Demokratieforscher über Volksparteien: „Mehrheiten sind vorzuziehen“
Parlamentarische Demokratie und Föderalismus sind in der Krise? Nicht unbedingt, sagt der Demokratieforscher Michael Koß.
taz am wochenende: Herr Koß, seit den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz sowie einer heftigen Krise der Unionsparteien ist allenthalben die Rede von „Mehrheiten jenseits der Union“, vornehmlich durch eine Ampelkoalition zwischen Grünen, SPD und FDP. Ist dadurch Ihre These nicht schon widerlegt, dass die Zeit der einfachen Mehrheiten in Deutschland vorbei ist?
Michael Koß: Ich sage jetzt nicht einmal Jein, sondern Nein. Erstens wäre eine Dreierkoalition (wie im Falle einer Ampel) auf Bundesebene generell ein Novum und eine kompliziertere Konstellation als die bislang üblichen Zweierbündnisse. Zweitens müsste man gespannt sein, wie insbesondere die Grünen und die FDP im Bund in eine gemeinsame Koalition gehen wollen. Denn die FDP hat zwar in Bezug auf ihre Regierungswilligkeit seit dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen 2017 eine 180-Grad-Wende vollzogen, inhaltlich sehe ich aber praktisch keine Schnittmenge zwischen FDP und Grünen. Von daher: Schauen wir mal.
Eine zweite These von Ihnen lautet, dass die Zeit der Volksparteien bei uns generell vorbei sei. Mit den Grünen steht doch schon eine neue Volkspartei in den Startlöchern, oder etwa nicht?
Die Zeit der Volksparteien ist vorbei, aber nicht endgültig. Zwar haben sich deren optimale Bedingungen aus der Zeit des Kalten Krieges mit dessen Ende aufgelöst, aber das heißt nicht, dass nicht wieder gute Verhältnisse für Volksparteien entstehen können. Das wird aber wahrscheinlich dauern, und zwar eher noch Jahrzehnte als Jahre. Die Grünen sind momentan natürlich ein heißer Kandidat, bislang sind sie aber allenfalls eine regionale Volkspartei, etwa in Baden-Württemberg. In Sachsen-Anhalt dagegen, wo die nächste Wahl ansteht, müssen sie sich freuen, wenn sie überhaupt in den Landtag einziehen. Der neue Volksparteikandidat ist dort die AfD. Und selbst wenn die Grünen dieses Jahr im Bund einmal 20 oder gar 30 Prozent holen sollten, macht sie das noch nicht zur neuen Volkspartei.
Michael Koß: „Demokratie ohne Mehrheit? Die Volksparteien von gestern und der Parlamentarismus von morgen“, DTV, München 2021, 272 S., 22 Euro
Was könnte sie denn dazu machen?
Die Volksparteien in der alten Bundesrepublik – Union und SPD – haben bis in die achtziger Jahre zusammen um die 90 Prozent der Stimmen erreicht. Das ist ihnen in dieser Zweierkonstellation gelungen, weil sie innerhalb der ideologischen Leitplanken des Kalten Krieges – in der BRD waren das Westbindung und Antikommunismus – die zwei entgegengesetzten Pole des sozial- und wirtschaftspolitischen Spektrums verkörpert haben, vereinfacht gesagt: rechts und links. Seit Ende des Kalten Krieges aber ist zu dieser sozioökonomischen Achse eine kulturell-identitätspolitische Achse dazugekommen, die quer zur ersten steht und dadurch auch mitten durch die alten Volksparteien hindurchgeht und diese spaltet. Das Ergebnis ist eine zunehmende Fragmentierung der Parteienlandschaft, die erst dann wirklich zurückgehen wird, wenn die beiden quer stehenden Achsen sich wieder überlagern, wenn also sowohl nationalistische als auch kosmopolitische Parteien sich jeweils klar für eine sozioökonomische Ausrichtung entscheiden würden. Das sehe ich im Moment noch nicht, es kann aber prinzipiell passieren.
Bei der SPD mögen einige auch auf eine neue „Lichtgestalt“ wie Willy Brandt hoffen. So jemand müsste doch die schwächelnden Volksparteien auch wieder zu alter Größe führen können?
geb. 1976, lehrt Politikwissenschaft an der Leuphana Universität Lüneburg
Natürlich spielen auch Persönlichkeiten eine Rolle, aber die echten „Lichtgestalten“, die ich mir im Buch angesehen habe, Brandt in der BRD und in Österreich Bruno Kreisky, haben das erreicht, was sie erreicht haben, weil sie extrem günstige Bedingungen dafür hatten. Heutige Lichtgestalten, etwa Angela Merkel oder Sebastian Kurz, leuchten angesichts hochkomplexer Dauerkrisen allenfalls im Energiesparmodus. Und künftige Hoffnungsträger wie Kevin Kühnert, Robert Habeck oder Annalena Baerbock müssen noch darauf hoffen, dass ihnen die gesellschaftlichen Konfliktkonstellationen in die Karten spielen, um sich überhaupt beweisen zu können.
In Ihrem Buch bezeichnen Sie die Linkspartei gemeinsam mit der AfD als „Antiparteien“, die zu Regierungsverantwortung weder bereit noch fähig sind. Dabei stellt die Linke in Thüringen seit 2014 einen erfolgreichen Ministerpräsidenten und ist auch in anderen Landesregierungen vertreten. Lassen sich AfD und Linke wirklich in einen Topf werfen?
Nein, ich würde hier doch noch weiter unterscheiden zwischen der Linken als einer Anti-Establishment-Partei und der AfD als einer Anti-System-Partei, die in weiten Teilen die Demokratie selbst in Frage stellt. Letzteres sehe ich bei der Linkspartei nicht. Trotzdem halte ich die Linke auf Bundesebene wegen ihrer außenpolitischen Positionen momentan nicht für koalitionsfähig, deswegen ist sie in dieser Hinsicht derzeit (noch) eine Antipartei. Das soll aber keine Gleichsetzung mit der AfD bedeuten.
Ende der einfachen Mehrheiten, harsche Kritk am Coronamanagement: Hat die parlamentarische Demokratie versagt?
Aus meiner Sicht hat dieses Chaos vor allem einen Grund: dass Angela Merkel am Ende ihrer Amtszeit zur lame duck [„lahme Ente“] geworden ist, die nicht mehr in dem Maße durchgreifen kann, wie es einer Bundeskanzlerin eigentlich möglich wäre – inklusive Entlassung von Ministern. Abgesehen davon halte ich Parteien immer noch für das einzige Instrument, das in der Lage ist, einzelne Fragen und Themen zu bündeln, die man isoliert vielleicht auch per Volksentscheid oder Bürgerrat verhandeln könnte, aber nicht im Gesamtkomplex.
In Bezug auf Corona träumen manche in der Bundesrepublik von einer Expertenregierung, Sie nicht?
Nein, der würde bei uns die Legitimation fehlen. Es geht hier um politische Entscheidungen – auch Fehlentscheidungen –, die politisch verantwortet werden müssen. Und die Unionsparteien bekommen ja inzwischen auch die Quittung für ihre Politik.
Sollte die Union jetzt noch weiter an Zustimmung verlieren, aber ohne sie keine anderen Mehrheiten zustande kommen, plädieren Sie dafür, auch mal Minderheitsregierungen zu wagen? Müssen wir uns nun dauerhaft auf eine Art Notdemokratie einstellen oder gibt es trotzdem noch Raum für Visionen?
Ich würde auf keinen Fall sagen, wir brauchen Minderheitsregierungen, Mehrheiten sind immer vorzuziehen. Aber bevor man zwei Parteien zusammenzwingt, die wirklich gar nicht zusammenpassen – in Österreich etwa die aktuelle Regierung aus ÖVP und den Grünen, in Deutschland womöglich die Grünen und die FDP –, könnte es die bessere Alternative sein, dass sich eine Partei oder handlungsfähige Koalition für verschiedene Gesetzesvorhaben jeweils links oder rechts wechselnde Mehrheiten sucht. Eine solche Minderheitsregierung wäre auch keine Notlösung oder ein Krisensymptom, sondern könnte selbst durchaus visionär agieren. Etwa indem sie sehr unterschiedliche Projekte umsetzen könnte: den großen Klimaumbau vielleicht mit linker Mehrheit, eine Haushaltskonsolidierung nach der Krise mit einer rechten. Aber auch indem sie künftige stabile Mehrheitsverhältnisse austesten könnte.
Aber reicht das zur Rettung der Demokratie wirklich aus?
Ich denke tatsächlich: Ja, denn unsere Demokratie muss nicht gerettet werden. Allerdings sollten wir dieses System, das bis zum Zerfall des Ostblocks sehr gut funktioniert hat, an die veränderten Verhältnisse anpassen. Wir müssen nicht neue Partizipationsmöglichkeiten schaffen, sondern die bestehenden verbessern. Es gilt, auch in der Parteienfinanzierung die Korruption stärker zu bekämpfen, bei Spenden und Sponsoring mehr Transparenz zu schaffen, damit die Wähler:innen überhaupt ein Bild bekommen, wen oder was sie eigentlich wählen. Ergänzend müssen wir aber auch das Wahlrecht ausweiten: Rechnet man etwa die dauerhaft in Deutschland lebenden Nichtstaatsbürger mit ein, befinden wir uns aus Sicht der Wahlrechtsinklusion wieder weit im 19. Jahrhundert. In manchen Großstadtbezirken verfügen heute mehr als die Hälfte der dauerhaft dort lebenden Menschen nicht über das Wahlrecht. Das sind für die Demokratie unhaltbare Zustände – die sich allerdings verändern lassen.
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