Kein Verdacht

Seit Monaten veröffentlicht das rechtsradikale „Compact-Magazin“ zum Fall Lina E. Ermittlungsinterna – mit Klarnamen und unverpixelten Fotos von Beschuldigten. Der Journalistenverband rügt eine Vorverurteilung, die Staatsanwaltschaft ermittelt. Im Fokus: ein Ermittler der Soko Linx

„Compact“ schlachtet den Fall Lina E. seit Monaten für seine Zwecke aus, hier eine Werbung für das Magazin bei einer Demonstration in Berlin Foto: Mark Mühlhaus/attenzione

Von Konrad Litschko
und Andreas Speit

Es ist der Tag vor dem Prozessbeginn gegen Lina E. Anfang September, als auf der Internetseite des stramm rechten Compact-Magazins ein Artikel erscheint. Berichtet wird „über die gefährlichste Linke Deutschlands“, die bei vollem Namen genannt wird: Lina E. Und das Magazin geht noch weiter. Unverpixelt zeigt es Bilder der 26-Jährigen, auch Observationsfotos und Phantombilder der Polizei, sowie ein Privatbild der Leipzigerin mit ihrem Verlobten, der ebenfalls mit vollem Namen benannt wird.

Unschuldsvermutung? Schutz von Persönlichkeitsrechten? Hier nicht. Dabei sind das Grundsätze der journalistischen Verdachtsberichterstattung. Für Compact zählt dagegen offenbar etwas anderes: das Ausschlachten des Falls Lina E. für seine politischen Zwecke – und das schon seit Monaten.

Schon seit März, noch vor der Anklageerhebung, berichtet Compact über die „brutale Antifa-Hammerbande“ und ihre „mysteriöse Kommandoführerin“. Dass die Bundesanwaltschaft Lina E. vorwirft, eine linkskriminelle Gruppe gegründet zu haben, um mehrere schwere Angriffe auf Rechtsextreme zu verüben, passt dem Magazin ins Konzept. Herausgegeben wird es von dem nach rechts abgedrifteten Jürgen Elsässer, es bespielt auch einen Online-TV-Kanal mit 150.000 Abonnenten.

In mehreren Artikeln und einem ganzen Sonderheft zur „Antifa“ veröffentlicht Compact seitdem Interna aus dem Verfahren. Benannt werden immer wieder teils volle Namen von Beschuldigten, interne Polizeifotos werden gezeigt, Vorstrafen ausgebreitet, über angebliche „Drogendeals“ geraunt. Zu Lina E. – „roter Nagellack, Minirock“ – fällt der Vergleich mit den „RAF-Terroristinnen wie Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin“. Dass hier eine linke Frau angeklagt ist, scheint das rechte Milieu besonders zu triggern.

Einer der Autoren: Mario Alexander Müller, einst Aktivist der rechtsextremen Identitären, verurteilt wegen Körperverletzung. Und Compact prahlt, man habe „tausende Seiten Fallakten gesichtet“. Als Quelle für die Fotos aus den Ermittlungsakten wird angegeben: „Polizei“.

Das ist heikel. Denn der Verfassungsschutz stuft Compact als rechtsextremen Verdachtsfall ein. Das Magazin veröffentliche „Fundamentalangriffe auf demokratische Institutionen und Verfassungsorgane“, pflege Kontakte zu Rechtsextremisten und rufe mit „Revolutionsrhetorik“ selbst zum Sturz der Bundesregierung auf, heißt es dort.

Seit einer Woche nun ist klar: Es wird wegen der Durchstechereien ermittelt. Die Staatsanwaltschaft Chemnitz bestätigte der taz, dass im Fall Lina E. ein Verfahren wegen des Verrats von Dienstgeheimnissen gegen unbekannt eingeleitet wurde. In den Blick genommen werden dafür auch die Ermittler, welche die Vorwürfe gegen Lina E. zusammentrugen: die Soko Linx des LKA Sachsen.

Gegründet wurde diese im November 2019, nachdem sich in Leipzig Angriffe auf Baustellen, Polizeireviere und Autos häuften, die der autonomen Szene zugerechnet wurden. Größere Ermittlungserfolge aber blieben aus – bis zur Festnahme von Lina E.

Auch konservative Medien wie Focus oder Welt veröffentlichten früh Ermittlungsinterna. Die Verteidiger von Lina E. stellten deshalb bereits im Dezember 2020 Anzeige bei der Bundesanwaltschaft wegen der strafbaren Weitergabe von Akten durch Ermittlungsbehörden. Auch zu Prozessbeginn vor dem Oberlandesgericht Dresden kritisierten sie die Durchstechereien scharf: Diese sorgten für eine „beispiellose Vorverurteilung“. Offenbar solle das Verfahren „für rechte politische Interessen genutzt“ werden.

Im Prozess äußerte der Richter den Verdacht, dass die Informationen von Anwälten der angegriffenen Neonazis weitergetragen worden sein könnten, die dort als Nebenkläger sitzen. Tatsächlich sind diese einschlägig vertreten: durch Frank Hannig etwa, der zuletzt den Lübcke-Mörder Stephan Ernst verteidigte, oder Martin Kohlmann, Chef des rechtsextremen „Pro Chemnitz“.

Die VerteidigerInnen – und nun auch die Staatsanwaltschaft Chemnitz – haben dagegen den Verdacht, dass die Soko Linx auch ganz direkt Informationen an Compact weitergibt. Besonders im Fokus: Soko-Ermittler Patrick H. Vor einer Woche war der Enddreißiger im Prozess gegen Lina E. geladen, sollte zu den Ermittlungen zum Fall des angegriffenen Ex-NPD-Mann Enrico Böhm aussagen. Überraschend erschien Patrick H. aber mit einem Anwalt – und berief sich auf einige Fragen plötzlich auf sein Zeugnisverweigerungsrecht, da möglicherweise Ermittlungen gegen ihn liefen.

Die Staatsanwaltschaft Chemnitz bestätigte der taz, dass seit wenigen Tagen tatsächlich gegen Patrick H. wegen Verrats von Dienstgeheimnissen ermittelt werde. Ursache ist ein Ermittlungsfall der Soko gegen den Leipziger Henry A. Dem 33-Jährigen wird vorgeworfen, im September 2019 an einem Angriff von linken Chemie-Leipzig-Fans auf rechte Anhänger des FC Lokomotive Leipzig beteiligt gewesen zu sein – was Henry A. vehement bestreitet und bis heute unbewiesen ist.

Ende April erfolgten Durchsuchungen im Leipziger Stadtteil Connewitz gegen fünf Beschuldigte. Nur einen Tag später berichtete erneut Compact dazu „exklusiv“ Ermittlungsinterna. Als erstes nannte es Henry A. als Beschuldigten, seine Arbeitsstelle bei der Stadtverwaltung und die Dauer der Razzia. Wenige Wochen später legte das Magazin nach, veröffentlichte nun auch ein Observationsfoto von Henry A. und interne Polizeiberichte über ihn. Der reagierte mit einer Strafanzeige, ebenso wie Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) als oberster Dienstherr und das LKA Sachsen selbst. Compact löschte daraufhin beide Artikel über Henry A. aus dem Internet.

Als Quelle für die Fotos aus den Akten wird angegeben: „Polizei“

Laut Staatsanwaltschaft steht Patrick H. nun im Verdacht, im Fall Henry A. Dateien aus einem beschlagnahmten Handy verschickt zu haben. Den Leipziger kennt Patrick H. gut: Schon vor Jahren war er nach taz-Informationen maßgeblich an den Ermittlungen gegen Henry A. und mehrere BSG-Chemie-Fans beteiligt, die verdächtigt wurden, Angriffe auf Rechtsextreme verübt zu haben. Der Fall geriet zum Skandal: Rund 200 Personen wurden damals abgehört, auch Gespräche mit Jour­na­lis­t:in­nen oder An­wäl­t:in­nen – das Verfahren 2017 ergebnislos eingestellt. Henry A. selbst beklagt eine „jahrelange Kampagne“ gegen sich. „Dass das LKA dafür nun offenbar mit dem rechten Compact paktiert, ist unfassbar“, sagte er der taz.

Ist es Ermittler Patrick H., der auch im Fall Lina E. Informationen an Compact weitergab? Die Staatsanwaltschaft verweist darauf, dass gegen unbekannt ermittelt werde. Compact wie das LKA Sachsen schweigen dazu auf taz-Nachfragen. Man unterstütze die Aufklärung, sagt ein LKA-Sprecher lediglich. Was an den Vorwürfen dran sei, werde sich am Ende zeigen.

Der Deutsche Journalistenverband rügt Compact dagegen schon heute scharf. Medien hätten sich daran zu halten, dass Angeklagte bis zu einem Urteil als unschuldig gelten, betont Sprecher Hendrik Zörner. „Die Veröffentlichung ungepixelter Fotos und die Verdachtsberichterstattung von Compact sind aber nichts anderes als eine Vorverurteilung.“ Auch müssten die Ermittlungsbehörden beantworten, wie Compact an die Fotos der Beschuldigten gelangte.

Ulrich von Klinggräff, Verteidiger von Lina E., kündigt presserechtliche Schritte gegen Compact an. Schon im Mai hatte Compact eine Unterlassungserklärung kassiert. Zuvor hatte es über angebliche Kontakte der Linken-Landtagsabgeordneten Juliane Nagel zu einem Beschuldigten im Lina-E.-Verfahren berichtet. Nagel bestritt das unter Eid – und bekam vom Leipziger Landgericht recht. Wird die Aussage nun wiederholt, droht Compact ein Strafgeld von 250.000 Euro oder sechs Monate Haft für Herausgeber Elsässer.

Auch damals behauptete Elsässer, man habe die Information von einem LKA-Ermittler namens Christian M. bestätigen lassen. Das Gericht hielt das für nicht überzeugend. Für Lina-E.-Verteidiger von Klinggräff wäre es „ein echter Skandal“, wenn sich bestätigt, dass Ermittler Aktendetails an rechtsradikale Medien weitergaben. „Das stärkt den Verdacht, dass hier politisch orientiert ermittelt wurde. Hinter die vorgelegten Beweise setzt das ein noch mal viel größeres Fragezeichen.“