen Sie mir, wo die bürokratischen Hürden sind, und wir werden sie eliminieren“, meinte Putin. Nur: Haben die Kinder aus dem Donbass tatsächlich keine Familie mehr?
Nein.
Da ist die zwölfjährige Kira Obedinska. Auch sie saß in Mariupol fest. Ihr Vater war am 17. März bei den russischen Luftangriffen ums Leben gekommen, ihre Mutter bereits vor dem Krieg gestorben. Kira soll tagelang neben ihrem toten Vater in einem Keller ausgeharrt haben. Russische Soldaten hätten das verletzte Mädchen mit anderen Kindern in ein Krankenhaus nach Donezk gebracht, später nach Russland. Laut den russischen Behörden war sie ganz alleine.
Zu Hause in der Ukraine aber kämpften Alexander und Swetlana Obedinski um ihre Enkelin. Sie wollten sie bereits aus Donezk herausholen, was sich als unmöglich herausstellte. Die Behörden verlangten die Vorlage von Vormundschaftsdokumenten. Wie aber sollten sie an die Sterbeurkunde des Sohnes kommen? Die Großeltern gaben nicht auf. Mittlerweile ist Kira wieder bei ihren Verwandten in der Westukraine.
Auch die Brüder David und Maxim sind keine Waisen. Sie sollen eine ukrainische Pflegemutter haben, Ria ließ sie am Telefon zu Wort kommen. Ja, sagt Olga Lopatkina, die Kinder seien zur Kur ins Sanatorium nach Mariupol gefahren, dann seien die Bomben gekommen. „Wir wollten sie rausholen, aber mit dem Auto dauert es von unserem Zuhause in Wuhledar bis nach Mariupol zwei bis drei Stunden.
Ich musste mich mit meinen zwei anderen Söhnen selbst im Keller verstecken. Wir sind einfach nicht bis nach Mariupol gekommen“, erzählt sie und spricht von einem „unmenschlichen Leid“. Sie verlor die Verbindung zu David und Maxim, ließ sich mit ihren anderen Kindern evakuieren. Derzeit soll sich die Familie in Frankreich aufhalten. Dass die beiden verlorenen Söhne in Russland sind, hätten ihr die Behörden mitgeteilt. „Aber wie soll ich sie aus Russland herausholen?“, fragt sie und weint fast.
Ukrainer suchen Angehörige in Russland
Wie viele ukrainische Familien ihre Nächsten in Russland suchen, ist nicht bekannt. „Wir müssen jeden konkreten Fall genau überprüfen und versuchen herauszufinden, ob die Kinder, die zu uns kommen, tatsächlich Waisen sind. Von schnellen Adoptionen zu sprechen, ist verfrüht“, sagt die Vorsitzende der Union Russischer Frauen in Moskau, Ekaterina Lachowa. Die Organisation steht der russischen Regierung nahe, widersetzt sich jedoch der Praxis, die Kinder aus der Ukraine schnell in russischen Familien unterbringen zu wollen.
Im Mariupoler Stadtrat versucht man, Buch über alle verschwundenen Kinder zu führen. „Das ist eine äußerst schwierige Angelegenheit, weil wir nur mit den Angaben von Angehörigen arbeiten können. Manchmal fallen uns auch entsprechende Nachrichten in den sozialen Netzwerken auf oder in der russischen Presse. Wir beschäftigen uns systematisch mit diesem Monitoring“, sagt der Vize-Bürgermeister von Mariupol, Arkadi Meschkow. „Nach unseren Informationen können wir bestätigen, dass 5.487 Kinder aus Mariupol fortgebracht wurden.“
Die ukrainische Ombudsfrau Denisowa sagt: „Zurzeit haben wir nur bruchstückhafte Informationen über die Schicksale der Kinder, die nach Russland gekommen sind.“ Sie wüssten, dass sich ein Teil von ihnen im nordrussischen Autonomen Kreis der Jamal-Nenzen befindet.
Es gebe ukrainische Kinder im zentralrussischen Pensa. „Dort leben sie in einem geschlossenen Lager, sie dürfen das Gelände nicht verlassen. Es heißt, dass sie in Sprachlager kommen, wo sie vom Ukrainischen aufs Russische umlernen müssen.“ Gerade habe sie einen Anruf erhalten, dass 30 Kilometer von Tscheboksary an der Wolga 1.000 ukrainische Bürger*innen aus Mariupol seien. „Und in Wladimir ist eine Gruppe von 14-, 15-jährigen Teenagern aus Mariupol. Eine vollständige Liste der Kinder haben wir noch immer nicht bekommen.“
Unter welchen Bedingungen die Kinder aus der Ukraine in Russland leben, lässt sich kaum herausfinden. Wenn staatsnahe russische Medien berichten, heißt es, dass die Kinder ein „schönes Leben“ und genug zu essen hätten, Kindergärten und Schulen besuchten, und mit „Spielzeug ausgestattet“ seien.
Ausländische Journalist*innen haben keinen Zugang. Sobald das Büro der Kinderschutzbeauftragten Lwowa-Belowa hört, dass sich eine deutsche Zeitung meldet, wimmelt die Sekretärin ab: „Ich weiß auch nicht, warum der Zuständige nicht ans Telefon geht.“ Dabei hat der „Zuständige“ noch gar nicht erfahren, um welches Thema es geht.
Mitarbeit: Gaby Coldewey
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