Mutationen des Coronavirus: Jenseits von Omikron
Die neue Coronavariante zeigt: Die Evolution des Virus als Pandemie-Erreger ist noch nicht am Ende. Was kommt da noch auf die Welt zu?
Wissenschaftler spekulieren nicht gern, aber im Fall der neuen Coronavariante Omikron blieb ihnen bis vor wenigen Tagen wenig anderes übrig. Die zuerst in Südafrika entdeckte Mutante warf und wirft einfach zu viele Fragen auf. Ist sie ansteckender, helfen die Impfungen noch, verbreitet sie sich überhaupt stark genug, um Delta zu verdrängen? Erst seit der vergangenen Woche sehen Virologen und Epidemiologen ein wenig klarer.
Erste Daten aus Europa und Südafrika sowie mehrere Laborexperimente mit Virusproben, darunter auch eine Arbeit aus Deutschland, bestätigen die Befürchtung, dass eine doppelte Impfung vor einer Infektion mit der neuen Variante kaum noch schützt – und dass sich Omikron im Moment rasant verbreitet, mit einem für Ungeimpfte nach derzeitigem Erkenntnisstand unverändert hohen Risiko für schwere Verläufe. Nach der zuerst als B.1.1.7 bekannten Variante Alpha, dem eher auf der Südhalbkugel aktiven Coronavirus Beta und der für die derzeitige Eskalation der Inzidenzen verantwortlichen Mutante Delta scheint Omikron die Pandemie nahtlos weiter voranzutreiben.
Wie schlimm das wird, ist nach wie vor offen und hängt nicht zuletzt davon ab, wie schnell die durchaus schützende Boosterimpfung möglich ist – und wann neue Impfstoffe verfügbar sind, die an Omikron angepasst wurden. Aber längst stellt sich auch die Frage, ob das eigentlich immer so weitergehen wird: neue Welle, neue Variante, nächste Welle, nächste Variante. Folgt auf Omikron mit seinen mehr als 50 Mutationen und zahlreichen „immune escapes“, die viele neue und erneute Ansteckungen erlauben, womöglich sogar eine Mutante, die selbst den Schutz der Impfungen vor schwerer Erkrankung aushebelt?
Zu bedenken ist dabei, dass es erst mal nicht im Interesse des Virus ist, sich zu verändern – zumindest so lange nicht, wie es sich ungestört verbreiten kann. Ungestört bedeutet: Das Virus trifft auf eine Bevölkerung mit Menschen, deren Immunsystem noch keinen Kontakt mit dem Erreger hatte und findet deshalb reichlich neue Wirte. Das war zu Beginn der ersten Welle der Fall, als Sars-CoV-2 sich von Wuhan aus auf seine Reise um die Welt machte, als es Millionen Menschen erstmals infizierte und als neuer Erreger zunächst erforscht werden musste, um überhaupt zu erkennen, was gegen das neue Virus auszurichten wäre. Kontaktbeschränkungen und Hygieneregeln waren Coronas einzige Gegner, überwacht wurde das Virus durch Testungen, die aber auch nur die beachtliche Verbreitungsfähigkeit des neuen Erregers bezeugen konnten.
Angst vor Mutanten
Die Angst vor einer noch gefährlicheren Mutante gab es von Anfang an, Viren verändern sich schließlich, sie erzeugen Mutationen, und zwar umso mehr davon, je stärker sie sich vermehren können. Im September 2020 waren weltweit bereits mehr als 30 Millionen Ansteckungen bestätigt, die Zahl der unbestätigten Infektionen dürfte damals schon um ein Vielfaches höher gelegen haben. Und mit der Masse der Genesenen, deren Immunsysteme das neue Virus nun kannten, stieg auch der Druck auf den Erreger, sich besser an die neuen Gegebenheiten anzupassen – sprich: für neue Varianten zu selektieren, die sich wieder ungestörter verbreiten können.
Es gibt zwei Mechanismen, die dem Coronavirus neue Vorteile verschaffen können. Zum einen gewinnt es durch Mutationen hinzu, die eine Infektion direkt erleichtern. Ein Kontakt von Infizierten mit Gesunden bringt dann mehr neue Ansteckungen hervor. Eine solche bessere Übertragbarkeit ist fast immer von Vorteil, auch in einer Bevölkerung, die noch keinen Kontakt mit dem Virus hatte. Die ersten Varianten, die sichtbar werden, fallen deshalb in der Regel in diese Kategorie. Zum anderen können Mutationen aber dazu führen, dass das Virus auch von einem erfahrenen Immunsystem nicht mehr gut erkannt wird, sodass sogar Genesene sich wieder anstecken – oder auch Geimpfte. Das sind die gefürchteten immune escapes.
Da Sars-CoV-2 für seinen Kontakt zu den Zellen der Schleimhäute wie alle Coronaviren sein Stachelprotein nutzt, ein auch unter Mikroskopen sichtbares Eiweiß auf der Virusoberfläche, findet die Mehrheit der Anpassungen an dieser wichtigen Struktur statt. Forscher analysieren seit Beginn der Pandemie, welche Positionen im genetischen Code des Stachels entscheidend sein könnten für Anpassungen, die sowohl die Übertragbarkeit, vor allem aber die Zahl der immune escapes erhöhen. Sie sind entscheidend dafür, dass die Impfungen vor Ansteckungen schützen.
Und es ist längst klar, dass es Mutanten geben könnte, die einen solchen Schutz vor Infektion unterlaufen. So berichtete ein Forscherteam der Rockefeller University bereits im Sommer von einer Zusammenstellung 20 ausgewählter Mutationen, die, gezielt eingebaut im Stachel eines Pseudovirus, die komplette erste Abwehrlinie, die sogenannten neutralisierenden Antikörper, von Geimpften und Genesenen gegen das Virus unterwandern.
Omikrons neue evolutionäre Landschaft
Eine Handvoll dieser Mutationen hat auch Omikron, deshalb ist zu erwarten, dass sich die neue Variante erst einmal recht ungehemmt ausbreitet. Es ist der Effekt einer neuen evolutionären Landschaft, in der sich das Virus bewegt – und durch die es sich dank seiner Anpassungen den Weg bahnt. In diesem Fall durch Geimpfte und Genesene hindurch. Genetisch ist das Potenzial von Sars-CoV-2 aber noch nicht ausgeschöpft. Selbst Omikron fehlen noch bekannte heikle Mutationen, weitere könnten noch entdeckt werden und für Überraschungen sorgen.
Zwei Dinge allerdings spielen in die Hände der potenziellen Opfer. Zum einen, dass zurückliegende Impfungen zwar vor neuen Varianten nicht mehr so gut schützen. Aber jede Begegnung mit Virusvarianten oder einem Impfstoff führt zu einer vielfältigeren Immunantwort, die irgendwann eben nicht mehr so einfach zu unterlaufen ist. „Das Virus kann sich dann immer noch verändern“, sagt der Virologe Florian Klein vom Universitätsklinikum in Köln. „Allerdings zahlt es dafür möglicherweise einen Preis. Zum Beispiel, dass es zwar einem Antikörper entkommt, aber dafür schlechter an Zielzellen bindet.“
Ob und wann es so weit sein könnte, dass sich das Virus mit seinen Varianten ausoptimiert hat und nur noch unter Verlusten neue Mutanten hervorbringt, die sich zwar verbreiten können, aber kaum noch schaden, hält Klein für rein spekulativ. Es hänge viel von den Impfungen ab, die möglichst viele Menschen erreichen müssten – nicht nur in Deutschland, sondern weltweit.
„Ich halte es für total entscheidend, dass wir diese Pandemie als das bekämpfen, was sie ist: ein globales Problem“, sagt Klein. Auch Omikron, das sich in einer wenig geimpften Bevölkerung etablieren konnte und von dort nun andere Länder erreicht, unterstreicht die Notwendigkeit, Impfungen nicht nur zu Hause, sondern weltweit zu ermöglichen.
Wird das Virus gefährlicher?
Bleibt schließlich noch die Frage, ob das Virus statt ansteckender zu werden nicht auch noch gefährlicher für Erkrankte werden könnte. Klein hält das nicht für ausgeschlossen, sagt aber einschränkend: „Ein schwerer Verlauf bietet für Sars-CoV-2 keinen Selektionsvorteil“. Der Erreger habe aktuell schon den Vorteil, sich stark verbreiten zu können, noch bevor die ersten Krankheitssymptome auftreten. „Das ist für ein Virus ideal“, sagt der Virologe.
Wenn eine hohe Übertragbarkeit erst mit Symptomen einhergehe, wie zum Beispiel bei Ebola, würde es schwer für das Coronavirus, sich weiter zu verbreiten. „Schwerkranke sind bettlägerig oder kommen ins Krankenhaus, anstatt sich mit vielen Kontakten in der Öffentlichkeit zu bewegen“, sagt Klein.
Die Fähigkeit, schon in der asymptomatischen Phase auf weitere Wirte zu springen, schmälert allerdings auch die Selektion gegen schwere Verläufe in Ungeimpften: Das Virus muss nicht weniger krank machen, um sich weiter verbreiten zu können. Für die freiwillig und unfreiwillig Ungeimpften bleibt es deshalb, was es immer war: eine tödliche Gefahr.
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