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Bür­ge­r:in­nen gestalten KlimapolitikUnterschätzt uns nicht

Der „Bürgerrat Klima“ macht Vorschläge zur Erreichung des Pariser Abkommens. Das Resultat sendet ein klares Signal an die Politik.

Der Bürgerrat empfiehlt den Ausbau von Wind- und Sonnenergie Foto: Patrick Pleul/dpa

Berlin taz | Eine entschlossene Klimapolitik ist in der deutschen Bevölkerung offenbar weitaus populärer als angenommen: Mit weitreichenden Forderungen wie einem schnellen Ausbau der Erneuerbaren, dem Verbot von Öl- und Gasheizungen und Verbrennungsmotoren, weniger Nutztieren, einem Tempolimit auf Autobahnen und dem Vorrang für das 1,5-Grad-Ziel bei allen staatlichen Maßnahmen hat der „Bürgerrat Klima“ am Donnerstag seine Vorschläge vorgelegt. Von 76 Empfehlungen, die bei der Abstimmung im Schnitt 90 Prozent Zustimmung fanden, wurde nur eine abgelehnt: die Einführung einer Citymaut für Autos.

„Das Ergebnis sendet ein klares Signal an die Politik: Unterschätzt die Bürger nicht!“, sagte Altbundespräsident Horst Köhler. Er hat den Prozess begleitet, der von einem Verein organisiert und von Stiftungen finanziert wurde.

Der Rat besteht aus 160 Menschen aus dem ganzen Land, die zufällig ausgesucht wurden und sich in 12 virtuellen Treffen insgesamt 50 Stunden lang mit nötigen und möglichen Klimaschutzmaßnahmen befassten. Mit wissenschaftlicher Begleitung und professioneller Moderation diskutierten die Interessierten aus allen Schichten, Berufen und Landesteilen über Energie, Verkehr, Ernährung, Wohnen. Wegen der Komplexität wurden die Bereiche Industrie und Gesetzgebung ausgespart.

Fast einmütig wollten die BürgerInnen mutige Schritte beim Klimaschutz: „Das 1,5-Grad-Ziel hat oberste Priorität“, heißt es gleich zu Beginn, jedes neue Gesetz müsse daraufhin geprüft werden; ein CO2-Preis solle als „verbindliches Instrument“ für alle Bereiche gelten und sozial ausgestaltet sein. Bis 2035 sollten 100 Prozent Ökostrom erreicht werden, 2 Prozent der Landesfläche für Windparks reserviert werden und Kommunen zum Klimaschutz wie etwa durch Solardächer verpflichtet sein. Der Ausstieg aus Kohle und neuen Verbrenner-Autos solle bis 2030 vorgezogen werden, eine knappe Mehrheit von 58 Prozent gab es auch für ein Tempolimit von 130 km/h auf der Autobahn, 80 km/h auf Landstraßen und 30 km/h in Städten. Wichtig auch: deutlich mehr Geld für öffentlichen Verkehr und Fahrrad-Infrastruktur und Flugtickets, die „die wahren Klimakosten abbilden sollen“.

TeilnehmerInnen des Rats betonten, wie wichtig gute Information für ihre Entscheidungen gewesen sei. Man habe sich „vorher nie mit diesem Thema beschäftigt“, hieß es, in den Gesprächsrunden habe man aber viel gelernt und Kompromisse gesucht. „Ich fühle mich jetzt verantwortlich“, sagte ein Teilnehmer, andere meinten, „dass wir Bürger gar nicht so empflindlich sind, wie die Politiker denken“. Für Horst Köhler war das Experiment Bürgerrat, der seine Ergebnisse Regierung und Bundestag präsentieren wird, ein „Zeichen gegen die Resignation“ und ein „Beleg, dass unsere liberale Demokratie beste Voraussetzungen hat, diese Herkulesaufgabe zu bewältigen.“ Köhlers Fazit: „Die Bürger sind keine Schlafmützen, sie wollen sich kümmern.“

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11 Kommentare

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  • Auch hier werden wieder technische Probleme zu politisch-gesellschaftlichen umgedeutet, damit das Wünschen wieder hilft. Der Umstieg von Kohle auf Solarenergie & Windkraft scheitert aber nicht am politischen Willen sondern an ungelösten technischen Problemen. Da ist dringend mehr Ehrlichkeit gefordert was die Machbarkeit und Alternativen angeht, aber nicht immer noch mehr Gremien ohne Fachkenntnis die sich mit täglich neuen Fantasiezielen gegenseitig überbieten.

  • Wenn man 160 Bürger mit der Aufgabe beschäftigt, Maßnahmen zum sog. Klimaschutz zu erarbeiten, ist es wenig überraschend, dass die dann auch Klimaschutz-Maßnahmen vorschlagen, die in der politischen Debatte über das Thema schon lange lautstark gefordert werden. Dass eine "entschlossene Klimapolitik" in der Bevölkerung, die immer mehr und immer größere Autos kauft, populär ist, ergibt sich daraus nicht. Die gewünschte Richtung war den 160 Bürgern ja vorgegeben, und im Gegensatz zu Politikern mussten sie nicht befürchten, wegen ihrer Beschlüsse abgewählt zu werden. Wenn man die Leute stattdessen z. B. mit der Aufgabe befasst hätte, Maßnahmen zur Schaffung von Arbeitsplätzen in der Autoindustrie und im Kohlebergbau zu erarbeiten, hätten sie wahrscheinlich ganz andere Vorschläge beschlossen. Was man vorn hineingibt, kommt hinten wieder raus.

    • @Budzylein:

      Ein wesentlicher Punkt ist die Frage wie die Diskussion gestartet wurde und welchen Bias die informierenden Experten in die Runde getragen haben.

      Dadurch wird das Ergebnis stark vorgeprägt.

    • @Budzylein:

      Als jemand, der im Studium haufenweise Befragungen durchgeführt hat - mündlich, telefonisch und postalisch - und froh war, wenn nur die Hälfte der zufällig ausgesuchten Personen der Stichprobe an der Befragung mitgemacht hat, sehe ich hier auf den ersten Blick, dass etwas nicht stimmen kann.

      160 Leute werden zufällig ausgesucht und alle 160 Leute machen mit? Ja, ne ist klar.....



      Die Realität wird natürlich so aussehen, dass nur die mitgemacht haben, die sich für Klimaschutz interessieren - die anderen haben die Teilnahme abgesagt. Wie viele das sind, erfahren wir leider nicht.

  • Schade - hatte doch bis kurz vorm Ende des Artikels Horst Köhler erfolgreich aus meinen aktiven Errinerungen verdrängt -nun issa wider da.

  • Freie Fahrt für Elektroautos macht mehr Sinn als ein Speedlimit für alle. Wenn nur noch Elektroautos schnell fahren dürfen, beschleunigt das den Umstieg auf diese ganz enorm und davon hat das Klima dann bei jeder Geschwindigkeit mehr als von einem Verbrenner.

    • @Galgenstein:

      In welchem Rahmen macht das denn Sinn? Wer kriegt sie/kann es sich leisten? Kriegen auch Hartzer*innen oder die Bewohner*innen aus den Favelas ein Elektro-Auto, die sie dann bei hoher Geschwindigkeit ausfahren können? Wäre Produktion und Nutzung im globalen Rahmen realisierbar und ökologisch tragfähig?

    • @Galgenstein:

      Es soll überhaupt niemand schnell fahren dürfen. Es wird ein Limit geben und feddich - wenn dann doch wieder einige rasen dürfen haben wir die gleiche Stress- und Unfallsituation wie vorher und die E-Autos sparen auch keine Primärenergie, sondern hauen die zum Vergnügen raus.

      Weiterhin werden dann ganz viele unsinnige Fahrzeuge rauskommen, die mit Leistungs- und Geschwindigkeitsdaten beworben werden, die kein Mensch braucht - ausser für's Vergnügen.

      • @Mitch Miller:

        Sie wollen verbieten und werden auf so viel Widerstand stoßen, dass am Ende nichts dabei herauskommt, ausser einem Mehr an Unzufriedenheit bei allen. Ich will Anreize setzten, die dafür Sorgen, dass die Menschen mit Lust nach dem Vernünftigen streben. Für einen autoritätsaffinen Menschen, bleibt der Spass natürlich auf der Strecken, wenn die Menschen das freiwillig tun, was getan werden muss, damit es besser wird.

  • 0G
    05867 (Profil gelöscht)

    Wow, was für eine Klatsche für die sog "Volksparteien", die (nicht nur beim Klimaschutz) bewußt an den Bedürfnissen des Volkes vorbeiregieren.

    • @05867 (Profil gelöscht):

      Ich weiß nicht, ob man in jedem Fall die Bedürfnisse und Wünsche der Mehrheit Volkes beachten sollte.

      Danach würde nämlich kein einziger Flüchtling mehr ins Land gelassen werden, wie aktuelle Umfragen zeigen.