Nato-Gipfel in Brüssel: Bündnis sucht neue Gegner
US-Präsident Joe Biden drängt in Brüssel auf eine strategische Neuausrichtung der Nato. Für die EU-Staaten birgt das ein Dilemma.
Nicht nur gegen Russland, sondern auch gegen China, im Weltraum und im Cyberspace sollen künftig die Werte des Westens verteidigt werden, wie Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärte. Die nordatlantische Allianz werde im Indopazifik Flagge zeigen und sich in den „geopolitischen Wettbewerb“ einschalten. Sogar eine neue Strategie soll die „Global Nato“ erhalten, kündigte Stoltenberg an.
Auch Biden rüstete rhetorisch auf. „Ich will, dass ganz Europa weiß, dass die Vereinigten Staaten da sind“, rief der US-Präsident aus. Es sei die „heilige Pflicht“ der Amerikaner, ihren Alliierten beizustehen. Biden setzte sich damit unmissverständlich von seinem Amtsvorgänger Trump ab, der die Beistandsverpflichtung aus Artikel 5 des Nato-Vertrags infrage gestellt hatte.
Gleichzeitig leitete Biden jedoch eine gewagte Neuinterpretation des Nordatlantikpakts ein. Das Bündnis soll künftig nicht mehr nur dazu da sein, Europa zu verteidigen und Russland abzuschrecken. Die Alliierten sollen sich vielmehr auch Asien und dem Pazifik zuwenden, um China im Zaum zu halten. „Wir haben Russland, das nicht so handelt wie erhofft, sowie China“, sagte Biden.
Schon beim G7-Gipfel im britischen Cornwall hatte der US-Präsident für eine härtere Gangart gegen das Reich der Mitte geworben. Die USA sehen China nicht nur als geopolitischen Rivalen, sondern zunehmend auch als militärische Bedrohung, die die amerikanische Dominanz in den Weltmeeren infrage stellt. Biden setzt deshalb auf eine Strategie der Eindämmung, die Nato soll dabei helfen.
Das passt jedoch schlecht zur Strategie der Europäer. Sie betrachten China zwar ebenfalls als strategischen Rivalen, aber auch als Partner – etwa beim Kampf gegen die Klimakrise. „Wir wollen keinen neuen Kalten Krieg“, betonte der britische Premier Boris Johnson in Brüssel. Ähnlich äußerten sich Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron.
Fast zwei Stunden lang diskutierten die Staats- und Regierungschefs über den neuen Gegner in Fernost. Doch Einwände gegen Bidens brisante Neuausrichtung der Nato hatte offenbar niemand mehr. Schon vor Ende der Debatte wurde ein Entwurf bekannt, in dem China als „systemische Herausforderung“ für „relevante Bereiche der Sicherheit der Allianz“ bezeichnet wird.
In dem Gipfeldokument wird kritisiert, dass China sein nukleares Waffenarsenal schnell erweitere, seine Truppen auf undurchsichtige Weise modernisiere und mit Russland militärisch zusammenarbeite. Auch Moskau werde in „harter Sprache“ zur Ordnung gerufen, sagte ein Nato-Diplomat. Darauf hatten die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen gedrungen.
Biden sicherte ihnen Unterstützung zu. Am Rande des Nato-Gipfels traf er Estlands Regierungschefin Kaja Kallas, Lettlands Staatspräsidenten Egils Levits und Litauens Präsidenten Gitanas Nausėda. Später war auch noch ein Gespräch mit dem türkischen Präsidenten Recep Erdoğan geplant. Die USA werfen der Türkei vor, zu eng mit Russland zusammenzuarbeiten und Alliierte wie Griechenland und Zypern zu drangsalieren.
Die Ukraine drängt auf Klarheit
Auch Merkel und Macron trafen sich gesondert mit Erdoğan. Macron sei es um eine „strategische Klarstellung zwischen Verbündeten über die Werte, Prinzipien und die Regeln innerhalb der Nato“ gegangen, erklärte der Elyséepalast. Die Türkei hatte Frankreich im vergangenen Jahr offen gedroht.
Erdoğan warf den Verbündeten mangelnde Unterstützung vor. „Leider haben wir in unserem Kampf gegen jede Form von Terrorismus nicht die Unterstützung und Solidarität von unseren Verbündeten und Partnern erhalten, die wir erwartet haben“, sagte Erdoğan in einer Videobotschaft auf dem Nato-Gipfel. Sie war vor allem an Biden gerichtet: Die Türkei kritisiert immer wieder, dass die USA in Syrien die Kurdenmiliz YPG unterstützen.
Streit gibt es auch über den Kurs gegenüber der Ukraine. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski fordert von der Nato Klarheit über eine Mitgliedschaft seines Landes in der Allianz. Dazu wolle er von Biden ein deutliches Ja oder Nein hören, sagte Selenski. Gegen einen Nato-Beitritt des Landes haben sich Deutschland und Frankreich ausgesprochen.
Allerdings zeigte sich Merkel zuletzt offen für mehr Hilfe an die Ukraine. Im Streit über die deutsch-russische Gaspipeline Nord Stream 2 stellte die Kanzlerin finanzielle Kompensationen in Aussicht. Über Details will sie am 15. Juli bei einem USA-Besuch mit Biden sprechen. Die Nato hat sich aus dem Streit bisher weitgehend herausgehalten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Trump erneut gewählt
Why though?
Harris-Niederlage bei den US-Wahlen
Die Lady muss warten
Pro und Contra zum Ampel-Streit
Sollen wir jetzt auch wählen?
Pistorius stellt neuen Wehrdienst vor
Der Bellizismus kommt auf leisen Sohlen
Abtreibungsrecht in den USA
7 von 10 stimmen „Pro-Choice“
Protest in Unterwäsche im Iran
Die laute Haut