Grundrechtereport 2021: Kontrolle mit Maschinenpistole
Der Grundrechtereport 2021 rügt die Polizei für ihre Strategie gegen angebliche Clan-Kriminalität. Auch Rechte von Geflüchteten wurden oft missachtet.
„Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich“, kritisiert Mohammed Ali Chahrour von der Neuköllner Initiative „Kein Generalverdacht“. Mit einer offen angekündigten „Politik der 1.000 Nadelstiche“ gehe die Berliner Polizei gegen Shishabars und andere Einrichtungen vor, die sie den Clans zurechne. Auch in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen verfolge die Polizei ähnliche Strategien.
„Die Polizei stört dabei den Alltag mit ihren ständigen anlasslosen Kontrollen“, so Chahrour. Es wirke auch mehr als stigmatisierend, wenn die Polizei einfache Gewerbekontrollen zum Beispiel in Shishabars mit Dutzenden oder Hunderten teils schwer bewaffneten Polizist:innen absichere. Der Ertrag dieser Einsätze stehe oft in keinem Verhältnis zum martialischen Auftreten. „Meist entdeckt die Polizei dabei nur Ordnungswidrigkeiten“, argumentiert Chahrour.
Bei dem Begriff „Clan“ denke niemand mehr an schottische Großfamilien, so der Aktivist. Der Begriff werde heute fast schon gleichbedeutend mit „organisierter Kriminalität“ verwendet. „Clan“ habe den Begriff „Rasse“ als Kategorie der öffentlichen Stigmatisierung abgelöst.
Asylunterkunft abgeriegelt
Die Stigmatisierung arabischer Clans sei für die Betroffenen aber nicht nur lästig und diskriminierend. Es könne auch lebensbedrohlich sein, so Chahrour. Tobias R., der Attentäter von Hanau, habe „nicht nur aus einer Laune heraus“ in einer Shishabar gemordet. Die Berliner Integrationsforscherin Naika Foroutan stimmte zu: Es gebe wohl einen Zusammenhang zwischen den ständigen Razzien in Shishabars und den Morden von Hanau.
Ein zweiter großer Schwerpunkt der GRR-Präsentation war die Auswirkung der Coronapandemie auf die Grundrechte, insbesondere von Migrant:innen. Foroutan wies darauf hin, dass die hohe Zahl von Migrant:innen in den Covid-19-Intensivstationen auch mit deren Arbeitsbedingungen zu tun haben könne. Sie seien gerade in Bereichen mit viel Menschenkontakt stark überrepräsentiert, etwa in der Altenpflege, bei der Paketzustellung und in der Medizin.
Der aus dem Iran geflohene Kurde Kawe Fateh schilderte den fragwürdigen Umgang mit Covid-19-Infektionen in einer Flüchtlingsunterkunft in Halberstadt (Sachsen-Anhalt). Nachdem im Mai 2020 einzelne Fälle aufgetreten waren, habe die Polizei frühmorgens die drei Blocks umstellt, in denen rund 800 Menschen lebten. Niemand durfte mehr seinen Block verlassen, nur das Personal konnte sich weiter frei bewegen und auch zwischen Wohnung und Arbeit pendeln.
In den Unterkünften standen die Bewohner:innen allerdings weiterhin in der Schlange bei der Essensausgabe, berichtet Fateh. Die Zimmer blieben mit bis zu vier Personen belegt, Masken gab es erst nach zwei Wochen, Tests ebenso. Die Quarantäne wurde mehrfach verlängert und dauerte letztlich fünf Wochen. Unter den Bewohner:innen habe sich ein Gefühl der Schutzlosigkeit ausgebreitet. Es kam zu einer Vielzahl weiterer Infektionen unter den Bewohner:innen. Das Land scheint das bewusst hingenommen zu haben.
Der Grundrechtereport (GRR) ist ein Taschenbuch, das im Buchhandel erhältlich ist und seit 1997 als eine Art „alternativer Verfassungsschutzbericht“ veröffentlicht wird – in diesem Jahr zum 25sten Mal.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Kritik an Antisemitismus-Resolution
So kann man Antisemitismus nicht bekämpfen
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung