Neonazis und organisierte Kriminalität: Drogen, Nazis, ein Bordell
Sie nennen sich Turonen. Jahrelang blieben sie ungestört. Jetzt sitzen acht in Haft. Die Vorwürfe gegen die Truppe: Drogenhandel und Geldwäsche.
E inen Monat noch, dann wird Kerstin Schmitz Thomas W. wieder gegenüber sitzen. Zusammen mit 14 Mitbeschuldigten wird der tätowierte und kräftige Mittvierziger auf der Anklagebank des Erfurter Landgerichts Platz nehmen. Und Kerstin Schmitz wird es auf der Zeugenbank tun. So, wie sie es schon einmal tat, beim ersten Prozess gegen die Truppe um diesen Thomas W.
Empfohlener externer Inhalt
Nur gibt es dieses Mal einen gewichtigen Unterschied: Der notorische Neonazi kann nicht auf freiem Fuß in den Gerichtssaal schlendern. Er wird in Handschellen vorgeführt werden und kommt direkt aus einer Gefängniszelle. Für Kerstin Schmitz wird das eine kleine Genugtuung sein, endlich.
Und dann wird es wieder um den Angriff vor gut sieben Jahren gehen. Am 9. Februar 2014 überfällt Thomas W. mit seinen Kameraden die Mitglieder einer Kirmesgesellschaft, darunter Kerstin Schmitz. Der Verein organisiert ein traditionelles Volksfest in Ballstädt, einem Ort mit gut 650 Einwohner:innen in der Nähe von Gotha im Thüringischen. Eine alte Kirche gibt es dort, die Reste eines Ritterguts, einen Konsum, den Lindengrill und ein Pflegeheim. Und dann noch das sogenannte Gelbe Haus. In der früheren Bäckerei lebt schon seit 2013 Thomas W. zusammen mit drei Gesinnungsgenossen in einer Wohngemeinschaft.
Schlagen und Treten bis zur Bewusstlosigkeit
An dem Februartag im Jahr 2014 feiern Kerstin Schmitz und ihre Freunde gleich gegenüber im Kulturzentrum spät abends ein Dankesfest nach der alljährlichen Kirmes – bis Thomas W. plötzlich, vermummt mit einem Totenkopftuch, in den Saal stürmt. Wer die Fensterscheibe im Gelben Haus eingeworfen habe, brüllt er. Dann schlägt W., ausgestattet mit Schlaghandschuhen, auf die Anwesenden ein. Er ruft ein gutes Dutzend weiterer Rechtsextremer in den Saal. Die schlagen und treten ebenso zu, auch noch als Opfer bereits bewusstlos am Boden liegen.
Kerstin Schmitz kann sich in einen Nebenraum retten und die Polizei alarmieren, sie bleibt unverletzt. Nur zwei Minuten dauert der Angriff, dann stürmen die Neonazis wieder nach draußen, ins Gelbe Haus. Im Kulturzentrum bleiben Scherben zurück, zerschlagenes Mobiliar, Blutlachen. Und zehn teils schwer verletzte Menschen mit Platzwunden, Knochenbrüchen und einem eingerissenen Ohr.
Kerstin Schmitz, Opfer eines Überfalls
„So eine Gewalt kannten wir nicht“, sagt Kerstin Schmitz. „Die haben Tote in Kauf genommen. Die wussten, was sie taten.“ Thomas W. aber bleibt damals, nach einer kurzen Untersuchungshaft, auf freiem Fuß, wohnt weiter im Gelben Haus, schlendert mit seinen Hunden durchs Dorf. Und baut, zusammen mit mehreren der jetzt Beschuldigten, eine rechtsextreme Rockertruppe auf. Sie nennen sich erst Bruderschaft Thüringen, dann, angelehnt an einen germanischen Stamm, die Turonen. Dazu gibt es einen Ableger, die „Garde 20“, abgeleitet vom 20. Buchstaben des Alphabets, dem „T“. Kerstin Schmitz verfolgt die Entwicklung fassungslos. „Vom Staat fühlte sich keiner von denen beeindruckt. Die Nazis machen, was sie wollen.“
Bis der Staat doch noch vor der Tür der Turonen steht. Das geschieht vor fünf Wochen, am 26. Februar dieses Jahres. Spezialkräfte der Polizei steigen im Morgengrauen über ein Fenster im ersten Stock ins Gelbe Haus ein. Sie verhaften Thomas W., der laut Beobachtern einen Zusammenbruch erleidet. Parallel nimmt die Polizei sechs weitere Beschuldigte fest, 24 bis 55 Jahre alt, darunter die Lebensgefährtin und Cousine von Thomas W. und zwei weitere für den Ballstädt-Überfall Beschuldigte, Rocco B. und André K. Und auch ein prominenter Szeneanwalt findet sich unter den Inhaftierten: Dirk Waldschmidt, kurzzeitig Verteidiger des Lübcke-Mörders Stephan Ernst.
Ermittelt wird zudem gegen 13 weitere Beschuldigte. Beschlagnahmt werden ein Kilo Crystal Meth und Kokain, 130.000 Euro in bar, mehrere Langwaffen sowie Immobilien und Sachwerte wie Schankanlagen im Wert von 350.000 Euro. Als Beifang nimmt die Polizei zwei Personen fest, bei einer wurden größere Mengen Crystal Meth gefunden, bei der anderen lag ein offener Haftbefehl in anderer Sache vor.
Mehr als 500 Beamte rücken an diesem Tag auf Geheiß der Staatsanwaltschaft Gera aus, der Polizeieinsatz ist seit Monaten vorbereitet. Der Vorwurf lautet dieses Mal nicht auf Begehung von Gewaltverbrechen, sondern Organisierte Kriminalität: Thomas W. und die anderen Beschuldigten sollen im großen Stil Drogen verkauft und ein Bordell betrieben haben. Gut 50 Fälle von bandenmäßigem Rauschgifthandel und 40 Fälle von Geldwäsche wollen ihnen die Ermittler nachweisen.
Ein schwerer Schlag für die Turonen
„Die Festnahmen waren für uns natürlich ein Stück Erleichterung“, sagt Kerstin Schmitz. Die junge Frau sitzt Anfang April in ihrem Büro in Gotha, nippt an einem Tee, redet ruhig und gefasst. Schmitz trägt eigentlich einen anderen Namen, will diesen aber nicht in der Zeitung lesen oder anderweitig erkannt werden. Sie hat Angst, bis heute, auch wenn sie inzwischen weggezogen ist aus Ballstädt. Wöchentlich fährt sie aber weiter in das Dorf.
Es habe dort zuletzt keine direkten Konfrontationen mit Thomas W. und den anderen Nazis mehr gegeben, sagt Schmitz. „Aber sie waren weiter da, gingen mit ihren Hunden spazieren, gaben sich sehr selbstbewusst. Die Bushaltestelle liegt genau vor ihrer Tür. Da war immer eine Anspannung, wenn man ihnen über den Weg lief.“ Und die Neonazis hätten auch in den Jahren nach dem Angriff weiter bei der Kirmes provoziert. Heute Abend käme man wieder, hätten sie gedroht. Sie seien nicht gekommen – aber die Angst sei geblieben.
Der NSU
Ende der Neunziger bildete sich in Thüringen der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) um Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, der erst 2011 aufflog und bis dahin zehn Menschen ermordete und drei Sprengstoffanschläge beging.
Konzerte
Zuletzt stand Thüringen wegen rechtsextremer Großkonzerte im Fokus, Höhepunkt war das Festival in Themar 2017 mit 6.000 Neonazis. Innenminister Georg Maier warnte vor einer „erheblichen Radikalisierung der Szene, vor allem über das Internet“. In Thüringen wohnen die bundesweit aktiven Szenekader Thorsten Heise, Tommy Frenck und Stanley Röske. Der Verfassungsschutz hat auch die AfD Thüringen um ihren Landeschef Björn Höcke im Blick.
Gewalttaten
Am Mittwoch präsentierte die Opferberatungsstelle ezra ihre Jahresstatistik. Demnach gab es 2020 insgesamt 102 rechte Gewalttaten in Thüringen, die meisten rassistisch motiviert. Ein 52-Jähriger sei aus homophoben Gründen ermordet worden. (ko)
Nun aber sitzen Thomas W. und seine Kumpanen in Haft. Es ist der erste schwere Schlag gegen seine Turonen. Rund 30 Mitglieder rechnet ihnen der Verfassungsschutz zu. Etliche fielen mit Straftaten auf, saßen schon im Gefängnis, spielen in Szenebands, gelten als Sympathisanten der radikalen Combat-18- und Blood&Honour-Netzwerke. Immer wieder organisiert die Gruppe Konzerte, darunter das bislang größte Rechtsrockfestival in Deutschland, 2017 in Themar mit rund 6.000 Neonazis. Die Gruppe ist vernetzt bis ins Ausland, stellte 2016 auch in der Schweiz ein Großkonzert auf die Beine und soll allein dort 150.000 Euro verdient haben. Und ihre Mitglieder halten Kontakt zu den beiden engsten Helfern der NSU-Mörder: Ralf Wohlleben und André Eminger.
Und nun organisierten sie offenbar auch noch ein Drogennetzwerk.
Es ist ein Vorwurf, der schwer wiegt – umso mehr für Anhänger der rechtsextremen Szene, in der Drogen als verpönt gelten. „Geld beschaffen ist ja schön und gut, aber nicht mit dem, was die gemacht haben“, heißt es nach den Festnahmen prompt in einem Neonazi-Forum. Andere appellieren: „Erst mal abwarten, was da wirklich dran ist.“
Der Schlag der Polizei kommt für Lokalpolitiker in der Region überraschend. Ein Sprecher von Gothas Bürgermeister Knut Kreuch (SPD) beteuert: „Der Einsatz hat uns völlig überrascht. Von dem Drogenhandel war uns nichts bekannt. Das war hier kein Gesprächsthema.“ Ballstädts Bürgermeister Horst Dünkel, ein freundlicher CDU-Mann, bekam ebenfalls nichts davon mit. „Das hat hier keiner gewusst“, sagt er bei einem Gespräch an seinem Gartenzaun. „Mit den Rechtsextremen hat im Dorf keiner was zu tun.“
Auch Kerstin Schmitz wusste von den Drogengeschäften nichts. Aber sie hatte eine Ahnung. Denn immer wieder hätten Autos mit fremden Kennzeichen vor dem Gelben Haus gestanden, auch aus dem Ausland. „Und die Nazis sind so skrupellos, da hatten wir so was schon mal vermutet.“
Andere hatten das kriminelle Treiben der Turonen durchaus genauer im Blick. Antifa-Aktivisten aus dem benachbarten Gotha etwa, die früh auf neue Trefforte der Turonen aufmerksam wurden und warnten: „Die spielen hier Mafia.“ Oder die Linken-Landtagsabgeordnete Katharina König-Preuss, die schon seit Jahren Parlamentsanfragen zu der Gruppe stellt und bereits vor den Festnahmen warnte, dass die Turonen „längst mit der Organisierten Kriminalität verschmelzen“. Und auch die Sicherheitsbehörden ermittelten seit einem Jahr wegen der Drogenvorwürfe gegen die Turonen – nachdem der Verfassungsschutz durch abgehörte Telefonate auf die Geschäfte gestoßen war und sie dem LKA meldete.
Thomas W., der Hauptbeschuldigte
Thomas W. gilt nun als Hauptbeschuldigter. Der Mittvierziger kommt aus Gotha, einen Beruf erlernte er nie. Schon als Jugendlicher wird er Teil der rechtsextremen Szene – und landet immer wieder vor Gericht. Mal lautet der Vorwurf Diebstahl, mal Nötigung, Androhen von Straftaten oder das Zeigen von verfassungswidrigen Kennzeichen. Mehr als 25 Verurteilungen sammelt W. über die Jahre und Tausende Euro an Geldstrafen. Ende der Neunziger wandert er erstmals ins Gefängnis und holt dort seinen Realschulabschluss nach.
Als Thomas W. freikommt, wird er sofort wieder in der Szene aktiv. Er baut ein Tonstudio auf, in dem Musik für die Szene produziert wird, gründet ein Musiklabel. Er selbst spielt als Schlagzeuger in Bands, die „Treueorden“ oder „Sonderkommando Dirlewanger“ heißen und Lieder namens „Führer Adolf“ oder „Final Race War“ veröffentlichen. Im Jahr 2013 zieht Thomas W. schließlich nach Ballstädt – und überfällt dort wenige Monate später die Kirmesgesellschaft.
Vom Erfurter Landgericht wird er dafür im Mai 2017 zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt, die höchste der erteilten Strafen. Mitgeschnittene Telefonate des Verfassungsschutzes tragen zu seiner Überführung bei. Zudem hatten Zeugen die Angreifer ins Gelbe Haus rennen sehen. Kerstin Schmitz schildert vor Gericht die brutale Gewalt. Thomas W. gesteht schließlich seine Beteiligung, ein Mitangeklagter packt noch weiter aus. Die anderen Beschuldigten üben sich in Provokationen: Sie marschieren mit Szenekleidung in den Saal, präsentieren Tattoos wie „Ran an den Feind“ oder tun so, als ob sie schlafen. Zehn von ihnen werden am Ende verurteilt, vier erhalten mangels Beweisen Freisprüche.
Die Verurteilten aber gehen gegen das Urteil in Revision und bleiben dadurch vorerst in Freiheit. Der Bundesgerichtshof hebt das Urteil im Mai 2020 tatsächlich wegen Formfehlern auf und ordnet eine Neuverhandlung an. „Das war ein Schock“, sagt Kerstin Schmitz. „Und hat die Nazis nur noch mehr bestärkt.“
Das Geschäftsmodell der Turoren
Tatsächlich baut Thomas W. schon während des Prozesses unbeeindruckt seine Turonen auf. Fotos zeigen ihn zusammen mit anderen Gesinnungsgenossen in schwarzen Lederkutten mit dem Gruppenlogo, einer Rockertruppe gleich. Auf den Konzerten stellen sie die Security. Die Einnahmen für das Schweizer Großkonzert in Unterwasser laufen über ein Thüringer Konto, der Name eines der Mitorganisatoren steht heute am Briefkasten des Gelben Hauses. Beim Konzert in Themar taucht auch ein Bekannter auf: André Eminger, der dem untergetauchten NSU-Trio bis zum Schluss zur Seite stand. Auch bei einem weiteren Turonen-Konzert im Jahr 2018 reist Eminger an.
Zufall ist das nicht. Die Turonen suchen die Nähe zum Rechtsterrorismus. Schon vor elf Jahren, ein Jahr nach Auffliegen des NSU, veröffentlicht die Band von Thomas W. ein Lied, in dem sie sich mit einem zweiten inhaftierten NSU-Helfer solidarisiert: dem Thüringer Ralf Wohlleben, einst NPD-Funktionär, nun als Waffenbeschaffer beschuldigt. „Freiheit für Wolle“, singt W.s Band. Kurz darauf posiert Thomas W. mit späteren Turonen und Dekowaffen auf einem Foto, samt Kommentar: „NSU reloaded“.
Ende Februar wird nun auch eine Wohnung im Burgenlandkreis in Sachsen-Anhalt durchsucht: die von Ralf Wohlleben. Der 46-Jährige, der 2018 nach sechs Jahren Haft wieder auf freien Fuß gekommen ist, soll Gelder der Turonen erhalten haben, im jetzigen Verfahren gilt er als Zeuge. Wohlleben hat einen Vertrauten, den der Verfassungsschutz neben Thomas W. als zweiten Anführer der Turonen sieht: den Saalfelder Steffen R., ein Enddreißiger, seit Jahren in der Rechtsrockszene aktiv, einst auch für die NPD. Der wird zwar nicht festgenommen, zählt nach taz-Informationen aber zu den 13 weiteren Beschuldigten.
Und die Turonen kultivieren ihren Hang zur Gewalt. Auf einem ihrer Konzerte brüllte ein Sänger: „Blut muss fließen, knüppelhageldick. Lasst die Messer flutschen in den Judenleib.“ Als Thomas W. einen Brief mit einem Anti-Nazi-Aufdruck erhält, lobt er 2.000 Euro für Hinweise auf den Absender auf und nennt dies „zum TOT SCHIESSEN lustig“. Die Behörden zählen allein seit 2019 insgesamt 32 Ermittlungsverfahren gegen Mitglieder der Turonen, unter anderem wegen Körperverletzung, Betrugs oder Beleidigung.
Im Herbst 2018 aber missglückt ein Festival im thüringischen Magdala. Die Behörden setzen ein Verbot durch, die Turonen bleiben auf Verlusten sitzen. Die Serie der Großkonzerte reißt damit ab. Kurz darauf, so glauben die Ermittler, steigen die Neonazis in die Drogengeschäfte ein. Für Thomas W. ist das kein Neuland: Schon 2008 wird er nach taz-Informationen wegen unerlaubten Handels mit Arzneimitteln zu einer Geldstrafe verurteilt.
Ein Backsteinbau in Gotha
Neben dem Gelben Haus in Ballstädt wird ein alter Backsteinbau mit großem Anbau, an einer kleinen Seitenstraße im Norden Gothas gelegen, nun zum Hauptquartier der Turonen. „Betriebsgelände, Betreten verboten“, steht auf einem Schild vor dem sandigen Parkplatz. Von außen weist nichts auf die Neonazi-Truppe hin, das Gebäude ist gepachtet.
Nach Angaben von Anwohnern soll Thomas W. vor seiner Festnahme regelmäßig vor Ort gewesen sein. Immer wieder sei Baumaterial angeliefert worden, im Inneren sollen auch Konzerte und Kraftsport stattgefunden haben. Gänzlich klandestin läuft das nicht ab. Vor der Halle parken immer wieder teure Autos, einige mit Kennzeichen wie „T20“, die auf die Turonen anspielen. Auch eine weiße Stretchlimousine gehört dazu.
Bei ihren Drogengeschäften verdrängen die Turonen nach taz-Informationen ältere Dealer-Strukturen in der Region und arbeiteten mit Kontaktleuten aus Osteuropa sowie der Rocker-Szene zusammen. Nur zwei Straßenecken weiter betreibt die Gruppe ihr Bordell, in einem blau gestrichenen Haus, mit Kameras überwacht. Für das Etablissement soll die Lebensgefährtin von Thomas W. mitverantwortlich gewesen sein.
Auf einem Schild steht nur der Name einer britischen Briefkastenfirma, die zu einem Gothaer mit Kontakten nach Tschechien führt. Der gleiche Firmenname prangt bei einer im Aufbau befindlichen Kneipe auf der anderen Straßenseite. Nur wenige hundert Meter entfernt besitzen die Turonen auch noch einen Lagerraum. Am Stadtrand war ein zweites Bordell in Planung.
All diese Orte durchsucht die Polizei im Februar, insgesamt sind es 27 Wohnungen und Geschäftsräume. Beschlagnahmt wird auch die Stretchlimousine. Die Stadt will sich wegen der laufenden Ermittlungen zu den Örtlichkeiten nicht äußern. Einzig zum Bordell teilt sie mit, dass dafür wegen der Coronaverordnung keine Genehmigung vorgelegen habe.
Für die Turonen und ihre Aktivitäten gibt es ein Vorbild in Österreich: das rechtsextremes Netzwerk „Objekt 21“, das vor Jahren ebenfalls Szenekonzerte veranstaltete und in Waffen- und Drogengeschäfte verwickelt war – und Kontakt nach Thüringen hielt. Als die Gruppe aufflog, wurden 2013 auch zwei Thüringer festgenommen. Einer von ihnen hatte das Gelbe Haus in Ballstädt mit erworben.
Bekannt in der Drogenszene
Eine, die sich mit der Drogenszene in Gotha auskennt, ist Angela Gräser. Seit 25 Jahren arbeitet sie als Streetworkerin in der Stadt. Die Szene der Crystal-Konsumenten sei groß, sagt Gräser. Zuletzt sei auch Kokain immer beliebter geworden, das inzwischen billiger sei. Dass die Turonen in die Geschäfte involviert waren, dass sie junge Verkäufer rausschickten, habe sie in den letzten Monaten immer wieder von Klienten gehört, sagt sie. „Ich kenne den Tommy noch von ganz früher. Das war eigentlich einer, mit dem man lange noch reden konnte. Keiner, der sofort raufgehauen hat. Es ist traurig, wie sein Leben verlaufen ist.“ Die Drogenvorwürfe habe sie aber nie beweisen können, sagt Gräser. „Die sind clever.“
Die Ermittler aber tragen so viele Beweise zusammen, dass die Haftbefehle bis heute Bestand haben – selbst gegen einen Anwalt: Dirk Waldschmidt. Der Mittfünfziger bewegt sich seit Jahren in der rechtsextremen Szene, in Hessen war er mal Vize-Chef der NPD, zuletzt hielt er Rechtsschulungen bei der rechtsextremen Splitterpartei „III. Weg“ ab. Immer wieder vertritt Waldschmidt Neonazis vor Gericht, den prominentesten vor knapp zwei Jahren, wenn auch nur kurzzeitig: Stephan Ernst, den Lübcke-Mörder.
Waldschmidt kennt auch die Turonen gut. Im Ballstädt-Prozess trat er als Verteidiger eines Angeklagten auf, im vergangenen Jahr auch als der eines rechtsextremen Thüringer Hooligans. Dort tauchte der Anwalt zusammen mit Thomas W. und anderen Neonazis auf, einige in Turonenkluft gekleidet. Nun ist Waldschmidt selbst Beschuldigter. Die Ermittler werfen ihm nach taz-Informationen Geldwäsche vor, er soll in die Immobiliengeschäfte der Turonen verwickelt gewesen sein. Seine Anwältin will sich zu den Vorwürfen nicht äußern.
Für Thüringens Verfassungsschutzchef Stephan Kramer ist Waldschmidts Festnahme eine Zäsur. „Offenbar gibt es einige Juristen, die es nicht bei der Verteidigung von Rechtsextremen belassen, sondern selber Prozesse als Bühne nutzen und Teil krimineller Netzwerke werden.“ Den Schlag gegen die Turonen nennt Kramer einen „großen Erfolg“, der zeige, wie wichtig eine enge Zusammenarbeit von Verfassungsschutz und Landeskriminalamt bei der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität sei.
Georg Maier, Innenminister von Thüringen
Auch die Linken-Abgeordnete König-Preuss lobt die Festnahmen: „Der Schlag ist enorm wichtig, weil er die Neonaziszene weit über Thüringen hinaus trifft.“ Sie fordert nun weitgehende Ermittlungen, die nicht nur das kriminelle, sondern auch politische Netzwerk der Turonen aufdecken müssten. Zudem brauche es einen neuen Untersuchungsausschuss zum Rechtsterrorismus in Thüringen. „Nicht nur die Turonen, auch andere Thüringer Akteure tauchen immer wieder in rechtsterroristischen Kontexten bis hin zum NSU auf. Das muss dringend aufgehellt werden.“
Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD) hat sich den Kampf gegen die Rechtsextremen auf die Fahnen geschrieben. Als die Turonen festgenommen wurden, reiste der SPD-Mann eigens nach Ballstädt. „Der Schlag hat gesessen“, freut sich Maier. „Die Turonen sind zuletzt immer dreister aufgetreten. Sie waren sich wohl sehr sicher, dass man ihnen nichts anhaben kann. Die Festnahmen sind auch wichtig, damit die Menschen in Ballstädt wieder Vertrauen in den Rechtsstaat fassen.“
Aber im Gelben Haus wohnen auch Anfang April immer noch Neonazis. Das von der Polizei zerschlagene Fenster ist notdürftig mit Pappe zugeklebt, vor der Tür steht ein VW mit „T20“-Kennzeichen. Sonst ist es ruhig, fast alle Fenster sind verhangen, an der Hauswand hängt eine Kamera, über den abgeschirmten Hof streunt eine Katze. Auch vor dem Gothaer Hauptquartier stehen weiter Autos, betreten Personen das Gebäude.
Schon vor der Verurteilung für den Ballstädt-Angriff stellten sich die Neonazis für ein Gruppenfoto unter ein Banner, welches das Dorf nach dem Überfall aufgehängt hatte: „Ballstädt steht auf für Demokratie und Vielfalt und gegen rechte Gewalt“. Grinsend posierten die Neonazis in Turonen-Kluft, Thomas W. in der Mitte.
„Die lachen uns aus“, sagt Ballstädts Bürgermeister Horst Dünkel. Die jetzigen Festnahmen sieht auch er daher erleichtert. Aber war’s das mit den Neonazis? Dünkel hebt die Schultern. „Tja.“ Kurzes Schweigen. „Man weiß es nicht. Und selbst wenn sie aus Ballstädt verschwinden, dann tauchen sie in einem anderen Dorf wieder auf.“
Auch Kerstin Schmitz traut der Sache noch nicht. „Von dem guten Dutzend Angreifer damals sitzen ja jetzt nur drei in Haft“, sagt die junge Frau. Und dann ist da ja noch der zweite, neue Prozess zum Ballstädt-Angriff, der am 17. Mai beginnen soll. Angeblich verhandelt das Gericht mit Thomas W. und den weiteren Angeklagten über einen „Deal“: Geständnisse gegen Bewährungsstrafen. „Das darf nicht passieren“, sagt Schmitz. Bürgermeister Dünkel meint dazu: „Die Justiz muss auch die Konsequenzen ihrer Entscheidungen bedenken. Es geht auch um Gerechtigkeit.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Plan für Negativ-Emissionen
CO2-Entnahme ganz bald, fest versprochen!
Human Rights Watch zum Krieg in Gaza
Die zweite Zwangsvertreibung